E-Book, Deutsch, Band 12, 192 Seiten
Pretis / Dimova Frühförderung mit Kindern psychisch kranker Eltern
5. aktualisierte Auflage 2025
ISBN: 978-3-497-61971-9
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 12, 192 Seiten
Reihe: Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär
ISBN: 978-3-497-61971-9
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Etwa drei bis fünf Millionen Kinder im deutschen Sprachraum haben mindestens einen Elternteil, der psychisch krank ist. Die Erkrankung der Eltern kann schlimme Folgen für die Kinder haben: Individueller Rückzug, schwierige soziale Verhältnisse und lange Krankenhausaufenthalte können eine sichere Bindung an die Eltern und eine gesunde Entwicklung der Kinder erschweren. Viele dieser Kinder leiden stumm und von Einrichtungen der psychosozialen Unterstützung unbemerkt.
"Lieber früh fördern statt später behandeln", sagen die Autoren und zeigen, was man in der Frühförderung für Kinder psychisch kranker Eltern tun kann. Sie informieren über typische Störungsbilder der Eltern und erklären, wie das Kind die Erkrankung wahrnimmt. Einen Schwerpunkt legen die Autoren auf die Bedeutung der familiären Zusammenarbeit und nehmen das Thema "Resilienz" umfassend in den Blick.
Zielgruppe
Fachkräfte in der Frühförderung
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
1 Zusammen arbeiten: im Team und mit Eltern 9
2 Vergessene Kinder 13
2.1 Auffällige Unauffälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.2 Ein neues Problem? Zwischen erhöhter Sensibilität und realem Anstieg psychischer Verletzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2.2.1 Epidemiologische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2.2.2 Die Balance zwischen Risiko und Resilienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.2.3 Die Öffnung der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.3 Und die Kinder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.4 Psychische Erkrankung bzw. Verletzlichkeit der Eltern - terminologische Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3 Leben mit einem psychisch verletzlichen Elternteil -wie geht es den Kindern? 45
3.1 Die biologische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
3.2 Der Stellenwert der Bindung zwischen biologischen und psycho-sozialen Parametern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.3 Die (entwicklungs-)psychologische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.3.1 Kleinkindalter (null bis drei Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.3.2 Vorschulalter (drei bis sechs Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
3.3.3 Die frühe Kindheit aus der Retrospektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3.4 Die soziale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.5 Welche psychologischen Überlebensstrategien entwickeln Kinder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
4 Was Kinder psychisch verletzlicher Eltern stärkt .70
4.1 Klein- und Vorschulkinder über die Erkrankung ihrer Eltern informieren und Verständnis ermöglichen . . . . . . . . . . . 70
4.2 Resilienzprozesse aktivieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.3 Das Konzept der "Vulnerabilität" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
4.4 Was kennzeichnet "resiliente" Kinder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
4.5 Resilienzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
4.5.1 Kindzentrierte Resilienzfaktoren und -prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
4.5.2 Familienzentrierte Resilienzfaktoren und -prozesse . . . . . . . . . . . . . . 98
4.5.3 Umwelt- bzw. systemabhängige Resilienzfaktoren und -prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
4.5.4 Screeninginstrument zur Erfassung von Resilienzfaktoren bei Kleinkindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
5 Frühe Förderung mit Kleinkindern depressiver Eltern 119
5.1 Ressourcen in der Arbeit mit Kindern depressiver Eltern . . . . . . . . . 119
5.2 Aus der Sicht des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
5.2.1 Unverständliche Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
5.2.2 Sorgen und Gedanken, die die Kinder nicht verstehen . . . . . . . . . . . 121
5.2.3 Alltagsstrukturen, die zusammenbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
5.3 Wie erkenne ich als Helfer eine depressive Erkrankung? . . . . . . . . . 123
5.3.1 Depression als Krankheit: das Wissen um die Ursachen . . . . . . . . . . 123
5.3.2 Depression als Krankheit: das Wissen um den Verlau
2Vergessene Kinder 2.1Auffällige Unauffälligkeit Peter, beim ersten Kontakt zehn Monate alt, wurde über Initiative der Sozialarbeiterin bei unserem Dienst vorstellig, weil seine Mutter die vom zuständigen Jugendamt empfohlene Förderung abgebrochen hatte. Es wurde gemutmaßt, dass bei der Mutter eine depressive Erkrankung vorliegen könnte. Die Vorgangsweise der eingesetzten Pädagogin in der Fördersituation zuhause, Peter kleine, Geräusche erzeugende Gegenstände anzubieten, damit dieser selbstwirksame Erfahrungen machen konnte, führte zur Eskalation in der Familie: Nach Ansicht der Mutter war zu befürchten, dass Peter das Fördermaterial verschlucken könnte und somit die Fachkraft bewusst die Gesundheit ihres Sohnes gefährde. Dieser Vorwurf von Seiten der Mutter führte zum Abbruch. Noch dazu habe die behandelnde Kinderärztin der Mutter auch versichert, mit Peter sei – auf der Basis der U-Untersuchungen – alles in Ordnung. Da die Mutter selbst Pflegekind war, massive Konflikte zur eigenen Herkunftsfamilie bestanden und die eigene (Pflege)Großmutter Zweifel beim Jugendamt anmeldete, ob die Kindesmutter fähig sei, ihren Sohn zu erziehen, entschied sich die Sozialarbeiterin, unseren Dienst anzubieten. Eine mögliche Fremdpflege stand im Raum, da sich das Jugendamt Sorgen um das Interaktionsverhalten und die Bindung machten. Anfangs nahmen die Eltern widerwillig unser „freiwilliges“ Serviceangebot einer Ressourcen-Belastungsanalyse in Anspruch, vor allem in der Hoffnung, bestätigt zu bekommen, dass mit Peter alles in Ordnung sei. Nach einer Vorstellung unsererseits, unserer Arbeitsweise, der Fragestellung (welche Förderbedürfnisse bei Peter vorlagen) sowie möglichen Zweifeln der Eltern, was mit Daten und Informationen geschehe, wurden Vater und Mutter gebeten, so wie zuhause mit ihrem Sohn zu spielen, auch um die Stresssituation für beide Elternteile zu vermindern. Im Vordergrund sollte das gemeinsame Eingehen auf die Bedürfnisse von Peter liegen. Peter wurde in diesen Erstkontaktsituationen von den beiden anwesenden Elternteilen auf eine Decke am Boden unseres Zentrums gelegt. Sein Vater setzte sich am Fußende vor seinen Sohn, ergriff kurzfristig Fördermaterialien, die er für wenige Sekunden schüttelnd vor der Brust von Peter bewegte. Aufgrund der Rückenlage war jedoch zu vermuten, dass Peter diese Gegenstände nicht sehen konnte. Die meiste Zeit, in der die Eltern unsererseits gebeten wurden, so wie zuhause zu spielen, wirkte Peter sich alleine überlassen. Er lag auf dem Rücken, lautierte, versuchte beide Hände in seine Mittellinie zu bekommen, folgte sporadischen visuellen Angeboten des Vaters, der ein Plüschtier außerhalb der Reichweite von Peter auf der rechten Seite bewegte. Ein einziges Mal kam es während dieser ersten 20 Minuten zu körperlichem Kontakt zwischen dem Vater und Peter, indem der Vater die Füße Peters leicht bewegte. Die sprachliche Kommunikation des Vaters mit seinem Sohn beschränkte sich dabei auf das Imitieren von Schnalzlauten. Aufgrund ihrer ausgeprägten Adipositas (Fettleibigkeit) und damit einhergehenden Problemen mit ihren Knien war es der anwesenden Mutter nicht möglich, sich auf den Boden hinab zu begeben, um mit Peter in körperlichen Kontakt zu treten. Peters Mutter beobachtete die Spielsituation stehend aus ungefähr zwei Meter Entfernung. In der ersten Einheit gelang es Peter nach 15 Minuten, sich aus der Rückenlage ohne Unterstützung der Eltern in die Bauchlage zu drehen. Danach begann Peter, den Spielteppich robbend zu explorieren. Der Junge griff nach allen erreichbaren Gegenständen. Er untersuchte den Teppich, auf dem er lag, lautierte häufig, und es entstand der Eindruck, als ob er sich durch heftiges asymmetrisches Strampeln selbst aktivierte. Für uns als Untersucher erwiesen sich diese 20 Minuten der „Kaum-Interaktion“ als sehr belastend und nur wenig ertragbar. Wie konnte es sein, dass die Eltern – zumindest auf der beobachtbaren Verhaltensebene – sich vorwiegend teilnahmslos verhielten (obwohl sie natürlich ihren Sohn beobachteten) und obwohl sie wussten, dass sie sich in einer diagnostischen Situation befanden und Spielsequenzen sogar videoaufgezeichnet wurden. Peter hingegen schien sich sehr anzustrengen, seine Umwelt aktiv zu erforschen. Methodisch versuchten wir, in dieser diagnostischen Phase trotzdem die Ressourcen und all das, was in der Familie funktionierte, hervorzuheben: 1Die Familie nahm die Termine wahr (wie auch andere Arzttermine). 2Vater und Mutter erschienen gemeinsam zu den Terminen. 3Vor allem die Kindesmutter zeigte hohes Interesse an einem Austausch darüber, wie weit ihr Sohn entwickelt sei. 4Der Vater konnte sich für kurze Zeit auf Spielsituationen mit seinem Sohn einlassen. 5Peter wirkte gepflegt, sauber und wohlgenährt. 6Alle U-Untersuchungen wurden durchgeführt. 7Die Mutter hielt aktiv Kontakt zur Sozialarbeiterin. 8Peter beschäftigte sich beinahe 20 Minuten mit sich selbst. 9Es gelang ihm sogar, sich ohne Hilfe des Vaters von der Rückenlage in die Bauchlage zu drehen. 10Peter wirkte auf den ersten Blick sehr autonom, aktiv, kommunikativ und selbstwirksam. 11Peter schien über ein „einfaches Temperament“ zu verfügen, er wirkte ausgeglichen und zeigte kaum forderndes Verhalten (z. B. durch Schreien). 12Die Mutter kümmerte sich in der Vergangenheit aufgrund einer von der Kinderärztin gestellten Verdachtsdiagnose „Seitenschwäche“ zuerst um Physiotherapie und stimmte in weiterer Folge einer häuslichen Förderung zu, die jedoch – wie zuvor beschrieben – in weiterer Folge abgebrochen wurde. Daneben waren in diesen ersten diagnostischen Phasen auch deutliche Belastungsfaktoren zu beobachten: 1Aufgrund ausgeprägter Adipositas konnte sich die Mutter kaum zu Peter bücken oder ihn hochnehmen. 2Die Mutter befand sich während der Spielsituationen meist stehend zwei Meter von Peter entfernt, sodass die Frage des körperlichen Kontaktes und der Bindung offen war. 3Die Mutter fand zu jedem Argument (z. B. der Wichtigkeit sprachlicher Nachahmung oder motorischer Aktivitäten) ein Gegenargument oder verwies auf ihre Ärztin, Internet oder Elternratgeber. Der Hauptfokus lag dabei auf möglichen Gesundheitsgefährdungen ihres Sohnes. 4Die Mutter stand mehrmals in der Nacht auf, um nachzusehen, ob ihr Kind noch atme (sie wandte sich im Laufe eines Pseudokrupp-Anfalles an die Kinderklinik, die ihr zur Prävention des plötzlichen Kindstodes ein Atmungsüberwachungsgerät mit nach Hause gab). Ihr gesamtes Pflege- und Betreuungsverhalten konnte arbeitshypothetisch als ängstlich und teilweise überbehütend beschrieben werden (häufiges Doctor-Hopping, teilweises Übertreiben möglicher Gefahren, Vermeidung der Auseinandersetzung mit als bedrohlich interpretierten Informationen). 5Bei Peter waren aufgrund eines Entwicklungsscreenings Risiken im Bereich seiner motorischen Entwicklung zu sehen (fehlendes freies Sitzen mit zehn Monaten) sowie Risiken im Bereich Sprachentwicklung. 6Der Vater bezeichnete sich selbst als ehemaliges ADHS-Kind, wobei sich dies im Erwachsenenalter in vermuteter Automatenspielsucht und stundenlangem Computerspielen zuhause widerspiegelte. 7Die Interaktionssequenzen zwischen dem Vater und Peter wirkten zeitlich sehr kurz und machten es Peter schwer, die Angebote des Vaters wahrzunehmen. 8Die finanzielle und häusliche Situation erschien schwierig (Hartz-IV-Empfang, teilweise nicht adäquat eingerichtete Wohnung). 9Das Verhältnis zu den Großeltern (eigentlich Pflegeeltern der Mutter) erschien immer wieder angespannt. 10Die häusliche Förderung (organisiert über Frühe Hilfen) wurde aufgrund des Konfliktes in Bezug auf eine mögliche Gefährdung der Gesundheit durch das Fördermaterial (Überraschungsei gefüllt mit Reiskörnern) abgebrochen. 11Die Fachkraft vermutete bei der Mutter eine ausgeprägte Angststörung oder Depression, teilweise mit überbehütenden Verhalten gegenüber ihrem Sohn. 12Sobald die Mutter eine kleinste somatische Veränderung bei ihrem Sohn wahrnahm, kontaktierte sie Ärzte, setzte jedoch empfohlene Maßnahmen kaum um, da sie glaubte, alles besser zu wissen. 13Vorliegen einer psychischen Krankheit bei der Mutter im Sinne einer Störung der Persönlichkeit, Mischtypus mit Fokus ängstlich-vermeidend), da aus der Anamnese Hinweise auf ein durchgehendes Muster seit ihrer Kindheit vorlagen. Abb. 1 zeigt dabei die nach unserer transdisziplinären Diagnostikphase (teilweise erfolgten Beobachtungen in gemeinsamen Sitzungen) eingeschätzte Ressourcen / Belastungssituation (im Sinne eines Ampelsystems): Der äußere Bereich (grüner Bereich) spiegelt dabei als „ausreichend“ eingeschätzte...