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E-Book, Deutsch, 103 Seiten
Prisching Transitionen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-9352-0
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine kleine Typologie der Übergänge
E-Book, Deutsch, 103 Seiten
ISBN: 978-3-7799-9352-0
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Manfred Prisching, Jg. 1950, Mag. rer. soc. oec., Dr. jur., ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Graz.
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1Einleitung
Transitionen – das sind Übergänge. Es ist ein Konzept, das Veränderung in ihrer gerichteten, aber oft auch ambivalenten Gestalt begreifbar machen soll. Die Veränderung kann abrupt oder schleichend sein, wahrnehmbar oder hintergründig. Ein Objekt tritt vom ersten Zustand in den zweiten Zustand über.1 Der Übergang suggeriert einen Zustand des Vorher und des Nachher, eine Passage vom Nicht-mehr zum Noch-nicht.2
Wenn man den Begriff sozialwissenschaftlich fassen oder verwenden will, dann befindet man sich im Umkreis folgender Begriffe, die üblicherweise für solche Wandlungsprozesse verwendet werden: sozialer Wandel, Entwicklung, Veränderung oder Übergang, Modernisierung oder Industrialisierung, Fortschritt oder Niedergang, Dynamik und Umbruch, Reform oder Revolution, Pfadwechsel oder Pfadabhängigkeit, Evolution oder Innovation, Aufbruch oder Erneuerung, Krise oder Erosion, Trajektorie oder Transformation. Wenn es sich um eine großangelegte Veränderung handelt, kommen auch Begriffe wie Zeitenwende und Wendezeiten ins Spiel. Darüber hinaus lagert sich ein Vokabular an, von dem wir Einiges in der Folge zu besprechen haben: Revolution, Transformation, Paradigmenwandel, Umbruch, Disruption, Metamorphose und andere. Viele dieser Begriffe überlagern einander, mehr oder weniger.
Manche dieser Begriffe bergen in sich schon eine Vorentscheidung für die Hintergrundvermutung, mit der auf das Phänomen geschaut wird: Fortschritt ist kein neutraler Begriff, sondern verweist auf eine günstige Entwicklung, die allenfalls auch noch geschichtsmetaphysisch oder geschichtsgesetzlich unterlegt ist (Aron 1970; Burck 1963; Illich 1983). Modernisierung deutet auf Charakteristika der letzten Jahrhunderte (Flora 1974) und hat ebenfalls eine positive Konnotation: Sie ist mit technischer Entwicklung und sozialer Differenzierung verknüpft und wohl auch mit einer Verbesserung des Lebens, einer erhöhten Lebenserwartung und anderen schönen Attributen der Moderne. Beide Begriffe setzen sich vom Alten ab – das Vorherige ist mittelalterlich, überkommen, traditionell, abergläubisch, rückwärtsgewandt, anachronistisch, während die genannten Begriffe auf Kommendes verweisen und in die Zukunft drängen.
Wer solchen normativen Anklängen oder Vorentscheidungen entkommen will, kann beim allgemeinen Begriff des sozialen Wandels ansetzen, den William Fielding Ogburn 1922 eingeführt hat. Er ist eine neutrale Kategorie, und er kann für zahlreiche (unterschiedliche, auch widersprüchliche) Theorien verwendet werden (Ogburn und Duncan 1969). Der Begriff der historischen Prozesse ist ähnlich umfassend. Seit Jahrhunderten war bewusst, dass man über soziales Geschehen nicht sprechen kann, ohne den Wandel zur Kenntnis zu nehmen. Die Theorien sehen den Wandel als gerichtet oder kontingent an, er mag von Konflikten getrieben werden oder gleichgewichtig vonstattengehen, es mögen technologische, strukturelle oder kulturelle Faktoren in den Vordergrund gestellt werden, man mag ihn für weitgehend autonom oder gestaltbar halten (Zapf 1979; Strasser et al. 1979; Müller und Schmid 1995).
1.1Was sind Transitionen?
Transition ist also ein Übergang – vom Zustand?A in den Zustand?B.?Das kann schnell oder langsam vonstattengehen. Die Vorher-Nachher-Zustände lassen sich einigermaßen (vielleicht nicht genau) beschreiben, aber sie lassen sich voneinander unterscheiden. Es werden in einer Transition, wie durch den Begriff des Prozesses, Impulse der Wirklichkeit zu einem Sinnganzen zusammengefasst, sodass sich ein einheitlicher (nicht notwendig konsistenter, widerspruchsfreier oder homogener) Vorgang ergibt. Der Übergang von einer traditionellen zu einer industriellen Gesellschaft war eine Transition, so wie der Übergang von einer automobilen Gesellschaft auf der Basis von Verbrennungsmotoren zu jener auf der Basis von E-Autos als Transition betrachtet werden kann.
Die „Materien“ dieser Sinngebilde (die realen Substrate) gibt es in der Wirklichkeit, aber zu Sinngebilden werden sie, indem man die Mannigfaltigkeit von Einzelphänomenen selegiert, kombiniert und interpretiert. Ein Beispiel aus der Medizin: Es gibt Menschen, die sich schlecht fühlen, die Fieber haben und schwer zu atmen beginnen; man benötigt eine Untersuchung und eine Diagnose, sodass aus dem schlechten Befinden die Sinneinheit einer (infektiösen) „Krankheit“ wird; dann stellt man fest, dass viele Menschen von denselben Symptomen betroffen sind, und aus dieser Wahrnehmung lässt sich ableiten, dass es sich um eine Epidemie oder Pandemie handeln kann. Aus der Vielzahl von Körpersymptomen vieler Menschen werden also „Krankheitsbilder“ gestaltet, und aus dem vermehrten Auftreten dieser Zustände werden bestimmte Ursachen herausgefiltert, Verläufe beobachtet und Therapien ausprobiert. Aus einzelnen Phänomenen (im einfachsten Fall: aus einzelnen Sinneseindrücken) wird eine Transition konstruiert: in unserem Fall das Auftreten einer Pandemie. Schließlich kann man die „Pandemie als solche“ nicht sehen. Man kann „sehen“, dass jemand schwer atmet und schwitzt; aber die „Krankheit“ sieht man nicht und die Epidemie ist erst recht „unsichtbar“ (Prisching 2024a). Doch wir fügen gleich den Vorbehalt hinzu, dass man den Hinweis auf die Konstruiertheit solcher Phänomene nicht überziehen darf: Zum einen muss sich jede (wissenschaftliche) Konstruktion bequemen, Argumente und Informationen zu liefern, warum sie etwas auf welche Weise „konstruiert“; zum anderen kann man nicht beliebige Wirklichkeitsaspekte zu einem Sinnganzen zusammenfassen. Aus Christi Geburt, Napoleons Krieg und den Kiewer Rus wird man keine sinnvolle Sinneinheit oder kein „Transitionsbild“ basteln können.
Bei einem Prozess kann es sich allenfalls auch um ein Funktionieren im selben (gleichgewichtigen) Zustand, ohne Veränderung des Ganzen, handeln, um ein Prozedieren im Status-quo.3 Der Begriff der Transition schließt jedoch die Veränderung ein. Die Richtung einer Transition beruht nicht auf „Gesetzlichkeiten“, das wäre Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts, und doch kann die Veränderung „gerichtet“ sein. Die Transitionsrichtung ist aber in dem doppelten Sinn nicht zielbezogen, als man den erreichten Zustand weder auf frühere Zielbestrebungen noch auf Motivationslagen, die zum neuen Zustand geführt haben „müssen“, zurückführen können muss.
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Beispiel 1 aus der Geopolitik: Die neue geopolitische Konstellation (nach dem Ausbruch des Ukrainekrieges) hat niemand angestrebt, sie ergibt sich aus Kräfteverhältnissen, aus wechselseitig vermuteten Absichten der Akteure, aus wirtschaftlichen und technischen Mechanismen, aus ideologischen und symbolischen Impulsen, aus Gesichtswahrung und Machtsicherung; und es ist trotz zahlreicher Kommentare und Überlegungen noch nicht klar, wie sich der Übergang zur neuen Weltordnung gestaltet hat und wie sich neue Arrangements verfestigen. Die Ausgangslage vor der Transition kennen wir; aber nun wird darüber gerätselt, ob wir sie nicht immer falsch wahrgenommen haben. Die Ergebnislage nach der Transition wird zu beschreiben versucht, aber es scheint noch viele Unwägbarkeiten zu geben. Sicher ist nur, dass es eine neue Situation ist, in der manche alten Spielregeln nicht mehr gelten.
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Beispiel 2 aus der Digitalität: Es hat keine globalen Kommandohöhen gegeben, die den Jugendlichen „befohlen“ haben, vermittels der verfügbaren elektronischen Geräte eine neue Kommunikationskultur aufzubauen. Die Jugendlichen „wollten“ auch nicht (a priori) neue Netze und Plattformen, bevor es sie gegeben hat. Sie haben einfach Optionen genutzt, sobald sie vorhanden waren, in unzähligen Einzelhandlungen. Auch für die IT-Konzerne war es nicht das Ziel, eine neue Kommunikationswelt zu gestalten; sie wollen Nutzer und Profite maximieren. Die kommunikative Transition, mit dem Entstehen einer „neuen kommunikativen...