Przybyszewski | DER SCHREI | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Przybyszewski DER SCHREI

Roman zum Bild - Inspiriert von dem Bild Edvard Munchs
1. Auflage 2017
ISBN: 978-80-272-0564-6
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman zum Bild - Inspiriert von dem Bild Edvard Munchs

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

ISBN: 978-80-272-0564-6
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Stanislaw Przybyszewskis DER SCHREI ist ein bahnbrechendes Werk der expressionistischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Das Buch erzählt die Geschichte eines Künstlers, der verzweifelt nach Anerkennung und Sinn im Leben sucht. Przybyszewskis literarischer Stil ist geprägt von starken, emotionalen Beschreibungen und einem intensiven Fokus auf die Psyche seiner Protagonisten. Das Werk wird oft als eines der Schlüsselwerke des deutschen Expressionismus angesehen und hebt sich durch seine düstere, pessimistische Atmosphäre von anderen zeitgenössischen Werken ab.

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III
Inhaltsverzeichnis

Als er erwachte, konnte er sich nicht zurechtfinden, wo er eigentlich war. Als hätte sich eine schwarze, öde, dumpfe Nacht um ihn gebreitet. Und in dieser Nacht hörte er das Brausen aus weiter Ferne heranflutender Wogen – näher, noch näher – jetzt sah er sie schon ganz deutlich, wie sie sich immer höher emporwälzten, sich in der Höhe stauten, zu einem himmelhochragenden Wasserwall emporwuchsen – meilenbreit – im Donner des Jüngsten Gerichts und höllischem Gebraus . . . Und er sah den grauenhaften Wall noch immer anwachsen, ihn näher und näher auf sich zukommen in gewaltigen Sprüngen, als wälzte er sich über hochragende Kämme unterseeischer Gebirgsketten – jetzt sah er die entsetzliche Springflut wie eine taumelnde Mauer dicht vor sich – jetzt, jetzt musste er einen furchtbaren Schrei hören, denn dieser Wasserwall musste ihn mit der Schwere eines Wolkensturzes unter sich begraben und ihn zu Brei zermalmen. Aber er hörte keinen Schrei . . . Und wieder wälzten sich von den Rändern des Horizontes neue Flutwellen heran, noch mächtigere Wasserkonvoluten, aber auch diese brachen unter ihrer eigenen Schwere zusammen, stürzten in die Tiefe, lösten sich in meilenbreite Schwaden, ergossen sich mit seichter Flut über den Ufersand – und auch jetzt hörte er keinen Schrei, nur eine demütige Anbetung der sandigen Untiefen im leisen Gewimmer. Er horchte gespannt in sich hinein: ein gespenstisches, schauerliches Lied, irgendwo auf der Strasse geboren – aber nein! es war kein Lied, denn er konnte keine bestimmten Gehörseindrücke unterscheiden – das, was er empfand, war eher eine Reihe schnell auf einander folgender schmerzhafter, seelischer Erschütterungen: die Schauer düsterer Balladen, frostiger, eiskalter Glanz verzweifelter Litaneien, Mark und Bein erschütternde Psalmodie von Grabgesängen, das keuchende Gestöhn von Sturmglocken, das das Blut zu Eis erstarren lässt – aber er hörte nicht den Schrei, in dem sich doch das tiefste Geheimnis der Strasse ihm offenbart hatte. Im Gegenteil: Etwas in ihm wurde zu einem bodenlosen Trichter, worin sich ihm das ganze All lautlos in abgründige Tiefen zu ergiessen begann – ihn würgte eine dumpfe, schwüle Stille, er selbst löste sich in Teile und Teilchen auf, fing sich an zu verlieren, im Himmelsall zu zerfliessen und mit ihm zusammen in dem dunklen Abgrund des Trichters zu versinken . . . Und doch hatte er einen Schrei, einen gewaltigen Schrei gehört, der die ganze Welt aus den Angeln hob – wann – wann war es nur? Dieser Schrei! Dieser Schrei! Es begann langsam in ihm zu dämmern. Aber das alles war wohl nur ein Traum . . . Er warf den Pelz ab – wieso mochte nur der Pelz hierher gekommen sein? – setzte sich aufs Sofa und sah sich um: die Tür zum Nebenzimmer war offen – er stand auf und sah hinein: niemand war dort – nur eine Wasserlache auf dem Boden rief ihn in die Wirklichkeit zurück – also war das alles doch kein Traum – alles: die wirklichste, sonnenhelle Wirklichkeit! Sie war also aufgestanden, hatte sich angekleidet, als er im tiefsten Schlafe lag, war witzig genug, ihn zum Spott mit dem Pelz zuzudecken, und war ihrer Wege gegangen. Wie das alles unsagbar lächerlich war! Wie schauderhaft lächerlich und dumm und albern! Oh, die Strasse hat schon ihren Witz, einen boshaften, schmerzhaft bissigen Witz! Und er empfand eine tiefe, qualvolle Scham, aber nur einen Augenblick, denn gleichzeitig hörte er den ersten Vers des Busspsalmes, mit dem seine wahnsinnige Mutter ihn der Kunst angetraut hatte: »Alle Scham und Schande wird dir auferlegt werden, und du wirst sie tragen!« Und gleich, zugleich vergass er alles. Er ging eine Weile in dem Atelier auf und ab – in seiner Seele fing es an zu wachsen und zu schwellen, sie erzitterte wie eine tausendsaitige Harfe unter reissenden Arpeggios, erdröhnte in gewaltigen Akkorden – breitete sich über ihre Pole hinaus, weil sie den Umfang dieser Übermacht von Tönen nicht fassen konnte, dieser ins Uferlose wachsenden Macht, um den grossen Schrei zu gebären: das schauerliche Geheimnis, nach dem er so lange vergebens gefahndet hatte. Und er sah jetzt den Schrei als einen gewaltigen Blitz, der die Luft in Fetzen riss, den Himmel in tiefe, feuerstrotzende Furchen zerpflügte und auf ihm eine Feuersbrunst entfachte von tollgewordenen Farben, in denen giftige Gase brennen, verspritzt von dem Gischt des kochenden Gemenges verschiedenartiger Metalle, – und es sah aus, als ob die Regenbögen von entstehenden Welten in tödlicher Wut miteinander rangen. So! Ja! so musste der Himmel schreien! Er spannte fiebernd die Leinwand über den Rahmen, wusch die Pinsel, zerrieb die Farben auf der Palette. Und tief unten, hinter dem Rand des Horizontes, langsam sich heranwälzende Wasserwälle, bis hinauf in den Himmel sich emporstauend, über ihnen das übermächtige, höllische Brückenjoch – so! so! Nur es nicht aus den Augen verlieren – dass nur nicht in den Ohren der Schrei erstirbt – jetzt würde er endlich die Synthese der Strasse erschaffen – »der Strasse!« schrie er gell auf. Er pfiff, er lachte, er sang, peitschte sich hinein in die Ekstase des Schaffens, er biss die Zähne zusammen, denn das Feuer, das in seinen Adern raste, begann ihn zu schmerzen, in den Augen sprühten im wilden Zickzack die Blitze, die er vergebens zu verscheuchen suchte – seine Seele schütterte in ihren Grundfesten, um sich aus dieser vorschöpferischen Qual zu erlösen, und plötzlich kam der grosse Augenblick der Befreiung: ein verzücktes Herumschweifen trunkener Augen in dem unbegrenzten Raum überweltlicher Geheimnisse, er überschritt die heilige Schwelle: er erschauerte und erlöste sich in einer solch weltentrückten Sammlung und einer solchen übermenschlichen Anspannung aller Kräfte, dass er sein Dasein vergass, in ganz anderen Dimensionen aufzuwachen glaubte – er hätte jetzt im lodernden Feuer stehen können und würde nicht gemerkt haben, dass er brannte. Er wusste nur, dass sich in ihm jetzt ein schmerzhaftes Mysterium vollzog, aber er empfand keinen Schmerz – er fühlte deutlich, dass sich etwas in tiefster Not von dem Grund seiner Seele loslöste und sich zu einem neuen Leben umformte, aber er spürte nicht die Qualen der Geburt – es kam ihm vor, dass er nicht mit Händen arbeitete, sondern mit den Augen die Farben auf die Leinwand auflegte, sie mit dem Schrei, der sich seiner Kehle ohne sein Wissen entriss, zu heisser Glut entfachte – mit den Worten des irrsinnigen Busspsalmes führte er die dumpfe, dämmrige Strasse mit den tastenden Händen, den in dumpfer Verzweiflung taumelnden Schritten, in der Qual des Verlangens vertrockneten Augen in die Tiefe –; die Strasse verröchelnder Seufzer, keuchender Schreie, die durch die Sturmflut des reissenden Stromes entzweigerissene Strasse, –und hoch über ihre Teile, hoch in den Himmel hinauf das höllische Brückenjoch – jetzt nur noch den Schrei, der die Luft in Fetzen reisst, den Himmel mit glühenden Farbenfurchen durchackert und auf ihm die Feuersbrunst besessener Farbenwut entfacht – jetzt nur noch dies eine! Und im selben Nu verschwand in dem abgründigen Trichter die gischtige Flutwelle der Eingebung, zu Eis gefror sein Blut. Etwas hatte ihm wieder die Teufelsbrillen vor die Augen gesetzt, durch die er einen erbärmlichen, formlosen Farbenwirrwarr erblickte, ein jämmerliches, elendes Machwerk: seine Ohnmacht und die kindische Unfähigkeit, seine Vision in Wirklichkeit zu verzaubern. »Lasciate ogni speranza!« er hatte Lust, es aus allen Kräften hinauszubrüllen, er wusste nicht, ob in furchtbarem Weinkrampf oder irrsinnigem Wutausbruch – er packte das Bild, warf es in die Ecke, taumelte auf das Sofa – in seinen Augen brannte schmerzhaft die Angst, sie schlug in kurzen, abgerissenen Rhythmen in seinen Stirnadern mit einer solchen Kraft, dass er deutlich fühlte, wie alle Blutgefässe platzten. Woher nur diese höllische Ohnmacht? Er hörte in sich ein rasendes Spottgewieher, ein wüstes Zähneklappern der Verdammnis – sein Kopf barst, und mit letzter, verzweifelter Anstrengung begann er sich zu beruhigen. Er sprach sich zu, eindringlich und begütigend, sprach mit einem erstaunlichen Aufwand an überzeugendster dialektischer Kraft – er führte seine physische Erschöpfung ins Feld, seinen völligen Kräfteverfall infolge von Hunger und äussersten Entbehrungen usw. usw. – für das Argument, dass alle grossen Künstler Hunger und Not gelitten hätten, brachte er tausend andere Argumente vor, die jenes zuschanden machten – mit seltener Geschicklichkeit parierte er in der Luft die schwersten Schläge, die ihn schon ganz zu zermalmen drohten, sprang behende beiseite, als er schon über ein tückisch gestelltes Bein stolpern und zu Boden fallen sollte, vertrat vor dem Tribunal der strengsten Richter eine Sache, die schon ganz verloren schien, mit solcher Begeisterung und Überzeugungskraft, dass selbst der Staatsanwalt, die Schuldlosigkeit erkennend, Freispruch beantragen musste – denn im letzten Grunde lastete doch auf ihm der Fluch, mit dem seine eigene Mutter ihn beladen hatte: er sollte gezwungen werden, das Brot zu essen, das durch die Harpyien besudelt ward, aus stinkenden Pfützen seinen Wein zu trinken und bei den Aussätzigen Herberge zu suchen . . . Dieser Fluch war unabwendbar, dagegen konnte keine weltliche noch himmlische Macht etwas ausrichten. Er war erlöst und reingewaschen. Und nach diesem unsagbar wohltuenden Freispruch hätte er...



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