E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Prokop Null minus unendlich
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-360-50071-7
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Phantastische Geschichten
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
ISBN: 978-3-360-50071-7
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was geschieht, wenn eine unglaubliche Erfindung in falsche Hände gerät, wenn auf der Rückreise vom Mars zwei Astronauten ihre Liebe zueinander entdecken, wenn sich ein legendärer Geheimdienstchef plötzlich wie ein Tölpel benimmt ...? Was passiert, wenn ein Potentat durch einen Staatsstreich unverhofft mit der rauhen Wirklichkeit seines Landes konfrontiert wird ...?
Fragen, auf die Gert Prokop (1932 -1994) in vierzehn spannenden, kurzweiligen Erzählungen, die im Weltraum oder auf unserer Erde spielen, verblüffende, hintergründige, ernste oder vergnügliche Antworten gegeben hat.
Autoren/Hrsg.
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Null minus unendlich »Sie haben es gut«, seufzte Bärliman, »Sie können noch Auto fahren.« »Ja.« Sredzki nickte ein wenig und lächelte bescheiden, wie er es immer gegenüber einem Vorgesetzten tat. Ich fürchte, ich kann bald nicht mehr mit der Metro …« Bärliman sperrte den Mund auf, holte keuchend Luft, riß ein großes, in den hochmodischen Farben Altrosa und Lila gewürfeltes Taschentuch aus der Hosentasche und schneuzte sich kräftig. »Sie entschuldigen – das Mentadon.« Sredzki lächelte wieder, diesmal verständnisvoll und mitleidig. Er empfand wirklich Mitleid mit seinem Abteilungsleiter, er hatte selbst monatelang Mentadon genommen und kannte die Mühsal der unvermeidlichen Begleiterscheinungen, das ewige Schneuzen, Hüsteln, Tränen wischen. Ja, dachte er, Bärliman wird das Medikament ganz offensichtlich nicht mehr lange nehmen können. Die Intervalle zwischen seinen Schneuzanfällen wurden immer kleiner; er war schon nicht mehr in der Lage, einen kurzen Anruf des Direktors entgegenzunehmen, ohne zwei-, dreimal um Unterbrechung zu bitten und sein Taschentuch zu zücken. »Und dann?« Bärliman blickte Sredzki an, als läge bei ihm all seine Hoffnung. »Wenn ich die Metro nicht mehr benutzen kann? Glauben Sie, ich komme in die Kategorie S-1? Mir würde ja schon die S-2 genügen, ein Taxi zum Bahnhof, aber …« Bärliman schüttelte traurig den Kopf, sehneuzte sich erneut. »Was dann werden soll …« Er sah Sredzki aus seinen rotunterlaufenen Augen an. »Sie sind ein Glückspilz, Sredzki. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen.« Er verabschiedete sich mit einem müden Lächeln und ging mit hängenden Schultern in Richtung Ausgang, fädelte sich in den Strom der Angestellten ein, die dem Metro-Eingang neben dem Portal zustrebten. Armer Bärliman, dachte Sredzki. Er bedauerte seinen Chef, weniger, weil er seinen Posten verlieren würde, als wegen der Entzugsqualen, die ihm bevorstanden. Mit Schaudern erinnerte er sich an die Wochen, da er das Mentadon absetzen mußte, an die Todesangst, die ihn gepackt hatte, ihn drei Wochen lang keine Nacht schlafen ließ, eine alles verschlingende Angst, die ihn zu zerreißen, zu zerquetschen drohte, dazu unentwegt Schweißausbrüche, Muskelzittern, Krämpfe, Herzrasen. Und Halluzinationen: Stühle und Tische schienen sich zu bewegen, der Fußboden wölbte sich, die Zimmerwände blähten sich auf, rückten mit peristaltischen Wellen näher und näher, bis er verzweifelt die Augenlider zusammenpreßte … Er hatte die Wohnung nicht mehr verlassen können, weil die Fassaden auf ihn zuzukriechen, die Straßen zu schmalen Schluchten zu werden schienen, die ihn zu zerdrücken drohten. Er fand sich wie ein verendendes Tier auf dem Fußboden: schreiend und spuckend, suchte unter den Möbeln nach einer heruntergefallenen Mentadon-Tablette, verabschiedete sich jeden Morgen von Marianne, als würde er sie nie wiedersehen, glaubte tatsächlich, jede Minute sterben zu müssen … Bärliman war wirklich nicht zu beneiden. Sredzki sah ihm nach, bis sein Kopf in der Masse untertauchte. Glückspilz? dachte er dann. Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige, Herr Kollege! Dann erschrak Sredzki. Wenn Bärliman demnächst unfähig war, ins Institut zu kommen, ob man dann ihn zum Abteilungsleiter machen würde? Er war der Dienstälteste. Und wenn, dachte er, wie sollte er sich verhalten? Eine Beförderung lehnt man nicht ab. Nicht, ohne sich tausend Fragen oder unausgesprochenen Verdächtigungen auszusetzen: Was gab es da, das den so Ausgezeichneten zur Ablehnung zwang? Eine verschwiegene Krankheit? Wußte der Vorgesehene, daß er den Posten nicht ausfüllen könnte? Und warum hatte das Direktorium nichts davon erfahren? Was war falsch in den Daten des Beförderungsunwilligen? Also erneute Sicherheitsüberprüfung, mehr oder weniger diskrete Erkundigungen der Personalabteilung bei den Kollegen, den Nachbarn, den Ärzten … Wenn er jedoch den Posten annahm, hatte er überhaupt keine Zeit mehr. Er mußte sofort vorbeugen, sagte sich Sredzki. Morgen bereits würde er Plögel seine Idee für die Lösung der Krabol-Konstruktion unterschieben, so unauffallig, daß Plögel sie für seine eigene Idee halten und einreichen konnte. Sredzki schmunzelte. Plögel wäre ein guter Nachfolger für Bärliman. Er würde nicht wagen, Sredzki zu beaufsichtigen, dann könnte er auch tagsüber ungeniert an dem tectabel arbeiten, nicht nur heimlich während der Pausen oder in den Viertelstunden, die er abends Marianne unter dem Vorwand abhandelte, er habe noch etwas Dienstliches zu erledigen – nicht länger müßte er ihr Gequengel ertragen, früher habe er seine Arbeit immer in der Dienstzeit geschafft. Sredzki ging die Treppe hinunter zur dritten Etage der Tiefgarage. Er nahm nie den Lift. Er hatte Angst, wieder einen Anfall zu bekommen, unterließ jede nur vermeidbare Fahrt in einem Lift. Nicht nur er. Zur Rush-hour wälzten sich ganze Ströme die engen Treppenhäuser hinauf oder hinunter; niemand hatte Lust, Probrabenzol mit seinen sattsam bekannten Nebenwirkungen zu schlucken, und Probrabenzol war noch immer das einzige Mittel gegen die Liftomanie. Liftomanie, Metrophobie, Parkplatzsyndrom, Schlangensyndrom, Massenphobie, Klaustrophobie, Agoraphobie … die Mediziner hatten viele Namen dafür, doch im Grunde war es immer dasselbe: Angustiase1. Aber er war jetzt gefeit, dachte Sredzki, während er die Stufen hinunterstieg, wenigstens gegen das Parkplatzsyndrom und damit gegen die Metrophobie. Er legte zufrieden die Hand auf die Jackentasche und spürte das Gefühl der Erleichterung, das jedesmal seinen ganzen Körper durchströmte, wenn er das tectabel unter den Fingern spürte … 0 ja, er konnte getrost in sein Auto steigen. Mit dem Hochgefühl eines Anfängers, der die Ängste des Parkplatzsyndroms noch nicht kannte. Und nie mehr mußte er mit der Metro fahren … Sredzki erinnerte sich nur mit Schaudern an die Metrofahrten, dieses Körper-an-Körper-Stehen oder, noch schlimmer, an die rücksichtslose, professionelle Gewalttätigkeit, mit der die Metrobeamten arbeiteten, Hände, Ellenbogen, Schultern, Rücken einsetzten, um noch ein paar Fahrgäste in den Waggon zu pressen, weil selbst die Halb-Minuten-Zugfolge den Ansturm nicht mehr bewältigen konnte. War es ein Wunder, daß Leute, die täglich mit der Metro fahren mußten, ein klaustrophobisches Syndrom befiel? Platzangst, die man nur mit Mentadon unter Kontrolle bekam, und spätestens nach drei Monaten begann dann das Schneuzen. Aber man mußte schließlich zur Arbeit fahren. Oder einkaufen, und dann lauerte die sogenannte Supermarktomanie, und eines Tages, wenn man irgendwo in einer der endlosen Schlangen stand, schlug man plötzlich wild um sich, schrie zum Gotterbarmen, Schaum vor dem Mund, warf die Waren aus dem Einkaufswagen, und die Ordner des Supermarktes hatten Mühe, den »Akuten« zu bändigen, in eine Zwangsjacke zu stopfen. Supermarkt, Metro, Lift … es gab tausend Gelegenheiten, bei denen die Angustiase zuschlagen konnte, beim Warten vor einer Amtsstube, in den überfüllten Reisezügen, sogar im Urlaub – selbst bei strahlendblauem Himmel und einer erfrischenden Brise, die einem die Illusion verschaffte, frische Luft zu atmen, war man nie sicher, daß man nicht unversehens explodierte, sobald ein anderer einem zu nahe auf den Pelz rückte, zum Beispiel seine Decke näher als zehn Zentimeter an die eigene heranschob oder einnickte und im Schlaf unkontrolliert ein Bein herüberstreckte. Überall Enge, und man konnte höchstens die Symptome bekämpfen, die Empfindlichkeit des Erkrankten herabsetzen, seine Reizschwellen mit Drogen erhöhen, nicht aber die Ursachen beseitigen. Die Erde war nun einmal rettungslos übervölkert, und niemand machte sich noch Hoffnung, daß die drastischen Antibabygesetze Abhilfe verschaffen könnten, seit immer häufiger gemeldet wurde, daß wieder irgendwo ein Landstrich aufgegeben werden mußte, weil er auf die eine oder andere Weise verseucht war. Und am schlimmsten war die Enge in den Städten, die immer mehr ausuferten, Krebsgeschwüre aus Beton, die sich auftürmten und tief in die Erde gruben: höher, tiefer, weiter. In dem neuen Komplex sollte die Zahl der Etagen schon von minus siebzig bis plus hundertzehn reichen, und die Wohneinheiten sollten noch kleiner sein: Rückt zusammen, andere wollen auch ein Dach über dem Kopf, denkt an die Not der Flüchtlinge, übt Solidarität … Das Allerschlimmste jedoch waren die Verkehrsmittel. Sredzki schmunzelte zufrieden, als er die Tür seines Minicars aufschloß. Wenigstens dieses Problem hatte er nie mehr. Er konnte getrost einsteigen, ohne befürchten zu müssen, daß ihn dann das Parkplatzsyndrom überfiel: Schweißausbrüche, Muskelkrämpfe, Nervenzuckungen, Hautzittern – wohin immer er wollte, er konnte sein Minicar benutzen, ohne bereits beim Starten von der Angst geplagt zu werden, wo er dann das Auto abstellen sollte; er mußte nicht jeden Abend mit wachsender Verzweiflung seinen Block umkreisen, mit abgeschnürter Kehle und ausgedörrtem Mund nach einem Parkplatz Ausschau halten, mit immer höher aufschaukelnder Angst, nie und nirgends einen Platz zu finden, immer und ewig in dieser engen Blechbüchse eingesperrt zu bleiben. Er war für alle Zeiten gegen das Parkplatzsyndrom gefeit und mußte nie mehr zum Mentadon greifen, und wenn er eines Tages noch herausbekam, wie das tectabel funktionierte, war er aller Sorgen ledig. Aller. Diese Idioten beim Patentamt! War es nicht gleichgültig, warum etwas funktionierte, wenn es nur funktionierte? Wenn...