Pyka | Gesicht zur Wand | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 648 Seiten

Pyka Gesicht zur Wand

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96242-940-9
Verlag: Verlag Dreiviertelhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 648 Seiten

ISBN: 978-3-96242-940-9
Verlag: Verlag Dreiviertelhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Schon als Jugendlicher in den 1970er Jahren gerät Bodo Lederer in Konflikt mit der DDR-Obrigkeit. Trotz guter schulischer Leistungen wird ihm der Zugang zur Erweiterten Oberschule verwehrt und auch als Ringkämpfer werden ihm zunehmend Steine in den Weg gelegt. Für die Verweigerung des Wehr- und Ersatzdienstes wird er zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt. Im Gefängnis reift in ihm der Entschluss, das Land zu verlassen. Zusammen mit seinem Freund Vierkant ersinnt er einen Plan ... In »Gesicht zur Wand« erzählt Hans-Gerd Pyka die bewegende Geschichte einer Flucht aus der DDR und eines steinigen Neuanfangs im Westen. Für seine Arbeit an dem Roman erhielt der Autor ein Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste und ein Arbeitsstipendium für Literatur des Künstlerhauses Ahrenshoop. »Pyka ist ein magischer Erzähler, und wie jeder vernünftige Magier weiß er, dass er in der Realität zu beginnen hat.« (Johannes Groschupf)

Hans-Gerd Pyka, 1955 in Salzgitter-Lebenstedt geboren, zeichnet und schreibt seit fünf Jahrzehnten. Seit 1975 lebt er in Berlin. Mehrere Ausstellungen, darunter eine Werkschau im Lüneburger Heinrich-Heine-Haus, und Förderungen als Autor, darunter zweimal ein Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste sowie Literaturstipendien des Künstlerdorfs Schöppingen und des Künstlerhauses Ahrenshoop. Seit 2009 veröffentlichte er mehrere Romane und Erzählungen. Zuletzt erschienen 2019 bei Dreiviertelhaus unter dem Titel 'Graphit und Bindestrich' ein Band mit Kurzgeschichten und Zeichnungen sowie im Frühjahr 2024 bei Bartels & Bleil sein Roman 'Newsroom'.
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Autoren/Hrsg.


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1 . Kapitel


Frühjahr 1960 zwischen Botenick und Flossendorf.

Martha Lederer humpelte die Chaussee entlang. Dunkel war’s, die Straße leer, das Kopfsteinpflaster kalt. Sie hatte sich die Schuhe ausgezogen. Wenn man die halbe Nacht tanzt, wild, hat man’s nachher an den Füßen. Hätte sie mal das Angebot des Brigadiers nicht ausgeschlagen: »Wolln Se mit nach Flossendorf? Kann noch nen Sozius gebrauchen.«

Aber sie erbrach sich gegen das Motorrad und den Mast der fdj. Jemand lachte, weil da noch der Lappen dranhing und im Sozialismus der Fahnenmast heiliger war als der Weihnachtsbaum. Hätte sie mal auf ihre Freundin gehört: »Kannst hinterm Ausschank übernachten.«

Sie humpelte der Mondsichel entgegen, hatte keine Angst, auch nach zwei Kilometern nicht.

»Warum ausgerechnet mich?«, antwortete sie immer, wenn die Mutter warnte: »Geh nicht die Chaussee nach Flossendorf, wo die Büsche Hände haben!«

So eine Hand hätte sie gebissen, wenn’s hätte sein müssen. Dann passierte alles sehr schnell. Aus dem Scheinwerferlicht wurde ein Auto, aus dem Auto ein Wartburg, aus dem Unbekannten Herr Muskat, aus dem Sitz ein Bett und aus ihrem »Nein« schließlich – am 23. Dezember 1960 – Bodo Lederer.

Das Kind hatte die braunen Augen der Mutter und die hohe Stirn des Vaters, den er nur zweimal gesehen hat. Das erste Mal mit vier Jahren, als jemand im Wartburg vorbeiraste, die Pfütze spritzte und Herr Klump aus der Meierei ihm verriet: »Das war dein Vater.«

Das zweite Mal im Trabant. Da wusste Bodo schon: Das isser!

Der Vater hielt nicht an, auch beim Russendenkmal nicht, als zufällig die große Blumenvase umkippte. Bodo dachte: Der kann nicht anders, weil er keine Bremse hat wie andere kein Benzin.

Von Beruf war der Vater Gartenbauingenieur, wohnte gelegentlich im Nachbardorf Teutz und hatte von Karlshorst bis Buch den Rasen unter sich.


Die Hebamme, hat man ihm berichtet, staunte über Bodos große Hände und rief: »Kapitalistchen!«

Sie konnte in der Windel die Zukunft lesen und sagte dem Baby eine düstere voraus. Ja, Bodo war nicht ihr Lieblingskind, sonst aber schien alles und jedes diesen kräftigen, gesunden Jungen zu mögen: der helle Stationssaal mit den weißen Kacheln, der lächelnde Ulbricht über der Tür, der hüpfende Reisigbesen und die lustige Schleife überm Hintern der Kinderärztin.

»Du hast nicht einmal geweint«, hatte die Mutter ihm erzählt.

All das sah Bodo im fünften Lebensjahr wieder, als er noch einmal im Krankenhaus lag, mit Verdacht auf Typhus. Weihnachten und Silvester. Das war eine tolle Zeit im Weißen Krankenhaus von Demmin. Typhus hatte der Junge nicht, wie sich herausstellte. Den bekam die Großmutter, die sich davon aber schnell erholte.

In der Schule schrieb Bodo einen Aufsatz, der mit einer Drei bewertet wurde: »Die nächstgrößere Stadt in der Nähe von Flossendorf, wo ich aufwachse, heißt Demmin, und die liegt im Bezirk Neubrandenburg. Ist eine schöne, kleine Stadt, die schönste, die es überhaupt gibt. In Demmin bin ich auch geboren, im Krankenhaus. Wir haben zwei, das rote und das weiße. Das hat mit den Farben zu tun. Das weiße war eigentlich die Ulanenkaserne. Daraus wurde dann das Haus für Geburten und für ansteckende Krankheiten, also genau richtig für mich.«

Seine Mutter ist sechstausend Tage alt gewesen, als Bodo einen Tag alt war, rechnete der Schuster ihm mal vor. Die Mutter lernte den Beruf der Weberin in Sachsen, wohin sie nach Bodos Geburt wieder zurückging, sodass der Junge von Anfang an bei seiner Großmutter aufwuchs, die ihm die Mutter ersetzte. Bodo hat seine Großmutter, wie die Stasi es später formulierte, »als Quasimutter akzeptiert und geliebt«.

Die Mutter kam alle paar Monate und immer in der vierten Dezemberwoche nach Flossendorf. Sie brachte Geschenke mit, und der Junge trug lange Zeit die Vorstellung mit sich herum, dass der Weihnachtsmann eine Frau hätte, die seine Mutter wäre. Als Sohn seiner Mutter war Bodo also mit dem Weihnachtsmann verwandt, war ein Weihnachtsmannkind oder »Weihkind«. Hocherfreut sprang Bodo 1965 um den geschmückten Baum herum: »Ich bin ein Weihkind, bin ein Weihkind!«


Die Mutter verstand »Weinkind«, nahm den Jungen in die Arme und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Bodo bis heute nicht vergessen hat: »Wer weint, verliert sein Lachen. Wer lacht, verliert sein Weinen. Pass immer gut auf, dass du beides nicht verlierst.«

Die Mutter war für Bodo eigentlich eine liebe Tante, die er »Mara« rief, ein Name, der hinterm Tannenbaum wie »Mama« klingen konnte. Zur Großmutter sagte er »Mamu«, auch noch, als er erwachsen und dem Kindermund eine Rockerlippe gewachsen war. Sich selbst nannte Bodo zur Kindergartenzeit manchmal aus unerfindlichen Gründen »Walter«, was die Großmutter nicht hören durfte, denn sie hatte etwas gegen Ulbricht.

Die Großmutter bewohnte in Flossendorf ein kleines Bauernhaus, das neben der evangelischen Kirche stand, wo die Großmutter zum Gottesdienst ging, nicht immer, aber oft. Wenn sie aber in ihrer Stube blieb, brummte sie: »Man hält den lieben Gott nicht aus, wenn der Pfarrer spricht.«

Das Haus grenzte mit seinem Hof an die Friedhofsmauer. Es war strohgedeckt, man nannte es das Schnitterhaus. Schnitter hießen auch die Vertragsarbeiter aus Polen, die bei der Ernte halfen. Wenn sie mit blitzenden Sensen über den heißen Acker spazierten, bewarfen die Flossendorfer Jungs sie mit faulen Kastanien. Vor dem Krieg besaß die Großmutter einen Bauernhof in der Nähe von Krakau. Sie verfluchte das Jahr 33, als Hitlers Rede im Volksempfänger flammte und der Großvater im eisigen Stall, wo der Kot im Hintern gefror, bei einem kranken Gaul Wache hielt, schließlich an Lungenentzündung starb.

»Krakau, meine schöne Insel, bis die Haie anrückten und dem Hitler die Flosse hoben«, sagte die Großmutter, als Bodo in der Schule Fotos vom Zweiten Weltkrieg gesehen hatte und zu Hause davon erzählte. Der Krieg vertrieb aus Krakau erst die Nachtigallen, dann die Amseln, schließlich die Großmutter und ihre sechs Kinder. Das Pferd, das im Frühjahr 45 den Kistenkarren Richtung Sachsen zog, hieß Napoleon. Als es abgeschossen wurde, gab’s drei Wochen lang fettige Suppe, bis der Suppentopf zerschossen wurde.


Bodo spielte die Flucht aus Schlesien, wie er sie sich vorstellte, in seiner Lieblingsecke nach: auf der Friedhofsseite der Kirchmauer, zwischen dem Grab des einäugigen Majors Holzenbring, gestorben am 14.11.1914, und dem Kletterbaum, dessen Hanfseil Bodo so oft erneuerte, bis der Pfarrer aufgab, es abzuschneiden. Die Großmutter war bei diesem Kinderspiel ein muffiges, flaumfedriges Meisennest. Ihre sechs Kinder: Mausgewölle. Von links, von Osten also, kamen die Russen: Ziegelsteinstücke, über fünfzig und messerscharf. An den Seiten, in den Graben rollend: Eierkohlen, also Hungerbäuche. Über allem Unglück: der Schatten der Deutschen Eiche.

Die armseligen Umstände, unter denen sie im Februar 46 von Sachsen nach Flossendorf kamen, um in das Haus ihrer verstorbenen Schwester zu ziehen, hatte die Großmutter ihrem Bodo mehrmals erzählt, wenn sie ihre offenen Beine mit einer Tinktur...



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