E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
Pérez-Reverte Der Italiener
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99037-171-8
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
ISBN: 978-3-99037-171-8
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Arturo Pérez-Reverte, 1951 im spanischen Cartagena geboren, bezeichnet sich selbst als 'Leser, der Bücher schreibt'. Bevor seine Werke in über 40 Sprachen übersetzt wurden, arbeitete er 21 Jahre lang als Kriegsreporter, unter anderem im Libanon, in Eritrea, im Tschad und in Mosambik. Sein Weltbestseller Der Club Dumas wurde von Roman Polanski mit Johnny Depp in der Hauptrolle verfilmt. 2003 wurde er in die Real Academia Española aufgenommen. Wenn er nicht in seiner 32.000-Bücher-Bibliothek schreibt, dann ist er draußen auf dem Meer, segelnd.
Weitere Infos & Material
1. Ein venezianisches Rätsel
2. Die Männer des letzten Mondviertels
3. Die Buchhandlung in der Line Wall Road
4. Schatten in der Bucht
5. Herausforderungen und Rache
6. Zimmer 246
7. Die Züge des Dr. Zocas
8. Der Fang des Schwertfischs
9. Der Groll alter Götter
10. Eine schlichte Formalität
11. Heißes Eisen, nasse Haut
12. Der Kohlenkai
13. Schlussakt
14. Epilog
Anmerkungen
1. Ein venezianisches Rätsel
Die Buchhandlung hieß Olterra, was mich hätte warnen sollen. Doch im Winter 1981 wusste ich wie viele andere Menschen nichts von dem Geheimnis, das diesen Namen umgab.
Als ich zufällig durch die Calle Corfù, zwischen der Accademia und der Kirche Santa Maria della Salute, schlenderte, war ich vor dem Schaufenster der Buchhandlung stehen geblieben, da ein Buch meine Aufmerksamkeit weckte. Es war La gondola von Cargasacchi. Zwei Exemplare waren in der Auslage, eines davon geöffnet auf einer Seite mit einer detaillierten Zeichnung dieses Bootstyps. Weil ich mich schon immer für Schiffbau interessiert hatte, betrat ich den Laden. Er war klein, gemütlich, wurde von einem Gasofen beheizt und hatte im hinteren Teil ein Fenster, das auf einen Kanal mit bröckelnden Mauern und Toren ging, an denen das Wasser nagte. Die Buchhandlung wurde von einer älteren Frau mit hübschem Gesicht und weißem, im Nacken zusammengebundenem Haar geführt, die mit einem eleganten Tuch über den Schultern auf einem Stuhl saß und las. Zu ihren Füßen, auf dem Teppich, döste ein Labrador. Sie begrüßte mich, ich fragte nach dem Buch im Schaufenster, und sie brachte mir eines der ausgestellten Exemplare. Nachdem ich ein bisschen darin geblättert hatte, legte ich es zur Seite, um es später zu kaufen, und schaute mir die anderen Bücher an. Es gab viele über Nautik, sodass ich mich längere Zeit dort aufhielt. Irgendwann bemerkte ich die Fotos an der Wand.
Es waren zwei, hinter Glasrahmen. Schwarz-weiß. Das kleinere zeigte ein Paar mittleren Alters, das in die Kamera lächelte. Der Mann, in fortgeschrittenem Alter, aber gut aussehend, hatte seinen Arm um die Taille der Frau gelegt. Nachdem ich das Bild eine Weile betrachtet hatte, fiel mir auf, dass es sich bei der Frau um die Buchhändlerin handelte, vor zehn oder fünfzehn Jahren. Auf dem anderen Foto, das größer, aber von schlechterer Qualität und älter war, waren zwei Männer zu sehen: Der eine trug einen Overall und eine Matrosenmütze, der andere kurze Hosen und Hemd. Sie posierten neben einer Art Torpedo an Deck eines U-Boots. Beide lächelten, und der Mann mit der kurzen Hose hatte große Ähnlichkeit mit dem auf dem anderen Foto, auch wenn er auf diesem hier deutlich jünger aussah. Das attraktive, einnehmende Lächeln war leicht wiederzuerkennen, ebenso wie das kurze schwarze Haar, obwohl es auf dem zweiten Foto schon leicht ergraut und etwas spärlicher war.
Als ich mich von den Fotos abwandte, bemerkte ich, dass die Buchhändlerin mich ansah.
„Interessant“, sagte ich mehr aus Höflichkeit als aus irgendeinem anderen Grund.
„Sind Sie Spanier?“
„Ja.“
Sie sagte nicht, dass sie ebenfalls aus Spanien kam, zumindest in diesem Moment noch nicht. Ich hielt sie für eine waschechte Venezianerin; wir unterhielten uns auf Italienisch und wechselten erst später die Sprache.
„Was finden Sie daran interessant?“, fragte sie.
Ich deutete auf das Foto mit den beiden Männern neben dem Torpedo.
„Das maiale“, sagte ich.
Sie sah mich neugierig an, leicht überrascht.
„Sie wissen, was ein maiale ist?“
„Ich habe gerade eins im Schifffahrtsmuseum gesehen, beim Arsenale.“
Es war nicht nur das. Ich hatte auch das eine oder andere Buch darüber gelesen und Fotos gesehen: Zweiter Weltkrieg, bemannte Torpedos mit Sprengköpfen, Unterwasserangriffe in Alexandria und Gibraltar. Ein stiller, verborgener Krieg.
„Interessieren Sie sich für so was?“
„Ein bisschen.“
Sie betrachtete mich noch immer, nachdenklich, dann erhob sie sich, um etwas in einem der Regale zu suchen. Während sie damit beschäftigt war, stand auch der Hund – es war eine Hündin – auf, drehte eine Runde um mich und legte sich gleichgültig wieder an derselben Stelle hin wie zuvor. Schließlich brachte mir die Buchhändlerin zwei Bücher. Eines hieß All'ultimo quarto di luna (Im letzten Viertel des Mondes). Auch der andere Titel war nicht besonders aufschlussreich: Decima Flottiglia MAS. Die Einbände verrieten mehr. Der eine zeigte mehrere Taucher, die ein Netz zerschnitten. Der andere zwei Männer, die, halb unter Wasser, auf einem der bemannten Torpedos fuhren.
Ich legte die beiden Bücher zu dem über die Gondeln und betrachtete wieder die Fotos an der Wand.
„Ein gut aussehender Mann“, sagte ich.
Sie sah nicht die Fotos, sondern mich an, als versuchte sie einzuschätzen, inwieweit ich eine Verbindung zwischen ihr und dem Mann knüpfte. Dann bewegte sie leicht den Kopf.
„Ja, das war er“, sagte sie auf Spanisch.
Ihre perfekte Aussprache überraschte mich.
„Entschuldigung … Sind wir Landsleute?“
„Das waren wir.“
Die Vergangenheitsform machte mich neugierig.
„Leben Sie schon lange hier?“
„Fünfunddreißig Jahre.“
„Jetzt verstehe ich. Sie wirken wie eine Italienerin.“
„Das ist eine lange Geschichte.“
Ich betrachtete erneut die Fotos. Den Mann, der seinen Arm um ihre Taille gelegt hatte.
„Lebt er noch?“
„Nein.“
„Das tut mir leid.“
Sie schwieg. Mit einer überraschenden Geste, die mir fast wie Koketterie vorkam, hob sie langsam die Hand und fasste sich an den Haarknoten im Nacken. Schließlich wandte sie sich mit einem sanften Lächeln den Fotos zu, und dieses Lächeln schien die Falten in ihrem Gesicht zu glätten und es zu verjüngen.
„Er ist vor fünf Jahren gestorben“, sagte sie.
Ich tippte mit dem Finger auf das Cover eines der Bücher und deutete anschließend auf das Foto mit den zwei Männern und dem maiale.
„Einer von ihnen?“
Es klang nicht nach einer Frage, und es war auch keine. Die Frau nickte.
„Ja.“
Ihr Ton war sanft und entschieden zugleich. Und auch ein wenig Stolz lag darin, bemerkte ich. Sogar etwas Herausforderndes. Da erinnerte ich mich an den Namen der Buchhandlung.
„Was bedeutet Olterra?“
Sie lächelte und betrachtete weiter reglos die Fotos. Nach einer Weile zuckte sie mit den Schultern, als läge die Antwort auf der Hand.
„Es bedeutet so viel wie mutige Männer“, antwortete sie. „Im letzten Viertel des Mondes.“
Fünfzehn Minuten später verließ ich mit den drei Büchern in einer Tüte den Laden und ging langsam zum Canale della Giudecca. Es war einer dieser kalten venezianischen Wintertage mit wolkenlosem Himmel über der Lagune, sodass ich die Fondamenta delle Zattere entlangspazierte und die Sonne genoss. Als ich die Punta della Dogana erreichte, die zu jener Zeit ein noch wenig besuchter Ort war, setzte ich mich auf den Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und blätterte in den Büchern. Damals war ich noch kein Schriftsteller und wollte auch keiner werden. Ich war nur ein junger Journalist, ein Reporter, der ständig auf Reisen war und der Geschichten vom Meer und von Seemännern liebte. Und ich hatte Urlaub. Ich ahnte nicht, dass das, was ich damals las, der Beginn vieler anderer Bücher und langer Gespräche war. Der Beginn einer komplizierten Recherche über Personen und dramatische Ereignisse, das Lüften eines Geheimnisses und der Keim eines Romans, der erst vierzig Jahre später geschrieben werden sollte.
Es sind zwei Monate vergangen, doch Elena Arbués erkennt ihn sofort.
Er sitzt an einem Tisch an der Tür der Bar Europa in Algeciras und unterhält sich mit zwei anderen Männern – sonnengebräunt, getönte Brille, die Ärmel des weißen Hemds hochgekrempelt, blaue Hose mit Ledergürtel und Espadrilles. Er unterhält sich lebhaft und lächelt viel. Während ihrer kurzen und einzigen Begegnung hat sie ihn nicht lächeln sehen – ein weißer, sympathischer Strich, der das südländische, unverkennbar mediterrane Gesicht erhellt, ein Gesicht, von dem sie weiß, dass es italienisch ist, das aber ebenso gut spanisch, griechisch oder türkisch sein könnte. Ein typischer Mensch des Südens, geboren an irgendeiner Küste oder auf einer baum- und wasserlosen Insel: Olivenöl, Rotwein, rötliche Abenddämmerungen, warme Gewässer und weise, erschöpfte Götter. Sein Anblick ruft ihr all das in Erinnerung. Außerdem ist er attraktiv. Mehr als an jenem Tag, als er blutverschmiert und blass vor ihr lag. Er trägt das Haar genauso kurz wie beim ersten Mal, als sie ihn vom Strand zu sich nach Hause schleppte und auf dem Boden des kleinen Wohnzimmers mit Blick auf die Bucht ablegte, bewusstlos, voller Sand, mit Argos, der ihm Gesicht und Hände ableckte, die faltig und weiß waren aufgrund der langen Zeit im Wasser.
Sogar seinen Namen kennt sie, falls der Name in dem kleinen Seefahrtbuch echt ist, das sie in einer Hülle aus Wachstuch fand, als sie mit einer Schneiderschere den oberen Teil des Gummianzugs aufschnitt: Lombardo, Teseo. 2° Capo, Regia Marina N. 355.876. Unter dem Gummianzug trug er einen dünnen Overall aus blaugrauer Wolle mit einem Stern auf jeder Seite des Revers und drei Litzen in Form eines Winkels an den Ärmeln. Italienische Kriegsmarine, kein Zweifel. Da sie ihn am Strand fand, kam er bestimmt von einem U-Boot, das die im Hafen von Gibraltar und im Norden der Bucht ankernden Schiffe angegriffen hatte. Ein Froschmann. Ein Kampftaucher.
An jenem Morgen hatte sie nicht recht gewusst, was sie tun sollte. Nachdem sie ihm den Gummianzug abgestreift und den Overall...




