Oberinspektor Chens dritter Fall
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-552-05790-6
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Ermordete galt als Dissidentin, die einen zur Landarbeit verbannten Dichter geliebt und nach dessen Tod einen viel beachteten und rasch verbotenen Roman geschrieben hatte. Das bringt Chen auf eine literarische Fährte ...
"Qiu Xiaolongs Kriminalromane sind fremdartig schön. Man hat das seltene Gefühl, China plötzlich verstehen zu können." (Andreas Ammer, Bayerischer Rundfunk)
Weitere Infos & Material
1 Hauptwachtmeister Yu Guangming von der Shanghaier Polizei stand allein und noch ganz benommen von dem Schlag da. Erst allmählich setzte dessen Wirkung ein, doch nun traf sie ihn mit voller Wucht. Nach Monaten endloser Sitzungen und Verhandlungen war ihm die versprochene Wohnung in Tianling New Village nun doch wieder weggenommen worden. Es wäre ein Erstbezug gewesen, und man hatte sie ihm ganz offiziell zugesprochen, unter dem donnernden Applaus seiner Abteilungskollegen. Im überbevölkerten Shanghai, wo mehr als dreizehn Millionen Menschen wohnten, gab es ein massives Wohnungsproblem. Die Zuweisung einer Dienstwohnung war ein bedeutsames Ereignis. Seit vielen Jahren schon oblag der Arbeitseinheit, im Fall von Yu der Shanghaier Polizei, die Entscheidung, welchem ihrer Angestellten ein Zimmer oder eine Wohnung aus dem alljährlich von der Regierung ausgewiesenen Kontingent zugesprochen werden sollte. Angesichts seiner hervorragenden Leistungen in mehr als zehn Dienstjahren, hatte man Yu nun endlich mit einer Dreizimmerwohnung – oder zumindest mit dem dazugehörigen Schlüssel – bedacht. Doch noch bevor er den Umzug planen konnte, war ihm die Wohnung völlig überraschend wieder entzogen worden. Yu stand in dem kleinen, mit verstaubtem Gerümpel der Bewohner vollgestellten Hof seines traditionellen shikumen-Hauses, das nicht weniger als zwölf Familien beherbergte, die seine inbegriffen. Der alte Innenhof sah aus wie eine Müllkippe, und genauso fühlte sich sein Kopf an. Jetzt brauchte er erst mal eine Zigarette. Als Begründung – oder Vorwand – für den Entzug der Wohnung hatte man ihm den Ausgleich von Verpflichtungen zwischen staatseigenen Betrieben genannt. Der Kreditgeber von einem der beteiligten Staatsbetriebe hatte sich einige der Wohnungen in dem von der Baufirma Goldener Drache errichteten Neubaukomplex Tianling New Village unter den Nagel gerissen, unter anderem jene, die Yu zugesprochen worden war. Diese Wendung des Schicksals schien völlig absurd; es war, als wäre eine gebratene Pekingente vom Servierteller in den Himmel aufgeflogen. Als Parteisekretär Li vom Shanghaier Präsidium ihm vor ein paar Tagen die schlechte Nachricht mitteilte, hatte er seine nicht enden wollenden Ausführungen mit der üblichen positiven Note geschlossen: »Die Wirtschaftsreform bringt eben große Veränderungen mit sich. Noch vor zwei, drei Jahren wären sie undenkbar gewesen. Auch das System der Wohnungszuweisung ist davon betroffen. Bald werden die Chinesen nicht mehr von staatlich zugeteilten Dienstwohnungen abhängig sein. Mein Schwager zum Beispiel hat sich kürzlich ein neues Apartment im Stadtteil Luwan gekauft. Natürlich stehen Sie auch weiterhin ganz oben auf der Liste, und die Dienststelle wird Ihren Fall bevorzugt behandeln. Falls Sie künftig Wohneigentum erwerben sollten, könnten wir Sie unter Umständen mit einer Kompensationszahlung unterstützen.« Welch ein Trost! Nach mehr als vierzig Jahren staatlich gelenkter Wohnungsvergabe ermöglichte die Wirtschaftsreform den Bürgern nun den Erwerb von privatem Wohneigentum, doch man sagte nicht umsonst: Die Politik kann sich an einem Tag dreimal ändern. Niemand konnte die Zukunft der chinesischen Reformpolitik voraussagen. Parteisekretär Lis Schwager, der bereits mehrere teure Restaurants und Bars besaß, hatte natürlich keine Probleme, sich ein Apartment zum Quadratmeterpreis von zwölftausend Yuan zu kaufen. Hauptwachtmeister Yu jedoch, ein einfacher Polizeibeamter mit einem Monatsgehalt von etwa vierhundert Yuan, konnte von so einer Anschaffung nicht einmal träumen. »Aber die Wohnung war mir doch bereits zugesprochen«, hatte Yu insistiert. »Es war eine offizielle Entscheidung der Dienststelle.« »Ich verstehe, daß Sie sich ungerecht behandelt fühlen, Genosse Hauptwachtmeister Yu. Glauben Sie mir, wir haben uns nach Kräften für Sie eingesetzt. Wir sind uns alle bewußt, daß Sie ein großartiger Polizist sind. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan. Es tut uns wirklich leid.« Lis begütigende Worte konnten die harte Realität nicht abmildern: Yu hatte die Wohnung verloren. Außerdem war es ein enormer Gesichtsverlust. Seine Freunde und Verwandten hatten bereits von der Wohnung erfahren, alle hatten sie ihm gratuliert, und einige rüsteten schon für die Einweihungsparty. Was nun? Was ihm jedoch viel größere Sorgen bereitete, war die Reaktion seiner Frau Peiqin. Während ihrer fünfzehnjährigen Ehe hatten sie ständig Händchen gehalten und geredet, geredet, geredet, wie es in einem modernen Schlager hieß. Sie waren sich während der Kulturrevolution als landverschickte Jugendliche in Yunnan nähergekommen und hatten diese Nähe auch als eines von Millionen gewöhnlicher Ehepaare in Shanghai nicht verloren. Doch in letzter Zeit wirkte sie verschlossen. Er konnte das durchaus verstehen. In all den Jahren hatte er im Vergleich zu ihr wenig in den Haushalt eingebracht. Es war nicht zu leugnen – und manchmal schwer zu verschmerzen –, daß Peiqin als Buchhalterin in einem Restaurant mehr verdiente als er bei der Polizei. Und diese Kluft hatte sich in den letzten Jahren noch vergrößert, da Peiqin immer wieder Prämien erhielt, ganz zu schweigen von den kostenlosen Delikatessen, die sie aus dem Restaurant heimbrachte. Die Nachricht von der neuen Wohnung hatte ihn momentan etwas besser dastehen lassen. Sie war ganz aus dem Häuschen gewesen und hatte allen von der neuen Wohnung erzählt, die ihm wegen seiner »hervorragenden Leistungen« zugesprochen worden war. Während die Zigarette zwischen seinen Fingern herunterbrannte, fiel ihm auf, daß sie seit Erhalt der schlechten Nachricht kaum etwas gesagt hatte. Für sie war es ein weiteres Zeichen dafür, daß es ein einfacher Polizist in der heutigen Gesellschaft kaum zu etwas bringen konnte. Als sein Vater, der Alte Jäger, noch aktiv gewesen war, hatte man sich als Polizist wenigstens als Teil der »Diktatur des Proletariats« verstehen können und gewußt, daß man materiell allen anderen Mitgliedern dieser egalitären Gesellschaft gleichgestellt war. Doch in den neunziger Jahren war alles anders geworden: Man war nur so viel wert, wie man besaß. Nicht umsonst hatte Genosse Deng Xiaoping gesagt: »Laßt einige schneller reich werden als andere.« Und so geschah es. Wer in dieser sozialistischen Gesellschaft reich wurde, der erntete dafür zugleich Anerkennung. Für solche dagegen, die trotz harter Arbeit nicht reich wurden, hatte die Volkszeitung keinen Kommentar übrig. Als pflichtbewußter Polizist verfügte Hauptwachtmeister Yu trotz seiner gut vierzig Jahre noch nicht über eigenen Wohnraum. Das einzige Zimmer, das er mit Peiqin und dem gemeinsamen Sohn Qinqin seit ihrer Rückkehr in die Stadt in den frühen achtziger Jahren bewohnte, war ursprünglich das Eßzimmer in jenem Flügel des Hauses gewesen, den man Anfang der Fünfziger dem Alten Jäger zugewiesen hatte. Peiqin hatte sich nicht wirklich beklagt, doch ihr Schweigen nach dem Wohnungsfiasko sprach Bände. Einmal allerdings hatte sie seine Hingabe an die Polizeiarbeit doch in Frage gestellt, wenn auch nicht direkt. Jetzt, in Zeiten »wirtschaftlicher Reformen«, war es den Leuten möglich, eigene berufliche Entscheidungen zu treffen, auch wenn das mit Risiken verbunden war. Als Polizist hatte Yu seine »eiserne Reisschale«, was in Maos kommunistischem Utopia lebenslange Absicherung bedeutet hatte. Die eiserne und damit unzerbrechliche Reisschale stand für dauerhafte Anstellung, garantiertes Einkommen, medizinische Versorgung und Lebensmittelmarken. Doch mittlerweile schien eine solche eiserne Reisschale offenbar nicht mehr so erstrebenswert zu sein. Geng Xing, einer von Peiqins früheren Kollegen, hatte gekündigt, um ein eigenes Restaurant aufzumachen, und – so behauptete zumindest Peiqin – verdiente damit fünf- bis sechsmal soviel wie in einem staatlichen Restaurant. Yu erinnerte sich, daß Peiqin ihm Geng Xings Geschichte mit der offenkundigen Erwartung einer Erwiderung erzählt hatte. Er steckte in der Krise, befand Yu, während er deprimiert den Zigarettenstummel in dem zementierten Gemeinschaftswaschbecken ausdrückte, bevor er in ihr Zimmer ging. Peiqin badete sich gerade die Füße in einer grünen Plastikschüssel. Sie blickte nicht auf, sondern blieb vornübergebeugt in dem Bambussessel sitzen. Auf dem Boden hatten sich die unvermeidlichen Wasserpfützen gebildet. Die Schüssel war einfach zu klein. Sie konnte kaum die Zehen darin ausstrecken. Während ihrer Zeit als »landverschickte Jugendliche«, die inzwischen fast wie ein anderes Leben anmutete, hatte Peiqin neben ihm gesessen und die Beine in den klaren, friedlichen Bergbach baumeln lassen, der hinter ihrer Bambushütte vorbeifloß. Damals hatte ihr einziger und größter Traum darin bestanden, nach Shanghai zurückzukehren, so als würde sich dort alles weitere von selbst entfalten wie ein Regenbogen am blauen Himmel. Die blauen Flügel eines Eichelhähers hatten schimmernd aufgeblitzt, eine Krabbe hatte an ihrem Zeh geknabbert, und sie hatte sich in ihrem Schreck an ihn geschmiegt. In den frühen achtziger Jahren waren sie in die Stadt zurückgekommen, in ein Zwölf-Quadratmeter-Zimmer und in die Realität des Alltags. Abgesehen von der Geburt ihres Sohnes Qinqin, hatte sich kaum eine ihrer Hoffnungen erfüllt. Er war inzwischen zu einem großen Jungen herangewachsen, und für sie beide war der Regenbogen über dem fernen Bergbach längst verblaßt. In der neuen Wohnung in Tianling hätte es ein kleines Badezimmer gegeben, in das er eine Dusche hatte einbauen wollen. Kopfschüttelnd ertappte sich...