Qiu | Rote Ratten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Qiu Rote Ratten

Oberinspektor Chens vierter Fall

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-552-05791-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Reise nach Amerika, davon hat Oberinspektor Chen schon lange geträumt. Und nun soll der dichtende Polizist als Leiter einer Schriftstellerdelegation für zwei Wochen Gast in den USA sein. Doch diese einmalige Gelegenheit kommt für Chen mehr als ungünstig. Denn er hat einen Auftrag erhalten, der, gefährlich und ehrenvoll zugleich, seinen vollen Einsatz in Shanghai erfordert: Nach dem Tod eines Polizisten in einem Bordell verpflichtet ihn die oberste Behörde, endlich den "Roten Ratten", korrupten Beamten und schmiergeldzahlenden Neokapitalisten, das Handwerk zu legen. Doch schon bei den ersten Recherchen muss Chen feststellen, dass er es mit einflussreichen Parteikadern zu tun bekommen wird, die vor nichts zurückschrecken. Der vierte Fall aus der beliebten Krimi-Reihe mit Oberinspektor Chen.
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1   Oberinspektor Chen Cao vom Shanghaier Polizeipräsidium war an einem Mainachmittag in ein gigantisches Wellness Center namens Vögel fliegen, Fische springen eingeladen worden. Lei Zhenren, der Herausgeber der Shanghaier Morgenpost, hatte prophezeit, dort würden all ihre Sorgen auf angenehmste Weise weggewaschen. »Wieviel Kümmernis kann man ertragen? / So viel wie der Strom an Frühjahrsflut gen Osten führt. Dieses hochmoderne Badehaus ist wirklich einzigartig, eine typische Erscheinung des Sozialismus chinesischer Prägung. So etwas findest du nirgendwo sonst auf der Welt.« Lei wußte, wie er den Oberinspektor mit der poetischen Ader zu überreden hatte; ein paar Zeilen des Dichters Li Yu aus dem zehnten Jahrhundert würden das Ihre tun. Auch der Ausdruck »Erscheinung des Sozialismus chinesischer Prägung« war eine einschlägige politische Phrase, die widersprüchliche Konnotationen haben konnte, besonders wenn damit die beispiellosen materialistischen Veränderungen gemeint waren, die derzeit die Stadt Shanghai überrollten. Erst kürzlich hatte Chen in einer englischen Werbebroschüre über dieses Wellness Center folgendes gelesen:   »An den Wochenenden tummeln sich abends circa 2000 Chinesen und mehrere Dutzend Ausländer nackt im Niaofei Yuyao, einem gigantischen Wellness Center, wo die Massen in milchgefüllten Wannen baden, in der ›Feurige-Jade-Sauna‹ schwitzen, sich Filme ansehen oder im Pool schwimmen. Und das alles öffentlich und legal. Nach einer Runde Minigolf (Kleiderzwang), kann man sich (unbekleidet) massieren lassen und eine Außerirdischen-Show genießen (die Zuschauer in Pyjamas, die Darsteller in deutlich weniger als Pyjamas) …«   Chen brauchte ein paar Minuten, um der Umschrift niaofei yuyao die Bedeutung der Schriftzeichen – Vögel fliegen, Fische springen – zuzuordnen. Der Name des Centers leitete sich von einer alten Redeweise ab: Meer so weit, wo Fische springen, Himmel so hoch, wo Vögel fliegen, ein Bild, das für »unbegrenzte Möglichkeiten« stand. Für ein Badehaus war das vielleicht ein wenig pompös, verwies aber auf die Größe und Angebotspalette des Unternehmens. Schließlich antwortete er seinem Gegenüber: »Ein solches Bad mag ja luxuriös sein, Lei, aber ich habe inzwischen auch eine heiße Dusche in meinem Apartment.« »Und wenn schon, Genosse Oberinspektor. Wenn du deinen Dienstausweis zückst, wird der Badehausbesitzer barfuß herbeieilen und dich willkommen heißen. Selbst ein aufsteigender Parteikader und publizierter Dichter braucht mal eine Entspannungspause. Gesundheit ist das Kapital der sozialistischen Revolution, sagte doch schon der Große Vorsitzende.« Chen kannte Lei seit vielen Jahren, zunächst durch den Schriftstellerverband, dem sie beide angehörten. Lei hatte seinen Abschluß in Chinesischer Literatur gemacht, Chen in Westlicher Literatur, doch gleich danach waren ihnen durch die staatliche Arbeitsplatzvergabe Stellen zugeteilt worden, die wenig mit ihrer ursprünglichen Neigung zu tun hatten. Lei hatte als Wirtschaftsjournalist angefangen und war dann stetig aufgestiegen. Als im vorigen Jahr die Shanghaier Morgenpost gegründet worden war, hatte man ihm den Posten des Herausgebers angeboten. Wie viele andere Blätter stand auch die Shanghaier Morgenpost weiterhin unter der ideologischen Kontrolle der Regierung, arbeitete aber auf eigenes finanzielles Risiko. Daher versuchte Lei alles, um seine Zeitung leserfreundlich zu gestalten und nicht nur mit den üblichen Politphrasen zu füllen. Seine Bemühungen zahlten sich aus; die Zeitung wurde immer beliebter und hatte fast schon die Auflage der Wenhui Tageszeitung erreicht. Und heute wollte Lei Chen ausführen, um diesen Erfolg zu feiern. Eine solche Einladung konnte Chen kaum zurückweisen. In all den Jahren hatte Lei stets dafür gesorgt, daß die Gedichte des Freundes in seiner Zeitung abgedruckt wurden. Doch in Chens Position und in Zeiten von guanxi, dem allumspannenden Beziehungsgeflecht, mußte man vorsichtig sein. »Das geht dann aber auf meine Rechnung, Lei«, entgegnete er. »Du hast mich erst neulich zu einem üppigen Abendessen ins Xinya eingeladen. Jetzt bin ich an der Reihe.« »Hör zu, Chen. Ich arbeite an einem Artikel über die aktuelle Shanghaier Unterhaltungsszene. Allein in dieses Bad zu gehen macht keinen Spaß. Du tust mir also einen Gefallen, wenn du mitkommst. Natürlich auf Spesenrechnung.« »Dann aber bitte keine Séparées oder besonderen Dienstleistungen.« »Das brauchst du mir nicht zu sagen. Leute wie du und ich sollten nicht in derartiger Umgebung gesehen werden. Vor allem wo gerade mal wieder eine Anti-Korruptionskampagne läuft.« »Na ja«, entgegnete Chen, »so wenigstens behaupten es die Schlagzeilen deiner Zeitung.«   Das Niaofei Yuyao war ein sechsstöckiges Gebäude an der Jumen Lu. Die Eingangshalle erstrahlte im Glanz von Kristalleuchtern und erinnerte Chen eher an ein amerikanisches Fünf-Sterne-Hotel. Der Eintritt kostete zweihundert Yuan pro Person, alle weiteren Dienstleistungen würden gesondert zu bezahlen sein, erklärte ihnen ein träger Angestellter und reichte jedem ein blitzendes Silberarmband mit einer Nummer. »Wie beim Dimsum«, bemerkte Lei. »Alles wird auf deine Nummer registriert, und am Ende wirst du zur Kasse gebeten.« Ein junger Mann mit dem Aussehen eines Reporters gesellte sich zu ihnen. Er trug eine Kamera, deren Objektiv so lang war wie ein Gewehrkolben. Daraufhin wurde der Angestellte munter, er erhob sich und wedelte abwehrend mit der Hand. »Hier wird nicht fotografiert.« »Wenn die Bilder in einer Zeitung wie der deinen erschienen, wäre das doch nur gut fürs Geschäft«, sagte Chen hinter vorgehaltener Hand. »Nun ja, ein hoher Baum setzt sich den Sturmböen aus«, kommentierte Lei, während er in Plastikschlappen schlüpfte. »Dieses Wellness Center kann nicht noch mehr Gratiswerbung gebrauchen, sonst könnte die Stadtverwaltung auf die Idee kommen, sich für seine enormen Umsätze zu interessieren.« Der Badebereich hatte das Ausmaß von drei bis vier Fußballfeldern, den für Frauen reservierten Teil nicht mit eingerechnet. Das Wasser der drei großen Becken schimmerte grün im sanften Licht. Jedes von ihnen war mit majestätischen Marmorstatuen und Fontänen verziert. Man hätte sich in einem römischen Palast wähnen können, wären an den Rändern der Becken nicht alle Arten modernster Massagedüsen installiert gewesen. Außerdem gab es Spezialwannen mit Bier-, Ginseng-, Milch- und Kräuterbädern. Chen inspizierte den Gazebeutel, der in der Ginseng-Wanne schwamm, und sah, daß er mit dicken Knollen gefüllt war. Ein teures Vergnügen, falls die wirklich echt waren. Allerdings hatte Chen seine Zweifel am medizinischen Nutzen eines solchen Wannenbades. »Diese Bäder sollen sehr wirksam sein«, bemerkte Lei grinsend. »Und auch sehr kostspielig.« »Allein der Bau des Schwimmbadbereichs hat angeblich Millionen verschlungen. Man hat auf den Aufschwung und den ausländischen Kapitalzufluß gesetzt, den der WHO-Beitritt für Shanghai bringen wird. China ist derzeit nach den USA der zweitgrößte Empfänger ausländischer Investitionen. Bald werden wir der größte sein.« Lei besuchte Abendkurse in Betriebswirtschaft. Für sein Medienunternehmen benötigte er Kenntnisse, die er während des Literaturstudiums nicht erworben hatte. »Du wirst also über dieses Wellness Center schreiben?« »Nicht nur über dieses Etablissement, sondern über neue Freizeittrends im allgemeinen; essen, trinken, baden, schlafen, was auch immer. In China gibt es einen aufstrebenden Mittelstand, der Geld in der Tasche hat und wissen will, wie er es ausgeben soll. Als Herausgeber muß ich schreiben, was die Leute lesen wollen.« »In der Tat, Tröge voll Wein, Wälder von Fleisch«, sagte Chen in Anspielung auf ein klassisches Zitat. Langsam ließ er sich in das dampfende Becken gleiten. Er lehnte sich gegen die Wand des Pools, damit eine Düse seinen Rücken massieren konnte. Deren Gurgeln schien Ausdruck der hier herrschenden kollektiven Zufriedenheit zu sein, und Chen nahm sich davon nicht aus. »Woran denkst du, Chen?« »An gar nichts, mein Geist ist so leer und entspannt, wie du es vorhergesagt hast.« »Als frischgebackener Stadtrat und Bestsellerautor kannst du dich jetzt erst mal zurücklehnen.« Dem äußeren Anschein nach ging es mit Chens Karriere tatsächlich steil bergauf. Seine Berufung in den Volkskongreß der Stadt Shanghai schien ein weiterer Schritt in Richtung einer künftigen Nachfolge von Li Guohua, dem Parteisekretär des Polizeipräsidiums, zu sein. Doch Chen selbst war sich da nicht so sicher. Der städtische Volkskongreß war ein Gremium ohne wirklichen politischen Einfluß, und Stadtrat war im Grunde nur ein Ehrentitel. Seine Berufung war wohl eher ein Ausweichmanöver, denn Chen wußte, daß es innerhalb der Partei nicht wenige Hardliner gab, die sich seinem weiteren Fortkommen in den Weg stellen wollten. Er war ihnen zu liberal. Zutreffend war jedoch, daß seine Gedichtsammlung unerwarteten Erfolg hatte. Mit Gedichten war eigentlich kein Geld zu verdienen, in einer so kapitalorientierten Gesellschaft war ihre Veröffentlichung an sich schon ein Wunder. Und jetzt verkaufte sich das Buch auch noch gut … Seine Gedanken wurden von zwei Badenden unterbrochen, die sich gerade ins Wasser...


Qiu, Xiaolong
Qiu Xiaolong wurde 1953 in Shanghai geboren. Er arbeitete als Übersetzer, veröffentlichte Lyrik und Literaturkritiken. Seit 1988 lebt er in den USA, wo er seit 1994 chinesische Sprache und Literatur lehrt. Seine Krimis um Oberinspektor Chen erscheinen bei Zsolnay, zuletzt Blut und rote Seide (2009), Tödliches Wasser (2011) und 99 Särge (2014).2016 ist der neue Band Schakale in Shanghai erschienen.

Hornfeck, Susanne
Susanne Hornfeck, 1956 geboren, promovierte u. a. in Sinologie und Neuerer Deutscher Literatur. Fünf Jahre lebte und lehrte sie in Taipeh. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin in Süddeutschland. Für ihre Übersetzungen aus dem Chinesischen und Englischen wurde sie mehrfach ausgezeichnet.


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