Price Die Unantastbaren
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403497-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-10-403497-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Richard Price wurde 1949 in der Bronx geboren. Sein Roman »Cash« war »SPIEGEL«-Bestseller und auf Platz 1 der KrimiWelt-Bestenliste. Für seinen Roman »Die Unantastbaren« wurde er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Price verfasste zahlreiche Drehbücher für Filme von und mit Martin Scorsese, Al Pacino und Paul Newman. 2007 gewann er den Edgar Award für seine Arbeit an der hoch gelobten TV-Serie »The Wire«. Er lebt in Harlem, New York.
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1
Als Billy Graves auf seinem Weg zur Arbeit die Second Avenue runterfuhr, ärgerten ihn die vielen Menschen: morgens Viertel nach eins, und noch immer drängten weit mehr Leute in die Bars, als rauskamen, und mussten sich in beide Richtungen durch wogende Knäuel angesoffener Raucher wühlen, die direkt vor den Eingängen standen. Schrecklich, dieses Rauchverbot. Es brachte nur Probleme – nächtliche Ruhestörung für die Anwohner, endlich Ellbogenfreiheit für stressgeile Querulanten und Unmassen hupender Limousinen und Funktaxis, die außer der Reihe Fahrten abstauben wollten.
Es war St. Patrick’s Day, die schlimmste Nacht des Jahres für die NYPD-Nachtschicht, jene Handvoll Detectives, die unter Billys Kommando zwischen eins und acht für Manhattans sämtliche Verbrechen zuständig war, von Washington Heights bis runter zur Wall Street, solange deren Reviere nicht besetzt waren. Es gab noch weitere schlimmste Nächte, Halloween zum Beispiel und Silvester, aber St. Patrick war die hässlichste, mit der spontansten und primitivsten Gewalt. Stiefelabsätze, stumpfe Gegenstände, Fäuste – eher Stiche als OPs, aber ziemlich böse Entladungen.
1.15 in der Früh: Wie üblich konnten die Anrufe heute Nacht zu jeder Zeit reinkommen, erfahrungsgemäß waren aber die kritischsten Stunden, vor allem an trinkfreudigen Feiertagen, die zwischen drei, wenn die Bars und Clubs zumachten und alles nach draußen strömte, und fünf, wenn selbst die härtesten Hunde keinen Saft mehr hatten und ins Nirwana torkelten. Andererseits konnte Billy in dieser Stadt nie wissen, wann er sein Kopfkissen wiedersah. Um acht konnte er auf einer Wache sitzen und für die kommende Tagschicht eine gefährliche Körperverletzung protokollieren, während der Täter noch immer flüchtig war oder in der Sammelzelle schnarchte; er konnte im Harlem Hospital oder Beth Israel oder St. Luke’s-Roosevelt in der Notaufnahme rumlungern, Angehörige und/oder Zeugen befragen und darauf warten, dass das Opfer sich entweder verabschiedete oder durchkam; er konnte mit den Händen in den Hosentaschen einen Außentatort ablatschen und mit der Schuhspitze im Müll nach Patronenhülsen stöbern, oder, oder, oder, wenn der Fürst des Friedens zugegen und der Verkehr Richtung Yonkers überschaubar waren, tatsächlich rechtzeitig zu Hause sein, um seine Kinder zur Schule zu bringen.
Es gab echte Draufgänger, selbst im Nachtdienst, aber zu denen gehörte Billy nicht. Er hoffte eigentlich immer, dass im nächtlichen Chaos von Manhattan für sein Team nichts Ernstes anfiel, nur Kleinscheiß, den man der Streife rüberschieben konnte.
»Was geht, Seoul Man«, knödelte er, als er den rund um die Uhr geöffneten Koreaner in der Third Avenue betrat, gleich gegenüber der Wache. Joon, der Nachtkassierer mit der getapten Hornbrille, trug automatisch die übliche Nachtration seines Kunden zusammen: drei halbe Liter Diet Rockstar Energydrink, zwei Päckchen Shaolin-Power-Gel und eine Schachtel Camel Lights.
Billy köpfte eine Dose Go, bevor sie in der Tüte verschwinden konnte.
»Zu viel das Zeug macht noch müder«, lautete der Standardvortrag des Koreaners. »Wie ein Bumerang.«
»Bestimmt.«
Als Billy seine Kreditkarte zückte, fing ihn der Überwachungsmonitor an der Kasse in seiner ganzen Pracht ein: kompakt wie ein Footballer, dazu Hängeschultern, das bleiche Gesicht mit den vor Erschöpfung glasigen Augen gekrönt von einer halben Mistgabelladung frühzeitig ergrauter Haare. Er war zwar erst zweiundvierzig, aber sein Knitterzellophanblick gepaart mit einer exquisiten Schlaflosenpose hatte ihm schon mal eine Seniorenermäßigung fürs Kino eingebracht. Der Mensch war nicht dazu gemacht, erst nach Mitternacht mit der Arbeit anzufangen – Ende der Durchsage, scheiß auf die Zuschläge.
Das Büro der Nachtschicht im ersten Stock der Wache fünfzehn, das tagsüber von der Mordkommission Manhattan South genutzt wurde, sah aus wie eine Mischung aus Kirmesbude und Leichenschauhaus. Ein trostloser, neonbeleuchteter Haufen zinngrauer Schreibtische, dazwischen Plastiktrennwände, aufgehübscht durch signierte Großformatfotos von Derek Jeter, Samuel L. Jackson, Rex Ryan und Harvey Keitel nebst Fahndungsfotos, Familienschnappschüssen und grellen Tatortaufnahmen. Ein zwei Meter fünfzig breites Aquarium voller haifischartiger Welse beherrschte eine Schlackenbetonwand, die andere zierte eine amerikanische Flagge in Botschaftsgröße.
Von seiner regulären Truppe war keiner da: Emmett Butter, Gelegenheitsschauspieler und so frisch dabei, dass Billy ihm noch keinen Einsatz überlassen hatte; Gene Feeley, der in den Achtzigern mit seinem Team das Crack-Imperium von Fat Cat Nichols zerschlagen hatte, seit zweiunddreißig Jahren dabei war, zwei Bars in Queens besaß und nur noch ausharrte, um seine Rente auszuschöpfen; Alice Stupak, die nachts arbeitete, um tagsüber bei ihrer Familie zu sein, und Roger Mayo, der nachts arbeitete, um tagsüber nicht bei seiner Familie zu sein.
Ein leerer Dienstraum eine halbe Stunde nach Schichtbeginn war nichts Ungewöhnliches, denn Billy war es egal, wo seine Detectives sich aufhielten, Hauptsache, sie gingen ans Telefon, wenn er sie brauchte. Er sah nicht ein, wieso er sie die ganze Nacht an ihre Schreibtische fesseln sollte, als säßen sie in Haft. Diese Freiheit bedeutete aber auch: Wenn einer von ihnen – mit Ausnahme von Feeley, der in den oberen Etagen so gut vernetzt war, dass er tun und lassen konnte, was er wollte –, wenn also einer von ihnen auch nur ein einziges Mal nicht ans Telefon ging, waren sie weg vom Fenster, leerer Akku, ins Klo gefallen, weggetreten, Diebstahl, Armageddon, Entrückung hin oder her.
Nachdem Billy die Einkäufe in seinem winzigen, fensterlosen Büro abgestellt hatte, ging er vom Dienstraum einen kurzen Flur entlang zur Leitstelle. Am Tisch saß Rollie Towers alias der Lotse, ein großer Buddha in Jogginghose und John-Jay-College-Sweatshirt mit einem Arsch, der zu beiden Seiten seines gewebten Aeron-Stuhls überquoll. Er nahm von diversen Tatorten Aufträge für die Nachtschicht entgegen und blockte sie ab wie ein Torwart.
»Also, Sarge, mein Boss ist noch nicht da«, Rollie nickte Billy zu, »aber ich vermute mal, der würde Ihnen Folgendes sagen: keine Verletzten, und der Typ ist nicht mal sicher, ob es überhaupt eine Waffe war. Ich würde ihm einfach auf den Zahn fühlen, warten, bis morgen früh die Fünfte kommt, vielleicht passt das bei denen in irgendein Muster, okay? Wir können da gerade wirklich nicht viel machen. Alles klar … alles klar … alles klar.«
Legte auf und drehte sich zu Billy um. »Alles klar.«
»Irgendwas los?« Billy wollte sich gerade einen von Rollies Doritos nehmen, überlegte es sich aber anders.
»Scharmützel im Zweiunddreißiger, beide Schützen weiblich, eine auf dem Gehsteig, die andere hinten in einem Ghettotaxi. Sie sind irgendwie einen Meter voneinander entfernt, sechs Schüsse hin und her durch die Heckscheibe, und jetzt kommt’s – keine von beiden wird getroffen. So was nennt man Scharfschützen.«
»Fahrendes Taxi?«
»Als es losgeht, da jagt die eine Schnepfe die andere durch die Eisenhowers, sie springt ins Auto, brüllt den Fahrer an, dass er Gas geben soll, nur sobald der die Knarren sieht, hüpft er raus und marschiert zurück nach Senegal, ist wahrscheinlich halb da inzwischen.«
»Die Beine in der Hand.«
»Butter und Mayo sind hoch nach Harlem, zugucken, wie Annie Oakley und Calamity Jane ihren Rausch ausschlafen.«
»Und der Fahrer? Jetzt echt?«
»Acht Straßen weiter haben sie ihn gefunden, wie er gerade auf einen Baum klettern will. Sie haben ihn mitgenommen, aber er spricht nur Wolof und Französisch, also warten sie auf einen Dolmetscher.«
»Sonst noch?«
»Nichts.«
»Und wen kriege ich heute?« Billy graute vor den freiwilligen Aushilfen, dem ständig wechselnden Sortiment überstundenhungriger Tagschichtler, die nachts seine mickrige Mannschaft aufpolsterten, aber nach zwei Uhr mehrheitlich nicht mehr zu gebrauchen waren.
»Theoretisch drei, aber dem einen ist das Kind krank geworden, der andere wurde zuletzt bei einer Verabschiedung im Neuner gesichtet, also müssen Sie gucken, ob der überhaupt in der Lage ist reinzukommen, und dann halt das, was Central Park uns geschickt hat.«
»Der ist schon da? Ich hab niemanden gesehen.«
»Vielleicht mal unterm Teppich nachsehen.«
Im Dienstraum machte sich die Aushilfe Theodore Moretti geschickt unsichtbar, vornübergebeugt am entferntesten Tisch kauernd, Ellbogen auf den Knien.
»Ich bin in der Luft«, zischte er in sein Handy, »du atmest mich gerade ein, Jesse. Ich bin überall um dich rum …«
Moretti war klein und bullig, hatte glattes schwarzes, akkurat mittelgescheiteltes Haar und Waschbäraugen, gegen die Billys kristallklar wirkten.
»Hallo.« Billy stand neben ihm, Hände in den Taschen. Doch bevor er sich als Boss zu erkennen geben konnte, stand Moretti auf, verließ den Raum und kam kurz darauf noch immer telefonierend zurück.
»Glaubst du wirklich, du wirst mich so einfach los?«, fragte er seine vom Liebesglück verfolgte Jesse. Billy begriff sofort, womit er es hier zu tun hatte, und schrieb Moretti entsprechend ab.
Geld mochte der Hauptbeweggrund für eine einmalige Nachtschichtrunde sein, aber hin und wieder meldeten sich Ermittler nicht wegen der Überstunden, sondern weil sie dann besser stalken konnten.
1.45 … Das...