Familiensinn
Mellowhorn Home war ein weiträumiges einstöckiges Blockhaus im sogenannten Westernstil – »indianisch« geometrisch gemusterte Möbelbezüge und mit Wildlederfransen herausgeputzte Lampenschirme. An den Wänden hingen Mr. Mellowhorns präparierte Maultierhirschköpfe und eine Zweimannschrotsäge.
Zu dieser Jahreszeit wurde Berenice Pann bewusst, dass die Erde der Dunkelheit entgegenging; keine gute Zeit, dachte sie sich, um eine neue Stelle anzutreten, vor allem eine so deprimierende Stelle wie die, sich um alte Rancherwitwen zu kümmern. Aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte. Im Mellowhorn-Altersheim waren Männer rar und bei den Frauen so gefragt, dass sie Berenice leidtaten. Sie hatte gedacht, der Sexualtrieb lasse im Alter nach, doch die alten Krähen kämpften um die Aufmerksamkeit paralysierter Opas mit wabbeligen, zitternden Armen. Die Männer hatten die Wahl zwischen formlosen Morgenmänteln und geblümten Vogelscheuchen.
Drei verstorbene und ausgestopfte Mellowhorn-Hunde waren an strategischen Wachpositionen aufgestellt: nahe der Eingangstür, am Fuß der Treppe und neben der rustikalen Bar aus alten Zaunpfosten. Auf Schildchen waren wie zum Beweis der Kunstfertigkeit des Brandmalers ihre Namen verewigt: Joker, Bugs und Henry. Wenigstens, dachte Berenice, die Henry den Kopf tätschelte, hatte man von dem Heim aus einen Blick auf die Berge ringsum. Es hatte den ganzenTag geregnet, und in der sich verdichtenden Dämmerung sahen die Bartgrasbüschel wie gebleichtes Haar aus. An einem alten Bewässerungsgraben bildeten Weiden eine unregelmäßige Linie in düsterem Dunkelbraun, und der Viehteich am Fuß des Hügels war so glatt wie Zink. Berenice trat an ein anderes Fenster, um zu sehen, welches Wetter bevorstand. Im Nordwesten trieb ein milchig weißer, frostiger Keil am Himmel Regen vor sich her. An dem Fenster des Gemeinschaftsraums saß ein alter Mann und starrte in das graue Herbstwetter hinaus. Berenice wusste seinen Namen, wie sie die Namen aller Heimbewohner wusste: Ray Forkenbrock.
»Kann ich was für Sie tun, Mr. Forkenbrock?« Sie hielt sich etwas darauf zugute, die Heiminsassen mit den entsprechenden Ehrentiteln anzusprechen, was die übrige Belegschaft nicht tat, die mit Vornamen um sich warf, als hätten sie mit den alten Leuten Säue gehütet. Deb Slaver war geradezu maßlos anbiedernd mit ihrem verschwenderischen Gebrauch von »Sammy«, »Rita« und »Delia«, interpungiert mit »Schatzi«, »Herzchen« und »Putzi«.
»Klar«, sagte er. Er machte lange Pausen zwischen den Sätzen, fügte die Wörter so bedächtig aneinander, dass Berenice ihm am liebsten mit Vorschlägen auf die Sprünge geholfen hätte.
»Bringen Sie mich hier raus«, sagte er.
»Geben Sie mir ein Pferd«, sagte er.
»Machen Sie mich siebzig Jahre jünger«, sagte Mr. Forkenbrock.
»Das kann ich leider nicht, aber ich kann Ihnen eine schöne Tasse Tee holen. Und in zehn Minuten ist Gemeinschaftsstunde«, sagte sie.
Sein Blick war schwer zu ertragen. Trotz des gewöhnlichen Gesichts mit den eingefallenen Lippen und dem faltigen Hals bot er einen ungewöhnlichen Anblick. Es lag an den Augen. Sie waren sehr groß, weit geöffnet und von hellstem Hellblau, der Farbe von Eissplittern, einem unmerklichen Blau mit Kristallstrahlen. Auf Fotos waren sie so weiß wie die Augen römischer Statuen, sah man von dem starren Blick der kleinen, dunklen Pupillen ab. Wenn er einen ansah, dachte Berenice, vergaß man darauf zu achten, was er sagte, weil man von den sonderbaren weißen Augen so fasziniert war. Sie mochte ihn nicht, tat aber so. Frauen mussten so tun, als hätten sie Männer gern und bewunderten, was sie taten. Ihre eigene Schwester hatte einen Mann geheiratet, der sich für Felsgestein interessierte, und musste sich jetzt mit ihm durch Wüsten und steile Berge hinauf quälen.
Zur Gemeinschaftsstunde gab es für die Heimbewohner Drinks und Cracker mit Käsecreme aus dem Super-Wal-Mart, wo die Köchin einkaufte. Sie waren durch die Bank Schnapsdrosseln, mit besonderer Vorliebe für die Whiskeyflasche. Chauncey Mellowhorn, der das Mellowhorn-Altersheim gebaut und die Heimregeln bestimmt hatte, war der Ansicht, dass die letzten dämmerigen Jahre genossen werden sollten, und propagierte Rauchen, Trinken, Schmuddelfernsehen und billiges Essen in Hülle und Fülle. Weder Abstinenzler noch Frömmler verbrachten ihren Lebensabend im Mellowhorn Home.
Ray Forkenbrock schwieg. Berenice fand, dass er traurig aussah, und wollte ihn aufheitern.
»Was haben Sie früher gemacht, Mr. Forkenbrock? Waren Sie Rancher?«
Der alte Mann bedachte sie mit einem zornigen Blick. »Nein«, sagte er.
»Ich war kein Scheißrancher. Ich war Rancharbeiter. Ich habe für die Scheißkerle gearbeitet. Als Cowboy, wilde Pferde eingeritten, Rodeo, auf dem Ölfeld, Schafe geschoren, Lastwagen gefahren, was anfiel«, sagte er.
»Und hatte am Ende keinen Cent. Jetzt bezahlt der Ehemann meiner Enkelin dafür, dass ich in diesem Hühnerstall voller alter Weiber hocke«, sagte er. Oft wünschte er, er wäre draußen in einem Unwetter gestorben, allein und ohne jemandem zur Last zu fallen.
Berenice sprach in bemüht munterem Ton weiter. »Ich habe seit der Highschool auch alle möglichen Jobs gehabt«, sagte sie. »Kellnerin,Tagespflegerin, Putzfrau, Regalauffüllerin, solche Sachen.« Sie war mit Chad Grills verlobt; sie wollten im Frühjahr heiraten, und Berenice wollte nur noch eine Zeitlang arbeiten, um Chads Gehalt bei Red Bank Power aufzubessern. Doch bevor der alte Mann etwas erwidern konnte, kam Deb Slaver geräuschvoll herein, ein Glas in der Hand. Berenice konnte den dunklen Whiskey riechen. Debs laute Stimme drang stoßweise aus ihrer üppigen Brust.
»Bitte sehr, mein Süßer! Ein kleiner Drink für unseren Ray!«, sagte sie. »Kommen Sie weg von dem hässlichen dunklen Fenster und amüsieren Sie sich!« Sie sagte: »Hätten Sie Lust, mit unserem Mehlgesicht die Sendung Cops anzuschauen?« (Mehlgesicht war Debs Spitzname für eine angemalte alte Vettel mit haselnussbraunen Fingerknöcheln und bräunlichen Zähnen.) »Oder ist Ihnen heute einfach danach zumute, aus dem Fenster zu schauen und ein bisschen Trübsal zu blasen? Haben Sie etwa Sorgen? Ihr alten Leutchen wisst doch gar nicht, was Sorgen sind; ihr sitzt hier gemütlich mit einem schönen Glas Whiskey und schaut Fernsehen«, sagte sie.
Sie knuffte die Kissen auf dem Sofa. »Sorgen haben wir anderen – Rechnungen, untreue Ehemänner, freche Kinder, kaputte Füße«, sagte sie. »Unsereins muss das Geld für die Winterreifen zusammenkratzen. Mein Mann sagt immer, die Hexe mit den grünen Zähnen würde uns das Leben schwermachen«, sagte sie. »Kommen Sie, ich setze mich ein bisschen zu Ihnen und Mehlgesicht«, und mit diesen Worten zog sie Mr. Forkenbrock an seinem Pullover hoch, verfrachtete ihn auf das Sofa und setzte sich neben ihn.
Berenice ging in die Küche, um der Köchin zu helfen, die gerade Truthahnfrikadellen auf die Arbeitsfläche klatschte. Auf der Fensterbank flüsterte ein Radio.
»Sieht aus, als würde es aufklaren«, sagte Berenice. Sie fürchtete sich etwas vor der Köchin.
»Oh, gut, dass du kommst. Hol mir doch mal die Fritten aus dem Tiefkühlfach«, sagte die Köchin. »Dachte schon, ich dürfte alles allein machen. Deb sollte mir helfen, aber die macht lieber den alten Knackern schöne Augen. Denkt, sie würden ihr dann was vererben. Einige haben ja ein bisschen Land oder Ölaktien, von denen sie leben«, sagte sie. »Kennst du ihren Ehemann Duck Slaver?« Inzwischen raspelte sie Weißkohl in eine Edelstahlschüssel.
Berenice wusste nur, dass Duck Slaver für Ricochet Towing einen Abschleppwagen fuhr. Plötzlich fiel der Blick der Köchin auf das Radio, und sie stellte es lauter und erfuhr, dass es am nächsten Tag bedeckt sein würde, stellenweise klar, und am übernächsten Tag windig mit Schneeschauern.
»Wir sollten dankbar sein, dass es bei dieser Trockenheit regnet. Weißt du, was Bench sagt?« Bench war der UPS-Fahrer und für die Köchin ein unerschöpflicher Wissensborn, vom Zustand der Straßen bis zu Familienkrächen.
»Nein.«
»Sagt, wir wären kurz davor, dass hier alles Wüste wird.Wird alles weggeweht«, sagte sie.
Als Berenice in den Aufenthaltsraum ging, um das Abendessen anzukündigen – Truthahnburger, Pommes frites (die Mr. Mellowhorn noch immer hartnäckig »Freiheitsfritten« nannte), Bratensauce, Preiselbeerkompott, Mais mit Sahne und frischgebackene Brötchen -, sah sie, dass Deb Mr. Forkenbrock in die Ecke des Sofas gedrängt hatte und dass Mehlgesicht auf dem Sessel mit dem kaputten Bein saß und zusah, wie Polizisten Schwarze mit dem Gesicht auf den Gehsteig knallten. Mr. Forkenbrock starrte auf das dunkle Fenster, in dessen herabrinnenden Regentropfen sich das bläuliche Flackern des Fernsehers spiegelte. Er wirkte sehr allein. Deb und Mehlgesicht hätten genauso gut zwei ausgestopfte Hunde sein können.
Nach dem Abendessen riss Berenice auf dem Weg zur Küche die Tür auf und atmete tief die frische Luft ein. Die östliche Hälfte des Himmels war sternenübersät, die westliche schwarz wie Basalt.
In der morgendlichen Dunkelheit setzte der Regen wieder ein. Ray Forkenbrock kannte die Worte des Dichters nicht, hätte sie aber verstanden: »Ich erwache und fühle die Finsternis kommen, nicht den Tag.« Nichts kam ihm in der Natur hinterhältiger vor als dieses unsichtbare Anschleichen des Wetters, die unförmige Wolke, die sich unter dem Deckmantel der Dunkelheit heranpirschte. Als der Morgen schwach wie ein...