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E-Book, Deutsch, 1232 Seiten

Prus Die Puppe


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-311-70413-3
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 1232 Seiten

ISBN: 978-3-311-70413-3
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Stanislaw Wokulski hat es geschafft. Vermeintlich. Der aus einer verarmten Adelsfamilie stammende Kaufmann ist während des Russisch-Osmanischen Kriegs 1877/78 zu einem der wohlhabendsten Männer Warschaus aufgestiegen. Sein Vermögen soll einem höheren Zweck dienen: Wokulski ist unsterblich in Izabela Lecka verliebt, mit seinem Reichtum hofft er, den Standesunterschied zwischen sich und der kapriziösen Aristokratentochter wettzumachen. Doch die Angebetete hält ihn hin. Erst als der Parvenü immer einflussreicher wird, stimmt sie der Heirat zu. Als Wokulski merkt, dass sich Izabela trotzdem weiterhin Flirts hingibt, wirft er sich vor den Zug. Sein Selbstmordversuch misslingt, doch kurz darauf verlässt er Warschau ... Mit »Die Puppe« hat Boleslaw Prus ein Meisterwerk geschaffen, zu nennen in einem Atemzug mit Tolstois »Anna Karenina« und Flauberts »Madame Bovary«. Dank seiner Beobachtungsgabe und der intimen Kenntnis verschiedenster Milieus gelang es ihm, ein ebenso facettenreiches wie widersprüchliches Panorama von Warschau im ausgehenden 19. Jahrhundert zu zeichnen. Prus erzählt von den Ambivalenzen des gesellschaftlichen Umbruchs - parabelhaft und voller psychologischem Feingefühl. Im deutschsprachigen Raum noch immer nahezu unbekannt, erscheint »Die Puppe« hier in einer Neuübersetzung von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Olga Tokarczuks viel beachteter Essay »Die Puppe und die Perle« ergänzt den Roman.

BOLES?AW PRUS, geboren 1847 in Hrubieszów als Aleksander G?owacki, gestorben 1912 in Warschau, zählt zu den wichtigsten Schriftstellern des polnischen Realismus. Er wuchs in einer verarmten Adelsfamilie auf, schloss sich 1863 den Januaraufständischen an und geriet in Gefangenschaft. Nach der Freilassung studierte er Mathematik und Physik an der Universität Warschau, arbeitete jahrzehntelang erfolgreich als Journalist und sah sich den Warschauer Positivisten verpflichtet. Nebst »Die Puppe« (»Lalka«; 1887-89) hinterließ er drei weitere große Romane, darunter »Der Pharao« (»Faraon«, 1897).
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Band I


1 Wie die Firma J. Mincel & S. Wokulski durch Flaschenglas aussieht


Zu Beginn des Jahres 1878, als die politische Welt mit dem Frieden von San Stefano befasst war, mit der Wahl des neuen Papstes und der Möglichkeit eines europäischen Krieges, interessierten sich einige Warschauer Kaufleute wie auch gebildete Bürger aus der Gegend um die Straße Krakowskie Przedmiescie nicht weniger brennend für die Zukunft des Galanteriewarengeschäftes der Firma J. Mincel & S. Wokulski.

In einem renommierten Speiselokal, in dem zum abendlichen Imbiss die Inhaber von Weißwaren- und Weinhandlungen zusammenkamen, die Fabrikanten von Wagen und Hüten, seriöse Familienväter, die ihr ausreichendes Einkommen hatten, sowie Hausbesitzer, die keiner Beschäftigung nachgingen, wurde ebenso eifrig von Englands Bestrebungen aufzurüsten wie von der Firma J. Mincel & S. Wokulski gesprochen. Versunken in Schwaden von Zigarrenrauch und über Flaschen aus dunklem Glas gebeugt, ergingen sich die Bürger des Viertels hier über Sieg oder Niederlage Englands, dort über den Bankrott Wokulskis, und die einen nannten Bismarck ein Genie, die anderen Wokulski einen Wagehals; die einen gingen mit dem Präsidenten MacMahon ins Gericht, die anderen erklärten Wokulski für wahnsinnig, wenn nicht gar Schlimmeres.

Herr Deklewski, Wagenfabrikant, der Stand und Vermögen der beharrlichen Arbeit in ein und demselben Metier verdankte, und der Rat Wegrowicz, der seit zwanzig Jahren betreuendes Mitglied in ein und demselben Wohltätigkeitsverein war – sie kannten S. Wokulski am längsten, und sie waren es auch, die am lautesten seinen Ruin voraussagten. »Denn mit Ruin und Insolvenz muss es enden«, so Deklewski, »wenn ein Mensch es nicht versteht, bei einem Fach zu bleiben, und die günstigen Gaben des Schicksals nicht zu schätzen weiß.« Und nach jeder weiteren, nicht minder tiefschürfenden Sentenz seines Freundes fügte der Rat Wegrowicz hinzu: »Ein Wahnsinniger! Ein Wahnsinniger! Ein Wagehals! … Józio, bring noch ein Bier. Die wievielte Flasche ist das?«

»Die sechste, Herr Rat!«, erwiderte Józio. »Bin wie der Blitz zu Diensten! …«

»Die sechste schon? … Wie die Zeit vergeht! … Ein Wahnsinniger! Ein Wahnsinniger!«, brummelte der Rat Wegrowicz.

Die Gründe für die Schicksalsschläge, die S. Wokulski und sein Galanteriewarengeschäft zwangsläufig treffen mussten, standen den Menschen, die in dasselbe Lokal einkehrten wie der Rat Wegrowicz, sowie dem Besitzer des Lokals, den Gehilfen und den Burschen so klar vor Augen wie die Gasflämmchen, die den Laden erhellten. Sie lagen in seinem unsteten Charakter, seinem Hang zu Abenteuern, und nicht zuletzt in der jüngsten Kapriole dieses Menschen, der – mit dem sicheren Broterwerb in der Hand und der Möglichkeit, ebendieses Lokal zu besuchen – genau darauf verzichtet hatte, um sein Geschäft der göttlichen Vorsehung zu überlassen und mit der gesamten, von seiner Ehegattin ererbten Barschaft in den türkischen Krieg zu fahren, auf dass er es zu einem Vermögen brächte.

»Und vielleicht bringt er es wirklich zu etwas. Lieferungen für die Armee sind ein einträgliches Geschäft«, mischte Szprot sich ein, seines Zeichens Handelsagent, ein seltener Gast an diesem Ort.

»Zu nichts wird er es bringen«, erwiderte Deklewski, »und sein anständiges Geschäft geht zum Teufel dabei. An den Lieferungen für die Armee bereichern sich die Juden und die Deutschen; unsereiner hat kein Händchen dafür.«

»Wokulski vielleicht schon?«

»Ein Wahnsinniger! Ein Wahnsinniger«, brummelte der Rat. »Józio, bring noch ein Bier. Das wievielte? …«

»Die siebte Flasche, Herr Rat. Bin wie der Blitz zu Diensten!«

»Die siebte schon? … Wie die Zeit vergeht, wie die Zeit vergeht.«

Der Handelsagent, der von Berufs wegen umfangreiche Kenntnis über die Kaufleute benötigte, brachte seine Flasche und sein Glas an den Tisch, an dem der Rat saß, und während er seinen Blick in dessen tränende Augen versenkte, fragte er mit gedämpfter Stimme:

»Verzeihen Sie, aber … warum nennen Sie Herrn Wokulski einen Wahnsinnigen? Wenn ich eine Zigarre anbieten darf? Ich kenne ihn ein wenig, und ich habe ihn immer für einen stolzen und zurückhaltenden Menschen angesehen. Zurückhaltung ist ein großer Vorzug bei einem Kaufmann, Stolz hingegen schadet nur. Aber dass Wokulski Anlass gäbe, an Wahnsinn zu denken, das habe ich nicht bemerkt.«

Ohne ein besonderes Zeichen der Dankbarkeit nahm der Rat die Zigarre entgegen. Sein gerötetes Gesicht, von grauen Haarbüscheln umrahmt, auf der Stirn, am Kinn, an den Wangen, ließ an einen in Silber gefassten Blutstein denken.

»Ich nenne ihn einen Wahnsinnigen«, entgegnete er, während er langsam die Zigarrenspitze abbiss und das Rauchwerk entzündete, »weil ich ihn seit Jahren kenne … Warten Sie … fünfzehn … siebzehn … achtzehn … 1860 ist es gewesen … Damals haben wir bei Hopfer gegessen. Sie kannten Hopfer?«

»Phh …«

»Und Wokulski war damals Ladengehilfe bei Hopfer, in seinen Zwanzigern.«

»Im Wein- und Delikatessenhandel?«

»Ja, und so wie Józio heute hat er mir damals das Bier serviert und Rindersteak à la Nelson.«

»Und aus dieser Branche ist er dann zu den Galanteriewaren gewechselt«, warf der Handelsagent ein.

»Warten Sie«, unterbrach ihn der Rat. »Gewechselt ja, aber nicht zu den Galanteriewaren, sondern auf die Präparandenanstalt, danach auf die Hochschule, verstehen Sie? … Ein Gelehrter wollte er sein.«

Der Agent wiegte den Kopf, um seinem Erstaunen Ausdruck zu verleihen.

»Donnerlüttchen«, sagte er. »Und wie kam er darauf?«

»Na, wie schon. Ganz einfach – Beziehungen zur Medizinischen Akademie, zur Schule der Schönen Künste … Alle hatten damals Flausen im Kopf, da wollte er nicht zurückstehen. Tagsüber hat er die Gäste am Buffet bedient und die Rechnungen geführt, abends hat er gelernt …«

»Da wird er miserabel genug bedient haben …«

»Wie andere auch«, sagte der Rat mit einer unwilligen Handbewegung. »Nur dass er dabei auch noch unfreundlich war, der Bengel, beim unschuldigsten Wort hat er gleich die Stirn gerunzelt wie ein Strauchdieb. Nur zu verständlich, dass wir ihn aufgezogen haben, wo es nur ging, und am meisten geärgert hat es ihn immer, wenn jemand ihn ›Herr Medicus‹ nannte. Einmal hat er einen Gast derart beschimpft, dass die beiden sich beinahe an die Gurgel gegangen wären.«

»Was dem Geschäft natürlich geschadet hat.«

»Ganz und gar nicht. Denn als in Warschau bekannt wurde, dass Hopfers Ladengehilfe die Präparandenanstalt besucht, drängten sich bei ihm die Scharen zum Frühstück. Es wimmelte nur so von Studenten.«

»Und ist er dann in die Präparandenanstalt gegangen?«

»Ja, ist er. Und die Prüfung für die Hochschule hat er auch bestanden. Aber was ich Ihnen sage wollte«, fuhr der Rat Wegrowicz fort und patschte dem Agenten aufs Knie, »anstatt ordentlich weiterzulernen, hat er die Schule nach nicht ganz einem Jahr an den Nagel gehängt …«

»Und was hat er dann gemacht?«

»Ja, da hat er … zusammen mit ein paar anderen hat er uns allen die Suppe eingebrockt, die wir bis heute auslöffeln. Und ihn selbst hat es mit einigen weiteren Hitzköpfen fast bis Irkutsk verschlagen.«

»Donnerlüttchen«, seufzte der Handelsagent.

»Und nicht genug damit … 1870 kehrte er mit einem bescheidenen Sümmchen nach Warschau zurück. Ein halbes Jahr lang suchte er Beschäftigung, wobei er einen großen Bogen um den Gewürzhandel machte, der ihm bis heute zuwider ist. Bis er schließlich dank der Protektion seines heutigen Stellvertreters Rzecki Zugang fand zum Geschäft der Minclowa, die damals eben Witwe geworden war … ein Jahr später heiratete er das Weib, das ein gutes Stück älter war als er.«

»Gar nicht so dumm«, warf der Handelsagent ein.

»Gewiss. Auf einen Sitz hatte er sich eine Existenz und die Werkstatt verschafft, in der er für den Rest seines Lebens würde arbeiten können. Aber er hatte auch sein Kreuz mit dem Frauenzimmer.«

»Die Weiber verstehen sich darauf …«

»Und wie!«, bemerkte der Rat. »Aber schauen Sie nur, was für eine glückliche Fügung: Vor eineinhalb Jahren hat das Weibsbild etwas Falsches gegessen und ist gestorben. Nach vierjährigen Qualen war Wokulski wieder frei wie ein Vogel und hatte obendrein ein einträgliches Geschäft und 30000 Rubel Vermögen, für das sich zwei Generationen der Mincels krummgelegt hatten.«

»Ein Glückspilz.«

»Nicht ganz«, verbesserte der Rat, »er wusste sein Glück nicht zu schätzen. Ein anderer hätte an seiner Stelle ein anständiges Fräulein geheiratet und ein Leben im Wohlstand geführt, ein Geschäft mit einem guten Ruf an einer perfekten Adresse – Ihnen muss ich das ja nicht erklären. Dieser Wahnsinnige aber wirft alles hin und fährt drauflos, um Kriegsgeschäfte zu machen. Millionen will er scheffeln, auf Teufel komm raus.«

»Vielleicht gelingt es ihm«, bemerkte der Agent.

»Ach«, schnaubte der Rat. »Józio, bring noch ein Bier. Glauben Sie, er...


Quinkenstein, Lothar
Lothar Quinkenstein ist Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer aus dem Polnischen. Er übersetzte u. a.: Henryk Grynberg, »Flüchtlinge«; Ludwik Hering, »Spuren«; Wladyslaw Panas, »Das Auge des Zaddik«. 2017 wurde er mit dem Jablonowski-Preis ausgezeichnet; im selben Jahr erhielt er den Spiegelungen-Preis für Lyrik. 2019 erschien bei edition.fotoTAPETA sein zweiter Roman: »Souterrain«.
Nach Ludwik Hirszfelds »Geschichte eines Lebens« ist Olga Tokarczuks Roman »Die Jakobsbücher« die zweite gemeinsame Übersetzungsarbeit von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein.

Prus, Boleslaw
BOLESLAW PRUS, geboren 1847 in Hrubieszów als Aleksander Glowacki, gestorben 1912 in Warschau, zählt zu den wichtigsten Schriftstellern des polnischen Realismus. Er wuchs in einer verarmten Adelsfamilie auf, schloss sich 1863 den Januaraufständischen an und geriet in Gefangenschaft. Nach der Freilassung studierte er Mathematik und Physik an der Universität Warschau, arbeitete jahrzehntelang erfolgreich als Journalist und sah sich den Warschauer Positivisten verpflichtet. Nebst »Die Puppe« (»Lalka«; 1887–89) hinterließ er drei weitere große Romane, darunter »Der Pharao« (»Faraon«, 1897).

Tokarczuk, Olga
Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Palmes, Lisa
Lisa Palmes übersetzt seit elf Jahren Literatur aus dem Polnischen. Einige ihrer wichtigsten Übersetzungen sind: Wojciech Jagielski, »Wanderer der Nacht«; Joanna Bator, »Dunkel, fast Nacht«; Jacek Leociak, »Text und Holocaust«. »Die Erfahrung des Ghettos in Zeugnissen und literarischen Entwürfen«. 2017 erhielt sie den Karl-Dedecius-Preis für deutsche Übersetzer polnischer Literatur. 2019 wurde sie für ihre Übersetzung von Filip Springers Reportageroman »Kupferberg«. »Die verschwundene Stadt« gemeinsam mit dem Autor mit einem Doppelpreis des Riesengebirge-Literaturpreises ausgezeichnet.



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