E-Book, Deutsch, 122 Seiten
Prölß Bedürfnisorientierte Therapie in Theorie und Praxis
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7534-8827-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 122 Seiten
ISBN: 978-3-7534-8827-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wir alle kennen diese Situation: Man liegt gemütlich auf der Couch und auf einmal tritt ein Hungergefühl auf. Dieses kann man anfangs vielleicht noch unterdrücken, doch irgendwann wird es so stark, dass man aufsteht und sich etwas Süßes aus dem Schrank holt. Körperliche Bedürfnisse wie Hunger, Durst oder Schlaf sind den Menschen bestens bekannt. Aber wie steht es mit den psychischen Grundbedürfnissen, wie dem Bedürfnis nach Zuwendung. Auch hier werden handlungsaktivierende Maßnahmen ergriffen, um ein Defizit zu beheben. Besonders bei Kindern und Jugendlichen können diese Defizite im Bereich der psychischen Bedürfnisse zu Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressionen führen. Dieses Buch soll einen wissenschaftlichen Überblick über die psychischen Grundbedürfnisse bieten, wie sich Defizite in diesen Bereichen im Verhalten und Erleben äußern und vor allem wie man diese Bedürfnisse im therapeutischen und pädagogischen Setting optimal fördern kann, um damit Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Störungen vorzubeugen.
Dr. phil. Alexander Prölß studierte Psychologie mit schul-psychologischem Schwerpunkt sowie Lehramt an Grundschulen an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Anschließend arbeitete er als Lehrer in den Klassenstufen 1 bis 9 sowie als Staatlicher Schulpsychologe am Schulamt Straubing-Bogen sowie am Schulamt Wunsiedel im Fichtelgebirge. Er promovierte berufsbegleitend an der Technischen Universität Kaiserslautern (Fachbereich Sozialwissenschaften; Lehrstuhl Kognitive und Entwicklungspsychologie). Aktuell ist er koordinierender Beratungsrektor für Psychologie an den Schulämtern Bayreuth mit den Aufgabengebieten psychologische Diagnostik und Beratung, Notfallpsychologie und Lehrergesundheit. Zudem besitzt er die Heilerlaubnis beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie (nach dem Heilpraktikergesetz) mit dem Schwerpunkt tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Dr. Alexander Prölß hält bundesweit Vorträge und Fortbildungen, vor allem zu den Themenbereichen Hochbegabungsdiagnostik und -förderung, aggressive Verhaltensweisen, Emotionsregulations- und Angststörungen. Zudem ist er Autor von zahlreichen Fachartikeln und Büchern. Ferner ist er seit vielen Jahren Lehrbeauftragter für Pädagogische Psychologie, Klinische Psychologie und Psychologische Diagnostik u. a. an der Technischen Universität Kaiserslautern, Fernhochschule DIPLOMA und am Institut de Formation de l' Education Nationale (Luxemburg). Nähere Informationen: www.alexander-proelss.de
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3. Die Diagnostik der psychischen Grundbedürfnisse
„Ich bin nur ein Nachtwächter auf dunklen Straßen. Ich kenne die Häuser, an denen ich vorübergehe, aber ich weiß nicht, was in ihnen vorgeht.“ Joseph Lieutand (1703-1780), Leibarzt von König Ludwig XIV So ähnlich wie es seiner Zeit Joseph Lieutand mit seinem Patienten König Ludwig XIV. ging, glauben auch heute noch viele Personen daran, dass psychische Vorgänge im Menschen nur schwer zu begreifen sind. Man kann das Verhalten einer Person beobachten, beschreiben oder auch messen, aber intrapersonelle Vorgänge sind nur schwer zu fassen. Mittlerweile hat sich das Gebiet der psychologischen Diagnostik zu einer eigenständigen Disziplin innerhalb der Psychologie entwickelt und verfügt über zahlreiche, wissenschaftlich fundierte Verfahren für die Erfassung von Verhaltensweisen, aber auch von inneren Vorgängen des Menschen. Leider ist es ein Phänomen der heutigen Zeit, dass man alles – ob es sinnvoll ist oder nicht – empirisch erfassen möchte. Dass zuerst die Beobachtung stehen sollte, wird heutzutage sehr häufig bewusst übergangen. Diese „Testeritis“ ist mittlerweile zu einem feststehenden Begriff in der Psychologie, aber leider auch in der Pädagogik und Medizin geworden. Eine große deutsche Zeitung beschrieb dieses Phänomen einmal wie folgt: „Die Testeritis [im Zuge der PISA-Studie], die auch in Deutschland droht, dürfte weit größere Ausmaße erreichen als die Einübung der Mengenlehre im Familienverbund, für die Zehntausende von Eltern viel Zeit und Geld, oft sogar den Frohsinn ihrer Kinder opferten.“3 Standardisierte Testverfahren sind ein wichtiger Bestandteil in allen wissenschaftlichen Disziplinen, um objektive und valide (Forschungs- bzw.) Testergebnisse zu erhalten, aber man sollte dennoch – vor allem, wenn man mit Kindern, Jugendlichen aber auch erwachsenen Klienten arbeitet – nicht die „diagnostischen Basics“ vergessen. Meines Erachtens sollte vor der Anwendung von jeglichen Testverfahren (1) ein offenes, wertschätzendes, strukturiertes und umfangreiches Gespräch (Exploration und Anamnese) mit dem Klienten geführt werden, was gerade bei vielen niedergelassenen Psychiatern häufig sehr rudimentär bzw. stiefmütterlich geführt wird. Anschließend muss dessen Verhalten (2) in konkreten Situationen, wie z. B. zu Hause oder im Klassenzimmer, beobachtet werden und erst an dritter Stelle sollte die diagnostische Abklärung (3) erfolgen. Wie ist diese Reihung zu erklären? Man erlebt es in der Praxis leider immer häufiger, dass Kolleginnen und Kollegen sich keine Zeit mehr für ein ausführliches Gespräch (oder gar eine Verhaltensbeobachtung) nehmen und sich nur noch auf den Einsatz der Testverfahren fokussieren. So hört man manchmal, dass eine Angststörungsabklärung nicht erfolgen kann, weil das entsprechende Diagnostikum fehlt. Die Vernachlässigung des klinischen Eindrucks sowie das hypnotische Starren auf T-Werte und Prozentränge wird den Klienten mit ihrer vielfältigen Persönlichkeitsstruktur nicht gerecht und sorgt zudem dafür, dass die individuelle Findigkeit sowie die psychologische Kombinationsgabe des Diagnostikers verloren gehen. Wichtige Parameter und personelle Ressourcen des Gegenübers können dabei leicht übersehen werden. Diese starre Fixation auf Normen und Vorgaben ist auch ein Phänomen, das bei der Diagnosestellung nach der „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“, kurz ICD-10 (Dilling & Freyberger, 2019) zu beobachten ist. Hier müssen Patienten eine ganze Reihe an körperlichen, emotionalen oder kognitiven Symptomen zeigen bzw. erfüllen, um eine Diagnose zu erhalten. So müssen bspw. bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung folgende Symptome gegeben sein: Immer wieder aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das Trauma (Intrusionen) oder Erinnerungslücken (Bilder, Alpträume, Flashbacks, partielle Amnesie), Auftreten von Übererregungssymptomen (Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit, Affektintoleranz, Konzentrationsstörungen), Vermeidungsverhalten (Vermeidung traumaassoziierter Stimuli) und emotionale Taubheit (allgemeiner Rückzug, Interessenverlust, innere Teilnahmslosigkeit). Diese Kriterien müssen erfüllt sein, damit der Klient therapeutisch behandelt werden kann. Ob das immer sinnvoll ist, wird an einer anderen Stelle diskutiert (siehe Kapitel „Ab wann ist eine Therapie erfolgreich?“). In diesem Zusammenhang ist es immer wieder bewundernswert, wie Psychologen der alten Schule innerhalb eines stellenweise nur halbstündigen Gespräches eine doch sehr valide Diagnose erstellen können und das ohne Anwendung eines standardisierten Testes. Es wäre doch sehr schade für den Berufsstand der Psychologen, wenn diese Kompetenzen zunehmend verloren gingen. Bei sämtlichen psychologischen und pädagogischen Fragestellungen bietet sich das folgende Schema an, das man ebenso zur diagnostischen Erfassung der psychischen Grundbedürfnisse verwenden kann (siehe Abb. 4). Abb. 4.: Diagnostischer Prozess für die Ermittlung von Defiziten bei den psychischen Grundbedürfnissen. So sollten beim Erstgespräch mit den Eltern oder dem Klienten selbst eine Anamneseerhebung (= eine Erkundung der medizinischen Vorgeschichte) sowie eine Explorationsbefragung (= eine Erkundung des Umfeldes des Klienten) durchgeführt werden. Diese Art der Gesprächsführung am Anfang des diagnostischen Prozesses ist sehr wichtig, weil sie zugleich den ersten Schritt in die therapeutische Arbeit (Herstellung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Klienten, Eltern und Diagnostiker) darstellt. Außerdem dient sie der Gewinnung wichtiger Informationen über die Familiengeschichte, Vorerkrankungen oder die aktuelle Problemsituation zu Hause oder im Beruf, die bei der Entstehung bzw. Aufrechterhaltung der Problematik maßgeblich sein können. Bereits vor, aber spätestens nach dem Erstkontakt sollte – besonders bei Kindern und Jugendlichen – eine Dokumentenanalyse stattfinden. Sie bietet neben dem Gespräch wichtige Anhaltspunkte für das Problemverhalten, etwaige Ursachen sowie weitere ungünstige bzw. günstige Einflussfaktoren. So kann das Heft der Vorsorgeuntersuchungen bei Klein-und Vorschulkindern Rückschlüsse auf etwaige Bedürfnisdefizite offenbaren, wie bspw. einen psychosozialen Minderwuchs, der auf eine schwere emotionale Deprivation im Kindesalter hindeutet (Steinhausen, 2019). Das wiederum würde auf eine Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach Bindung hindeuten. Bei Schulkindern und Jugendlichen bietet sich zudem der Blick in die Schulzeugnisse an, die neben einem Überblick über die aktuellen schulischen Leistungen auch Eindrücke über das Sozial- und Lernverhalten des Schülers im Kontext Schule vermitteln. Ebenfalls interessant sind alle Unterlagen aus dem Bereich der Fördereinrichtungen (z. B. Frühförderung), therapeutische Einrichtungen (z. B. Ergotherapie) oder medizinische Unterlagen von Ärzten und Psychiatern. Zudem sollte im weiteren Verlauf immer eine Verhaltensbeobachtung erfolgen. Diese kann im Einzelsetting (z. B. in der Testsituation oder beim Gespräch) bzw. in einer Gruppe (Kindergartengruppe, Schulklasse) durchgeführt werden. Außerdem muss man sich im Vorfeld überlegen, ob diese Beobachtung verdeckt oder offen durchgeführt wird (Der Klient weiß bzw. weiß nicht, dass er beobachtet wird.). Bei der Verhaltensbeobachtung sollte vor allem darauf geachtet werden, wie der Klient mit seinem Gegenüber (Therapeuten, Kollegen, Partner, Freunden) in Interaktion tritt. Ist er in der Lage, eine (therapeutische) Beziehung einzugehen bzw. sich darauf einzulassen? Ist er dem Therapeuten verbal/körperlich zugewandt? Kann er Blickkontakt halten oder ist er sehr verunsichert? Hält er sich an Absprachen/Regeln und fordert diese sogar ein? Äußert er durch sein Verhalten, dass er sich im aktuellen Kontext wohl fühlt/unwohl fühlt? Die Verhaltensbeobachtung ist eine nicht zu unterschätzende diagnostische Maßnahme im klinischen, aber auch im pädagogischen Kontext. Neben der Beobachtung im Einzelsetting sind die Erkenntnisse der Eindrücke in Gruppen und der dazugehörigen Interaktionen ein wichtiger Ansatzpunkt für die Ursachengenese und spätere Interventionen. Bedauerlicherweise gibt es nur wenige standardisierte Diagnostika, die sich schwerpunktmäßig mit der Erfassung psychischer Grundbedürfnisse befassen. Eines der wenigen Testverfahren ist der „Fragenbogen zur Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse bei Kindern und Jugendlichen“ (GBKJ; Borg-Laufs, 2016). Mit diesem Verfahren kann der Diagnostiker über Selbst- oder Fremdbeurteilung die Befriedigung der vier psychischen Grundbedürfnisse über 14 bipolare, siebenstufige Skalen...