Pratchett Rollende Steine
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-14571-2
Verlag: Manhattan
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Scheibenwelt-Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-14571-2
Verlag: Manhattan
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gevatter Tod steckt in der Midlifecrisis. Als er von einem Tag auf den anderen spurlos verschwindet, muss daher seine Enkelin Susanne das Geschäft übernehmen. Anfangs kein Problem für die begabte junge Dame, bis sie es mit einem merkwürdigen magischen Phänomen zu tun bekommt: Eine neue Musikrichtung erobert die Scheibenwelt. Mit seiner »Brocken-Troll-Bande« und den Klängen einer ganz besonderen Gitarre löst der junge Barde Imp Y Celyn nicht nur regelmäßig Massenhysterien aus, sondern verändert auch den Lauf der Geschichte – und macht damit Susanne das Leben schwer. Denn ausgerechnet Imp hätte eigentlich längst das Zeitliche segnen sollen. Doch statt ihn endlich abzuführen, verliebt sich Tods Enkelin unsterblich in den Shooting-Star …
Terry Pratchett, geboren 1948, schrieb 1983 seinen ersten Scheibenwelt-Roman – ein großer Schritt auf seinem Weg, einer der erfolgreichsten Autoren Großbritanniens und einer der populärsten Fantasy-Autoren der Welt zu werden. Von Pratchetts Romanen wurden weltweit 85 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke sind in 40 Sprachen übersetzt. Für seine Verdienste um die englische Literatur verlieh ihm Queen Elizabeth sogar die Ritterwürde. Terry Pratchett starb am 12.3.2015 im Alter von 66 Jahren.
Weitere Infos & Material
Wo hört man auf?
Es ist eine dunkle, stürmische Nacht. Eine Kutsche, deren Pferde sich losgerissen haben, durchbricht den morschen, klapprigen Zaun und stürzt, sich überschlagend, in die Schlucht. Ungebremst rauscht sie an Felsvorsprüngen vorbei in die Tiefe und zerschellt im ausgetrockneten Flussbett.
Nervös blätterte Fräulein Steiß weiter. Diesen Aufsatz hatte das Mädchen als Sechsjährige geschrieben:
»Was wir in den Fehrien gemacht haben: Was ich in den Fehrien gemacht habe war, meinen Opa besuchen. Er hat ein großes weisses Ferd und einen gans, gans schwartzen Garten. Es gab Bratkatoffeln mit Spigelei.«
Das Petroleum der Laterne entzündet sich, und aus dem explodierenden Wrack der Kutsche trudelt – weil auch für eine Tragödie bestimmte Konventionen gelten – ein brennendes Rad.
Das nächste Blatt: ein Bild, das sie mit sieben gemalt hat. Schwarz in Schwarz. Fräulein Steiß rümpfte die Nase. Als ob der Kleinen lediglich ein schwarzer Stift zur Verfügung gestanden hätte. Dabei war das Quirmer Pensionat für Höhere Töchter mit hochwertigen Stiften in allen nur erdenklichen Farben ausgestattet.
Knisternd und zischend erlischt das letzte Fünkchen Glut. Totenstille.
Der Beobachter wendet sich einer Gestalt im Dunkeln zu und sagt:
DOCH. ICH HÄTTE ES VERHINDERN KÖNNEN.
Und reitet davon.
Fräulein Steiß blätterte weiter in ihren Unterlagen. Die innere Unruhe, die sie erfüllte, war jedem geläufig, der häufiger mit dem Mädchen zu tun hatte. Dabei fand sie bei ihren Papieren eigentlich immer Halt. Auf Papier war Verlass.
Und dann die Geschichte mit dem … Unfall.
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass die Rektorin eine derartige Unglücksbotschaft zu übermitteln hatte. Das blieb leider nicht aus, wenn man ein großes Internat leitete. Die Eltern vieler Mädchen hatten beruflich des Öfteren im Ausland zu tun – und manchmal betrieben sie dort eben auch Geschäfte, bei denen die Aussicht auf glänzende Profite mit der Gefahr einherging, nähere Bekanntschaft mit unliebsamen Zeitgenossen zu machen.
Fräulein Steiß hatte Erfahrung mit solchen Situationen. So grausam der Schicksalsschlag auch war, die Dinge nahmen ihren natürlichen Lauf. Erst kam der Schock, dann kamen die Tränen, und irgendwann war es überstanden. Menschen bewältigten ihre Verluste wie nach einem vorgegebenen inneren Drehbuch. Das Leben ging weiter.
Aber dieses Kind hatte nur stumm dagesessen, so unendlich höflich, dass es der Rektorin angst und bange geworden war. Obwohl die heiße Herdplatte der Erziehung sie mit den Jahren ausgedörrt hatte, war sie alles andere als hartherzig, nur überaus korrekt, und sie hielt streng auf Sitte und Anstand. Sie hatte geglaubt, genau zu wissen, wie das Gespräch ablaufen würde, und war deshalb einigermaßen pikiert gewesen, als es ihren Erwartungen nicht im Mindesten entsprach.
»Äh … vielleicht möchtest du jetzt lieber allein sein und dich ausweinen?«, hatte sie vorgeschlagen, um das Mädchen behutsam ins richtige Fahrwasser zu bugsieren.
»Würde das was helfen?«, hatte Susanne gefragt.
Ihrer Rektorin hätte es auf jeden Fall geholfen.
»Hast du denn auch wirklich begriffen, was ich dir gerade gesagt habe?«, war ihre ratlose Reaktion darauf gewesen.
Susanne hatte nur an die Decke gestarrt, wie in die Lösung einer komplizierten algebraischen Gleichung vertieft. »Das kommt schon noch.«
Als hätte sie längst Bescheid gewusst und den Verlust sogar schon verarbeitet. Fräulein Steiß hatte das Kollegium gebeten, ein Auge auf das Kind zu haben. Worauf sie zur Antwort bekam, das sei leichter gesagt als getan, weil …
Es klopfte an der Tür des Rektorats, so zaghaft, als wollte der Besuch am liebsten gar nicht gehört werden.
Fräulein Steiß kehrte in die Gegenwart zurück.
»Herein«, sagte sie.
Die Tür schwang auf.
Susanne machte nie ein Geräusch. Das ganze Kollegium redete darüber. Die Lehrerinnen fanden es unheimlich. Immer tauchte sie gerade dann vor einem auf, wenn man es am wenigsten erwartete.
»Ah, Susanne«, sagte Fräulein Steiß. Ein angespanntes Lächeln huschte über ihre Züge wie ein nervöses Zucken über ein ängstliches Schaf. »Bitte, nimm doch Platz.«
»Ja, Fräulein Steiß.«
Die Rektorin klappte den Ordner zu.
»Susanne …«
»Ja, Fräulein Steiß?«
»So leid es mir tut, aber du hast anscheinend wieder im Unterricht gefehlt.«
»Das verstehe ich nicht, Fräulein Steiß.«
Die Rektorin beugte sich vor. Sie ärgerte sich ein wenig über sich selbst, aber … irgendwie wurde sie mit dem Kind einfach nicht warm. Natürlich glänzte Susanne in allen Fächern, die sie interessierten, aber genau da lag auch der Hase im Pfeffer: Sie glänzte auf die gleiche Weise wie ein Diamant – scharfkantig und kalt.
»Hast du wieder … damit angefangen?«, fragte sie. »Du hattest doch versprochen, diesen Unfug zu unterlassen.«
»Fräulein Steiß?«
»Du hast dich wieder unsichtbar gemacht, nicht wahr?«
Susanne wurde rot. Genau wie Fräulein Steiß, wobei deren Gesichtsfarbe nicht ganz so rosig ausfiel. Das ist doch lächerlich, dachte die Rektorin. Es widerspricht jeder Vernunft. Es ist – ach, nein …
Sie wandte den Kopf ab und schloss die Augen.
»Ja, Fräulein Steiß?«, sagte Susanne, bevor Fräulein Steiß »Susanne?« sagen konnte.
Die Pensionatsleiterin überlief ein kalter Schauer. Auch das erzählte man sich im Kollegium. Dass Susanne manchmal eine Frage schon beantwortete, bevor sie ihr gestellt wurde …
Sie riss sich am Riemen.
»Du sitzt noch vor mir?«
»Aber gewiss, Fräulein Steiß.«
Lächerlich.
Außerdem war »unsichtbar« der falsche Begriff. Auffällig unauffällig traf es schon besser.
Die Rektorin nahm ihre Gedanken zusammen. Um genau für diesen Fall gewappnet zu sein, hatte sie sich einen kleinen Merkzettel an ihre Unterlagen geheftet.
Sie las:
Du stellst Susanne Sto Helit zur Rede. Vergiss das bloß nicht!
»Susanne?« In ihrer Frage schwang ein zweifelnder Unterton mit.
»Ja, Fräulein Steiß?«
Wenn sie sich konzentrierte, sah sie Susanne vor sich sitzen. Wenn sie die Ohren spitzte, konnte sie ihre Stimme hören. Sie musste nur gegen die immer übermächtiger werdende Überzeugung ankämpfen, allein zu sein.
»Von Fräulein Sperrig und Fräulein Merk hat es Klagen gegeben«, krächzte sie.
»Aber ich nehme immer am Unterricht teil, Fräulein Steiß.«
»Das glaube ich dir gern. Die Kolleginnen Verräter und Stampfer bestätigen, dass sie dich in ihren Stunden vor Augen haben.« Worüber es im Lehrerzimmer eine ziemlich heftige Diskussion gegeben hatte. »Ob es wohl damit zu tun haben könnte, dass dir Logik und Mathematik liegen und du für Sprache und Geschichte nichts übrighast?«
Sie zögerte. Das Kind konnte das Rektorat unmöglich verlassen haben. Sie musste ihren Verstand bis zum Äußersten strapazieren, um andeutungsweise eine Antwort zu erhaschen: »Weiß ich auch nicht, Fräulein Steiß.«
»Susanne, es stört wirklich ungemein, wenn du …«
Fräulein Steiß brach ab. Ihr Blick wanderte im Büro umher und blieb zuletzt an einem Zettel hängen, der an den vor ihr liegenden Ordner geheftet war. Sie las ihn – zumindest hatte es den Anschein –, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Anschließend griff sie zu einem Stift, starrte einen Augenblick reglos geradeaus und nahm sich dann die Buchführung für die Schule vor.
Nachdem Susanne noch eine Weile höflich gewartet hatte, stand sie auf und ging so geräuschlos wie möglich hinaus.
Manche Dinge müssen vor anderen Dingen geschehen. Die Götter spielen mit den Schicksalen der Menschen. Aber erst nachdem sie die Figuren aufs Brett gestellt und überall nach den Würfeln gesucht haben.
In Llamedos regnete es. In dem kleinen gebirgigen Land regnete es immer. Der Regen war sein wichtigster Exportartikel. Er wurde sogar in Bergwerken abgebaut.
Unter dem Laubdach eines immergrünen Baums hockte der Barde Imp – eher aus Gewohnheit als in der begründeten Hoffnung, Schutz vor dem Regen zu finden. Das Wasser tropfte zwischen den stacheligen Blättern einfach hindurch und strömte in Bächen von den Zweigen wie durch einen Regenkonzentrator. Hin und wieder klatschte es dem Barden regelrecht in Klumpen auf den Kopf.
Er war achtzehn, hochbegabt und litt an akutem Weltschmerz.
Imp stimmte seine Harfe, seine wunderbare neue Harfe, und blickte wehmütig in den Regen hinaus. Die Tränen, die ihm über das Gesicht liefen, mischten sich mit den Tropfen.
Ein Mensch, wie ihn die Götter lieben.
Es heißt, dass die Götter den, den sie zu vernichten trachten, zunächst mit Wahnsinn schlagen. Doch in Wahrheit drücken sie ihm als Allererstes das Äquivalent einer Stange Dynamit mit brennender Lunte in die Hand. Das ist spannender und geht schneller.
Susanne schlurfte...




