E-Book, Deutsch, 600 Seiten
Puttkamer »Ich werde mich nie an die Gewalt gewöhnen«
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-86854-481-7
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Polizeibrutalität und Gesellschaft in der Volksrepublik Polen
E-Book, Deutsch, 600 Seiten
ISBN: 978-3-86854-481-7
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joachim von Puttkamer ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Gemeinsam mit W?odzimierz Borodziej leitet er das Imre Kertész Kolleg »Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich«.
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Einleitung
Der Tote lag zwischen den Mülltonnen. Schon in der Nacht hatten Anwohner den leblosen Körper gesehen und nicht weiter beachtet. Am nächsten Morgen fanden Milizbeamte die Leiche: Michal Mirkowski, fünfundfünfzig Jahre alt, wohnhaft nur wenige Schritte entfernt im Warschauer Stadtteil Zoliborz-Bielany. Die gerichtsmedizinische Untersuchung stellte einen Schädelbasisbruch und nachfolgende Hirnblutungen als Todesursache fest, die auf zwei Schläge mit einem harten, möglicherweise langen und elastischen Gegenstand zurückgingen. Was die blauen Flecken an den Armen und auf dem Rücken, an den Beinen und am Gesäß betraf, nahm der Obduktionsbericht kein Blatt vor den Mund. Sie waren von einem Schlagstock verursacht, der zur polizeilichen Standardausrüstung gehörte. Hinzu kamen Verletzungen an den Unterarmen, die von Handschellen herrührten. Tatsächlich war Mirkowski am Vorabend vorübergehend festgenommen worden, Schwester und Schwager hatten wegen häuslicher Randale die Miliz gerufen. Ausweislich des Protokolls hatten die Beamten ihn in das Kommissariat verbracht, jedoch nach zwanzig Minuten wieder gehen lassen. Offen blieb, ob er die 600 Meter vom Kommissariat noch selbst hatte zurücklegen können. Vermeintliche Blutspuren im Dienstwagen der Bereitschaftspolizei führten nicht weiter. Die beiden diensthabenden Beamten bestritten, Mirkowski geschlagen zu haben. Vielmehr habe er später am Abend noch auf einer Bank gesessen und, so die beiden, nach Spiritus gestunken. Es gab keine Zeugen. Was in der Nacht zum 17. Mai 1988 tatsächlich geschehen war, lag also auf der Hand, war wie so oft aber kaum zu beweisen. Es sollte auch nie bewiesen werden.1
Stutzig wurden die Ermittler dennoch. Nur drei Tage zuvor hatte einer der beiden Beamten, der Oberfeldwebel Andrzej K., in seinen Diensträumen einen anderen Mann schwer misshandelt, um eine Aussage zu mehreren Autoaufbrüchen zu erhalten. Die Verletzungen ähnelten auffällig denen, an denen Mirkowski gestorben war. Diesmal aber gab es mehrere Zeugen, und es gab eine Anzeige. Auch zwei frühere Fälle wurden jetzt wieder aufgegriffen. Anfang Juni wurde Andrzej K. vorläufig verhaftet, bald darauf degradiert und aus der Miliz entlassen. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage. Am 17. März 1989 wurde er in erster Instanz zu anderthalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Das Verfahren im Todesfall Michal Mirkowski wurde hingegen eingestellt, da die Täter angeblich nicht hatten festgestellt werden können. Der ermittelnde Beamte notierte: »So wurden der kpr. Kazimierz S. und der st. sierz. Andrzej K. von dem Verdacht gereinigt, die Verletzungen an dem Körper M. Mirkowskis verursacht zu haben, die den Tod des Genannten verursachten.«2
Im Polen der späten 1980er Jahre war ein solcher Ausgang keineswegs ungewöhnlich. Dennoch ist er in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens war das Innenministerium offenbar selbst daran interessiert, Gewaltexzesse der Milizbeamten zu unterbinden. Ihr vorrangiges Ziel bestand darin, die Disziplin innerhalb der Miliz zu sichern und auffällige Beamte zu entlassen. Zweitens waren betroffene Bürgerinnen und Bürger im Einzelfall offenbar durchaus imstande, sich auf dem Rechtsweg gegen gewalttätige Übergriffe der Behörden zu wehren. Auch konnte sich die Miliz nicht darauf verlassen, dass die Gerichtsmedizin bei der Untersuchung der Opfer Spuren polizeilicher Gewalt stillschweigend übergehen würde. Drittens schließlich spielte die Öffentlichkeit im vorliegenden Fall keine ersichtliche Rolle. Dem Zycie Warszawy, der unter vermischten Mitteilungen jeden schweren Verkehrsunfall in der Hauptstadt meldete, war ein solcher Leichenfund keine Notiz wert, und ebenso wenig das spätere Gerichtsverfahren. Die ermittelnden Beamten sorgten sich nicht erkennbar darum, dass der Tod einfacher Bürger das Ansehen der Miliz beschädigen könnte. Die Bürgerrechtsgruppen wiederum, die einschlägige Rechtsbrüche von Miliz und Staatssicherheit dokumentierten, registrierten zwar durchaus auch scheinbar unpolitische Fälle. Doch da der Tote offenbar keine Kontakte zur Opposition unterhalten hatte, kam ihnen der Fall gar nicht erst zur Kenntnis. So wurde er auch von späteren Untersuchungskommissionen nach 1989 nicht erfasst.
Michal Mirkowskis Tod war kein Einzelfall. Wie viele derartige Todesfälle es in der Volksrepublik Polen gab, hat niemand gezählt. Sicher ist nur: Es waren sehr viele. So wie wir bis heute nicht mit letzter Sicherheit wissen, wie viele Menschen an der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze ums Leben gekommen sind, so ist auch die Zahl derjenigen, die im Kontakt mit der polnischen Bürgermiliz (Milicja Obywatelska) zu Tode kamen, nur in Umrissen bekannt. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass bis heute die tatsächlichen und die vermeintlichen politischen Straftaten im Vordergrund öffentlichen Interesses stehen. Das Institut für das Nationale Gedächtnis (Instytut Pamieci Narodowej / IPN) bearbeitete im Jahr 2007 beinahe 900 Fälle, die laut Gesetz vom 18. Dezember 1998 als »kommunistische Verbrechen« eingestuft wurden.3 Die weitaus meisten betreffen die Tätigkeit der Staatssicherheitsbehörden in der Frühphase der Volksrepublik sowie politisch motivierte Taten während des Kriegsrechts, also nach dem 13. Dezember 1981. Welche von Milizbeamten begangene Taten überhaupt unter den Buchstaben des Gesetzes fallen, ist angesichts der unscharfen internen Abgrenzung von Miliz und Staatssicherheit gar nicht so leicht zu beantworten. Verstreute interne Angaben des Innenministeriums lassen die Dimensionen erahnen. So starben allein im ersten Halbjahr 1957 elf Menschen infolge von Straftaten, die von Beamten der Bürgermiliz begangen worden waren.4 Einzelne, bisweilen nicht einmal namentlich genannte Todesopfer lassen vermuten, dass sich das Gesamtbild auch in den folgenden zwei Jahrzehnten nur unwesentlich veränderte. Das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników / KOR) erfasste von 1976 bis 1979 insgesamt fünfzehn Fälle.5 Auch diese erste halbwegs systematische Dokumentation ist unvollständig.
Die meisten Fälle wurden für das letzte Jahrzehnt der Volksrepublik erfasst und dokumentiert. Darunter sind so prominente Fälle wie der Mord an dem Priester Jerzy Popieluszko, bei dem bis heute nicht geklärt werden konnte, wie hoch im Ministerium die Verantwortung anzusiedeln ist, oder ganz unspektakuläre Fälle wie der des Lastwagenfahrers Stanislaw Kot, den Milizbeamte im März 1982 volltrunken auf der Straße eingesammelt hatten und so heftig schlugen, dass er acht Tage später im Spital verstarb.6 Bereits zwischen 1989 und 1991 untersuchte eine parlamentarische Kommission unter Vorsitz Jan Rokitas 122 Todesfälle seit 1981, die im Zusammenhang mit der Miliz standen.7 Der eingangs erwähnte Tod von Michal Mirkowski ist nicht darunter. Es ist nicht der einzige Todesfall, der bislang unentdeckt blieb. Da kaum zu erwarten stand, dass die Täter in all diesen Fällen nach Jahren noch juristisch belangt werden könnten, verlegte sich die Rokita-Kommission früh darauf, auch jene Strukturen des Innenministeriums offenzulegen, welche für die hohe Zahl an Todesfällen verantwortlich waren, bis hin zur geheimnisumwitterten »Grupa D« im Einsatz gegen unliebsame Kirchenmänner.8 Von gezielten politischen Morden oder gar regelrechten Todesschwadronen, die eine sensationsheischende Geschichtsschreibung aus weit hergeholten Spekulationen insinuiert, kann allerdings nicht die Rede sein.9 Solche Andeutungen nähren jedoch das Unbehagen daran, dass viele der mutmaßlichen Täter von der Justiz nicht entsprechend hart genug abgeurteilt worden seien. Der Rechtsstaat selbst und seine Verfahren werden so zum Problem.10
Festzuhalten bleibt, dass allein in den letzten vierzehn Jahren der Volksrepublik alle ein bis zwei Monate irgendwo in Polen ein Mensch von Beamten der Miliz willkürlich zu Tode geprügelt wurde oder auf andere Weise in Polizeigewahrsam ums Leben kam. Bei den meisten bestand kein ersichtlicher Zusammenhang zu oppositioneller Aktivität. Diejenigen, die krankenhausreif geschlagen wurden und manchmal ihr Leben lang unter den Folgen litten, sind da noch gar nicht mitgezählt.
Polizeiliche Brutalität. Zugänge und Definitionen
In diesem Buch geht es um die Formen, um die Wahrnehmung und um die Folgen polizeilicher Brutalität in der Volksrepublik Polen. Es geht also um ein Thema, das generell nicht eindeutig definiert ist. Zwang und Gewaltanwendung gehören zum Kernbereich polizeilichen Alltags und sind in der Regel durch Gesetze und Vorschriften einigermaßen klar umrissen. Polizeibrutalität ist allerdings nicht einfach der regelwidrige Gebrauch von Gewalt. Soziologen und Soziologinnen unterscheiden diverse Formen, je nach Situation und nach Intention. Unnötige Gewaltanwendung kontrastiert mit Gewaltexzessen, absichtliche Brutalität mit schlichter Überforderung. Auch klaffen öffentliche Wahrnehmung,...




