E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Pratchett Hohle Köpfe
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22524-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Scheibenwelt-Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-22524-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Terry Pratchett, geboren 1948, schrieb 1983 seinen ersten Scheibenwelt-Roman - ein großer Schritt auf seinem Weg, einer der erfolgreichsten Autoren Großbritanniens und einer der populärsten Fantasy-Autoren der Welt zu werden. Von Pratchetts Romanen wurden weltweit 85 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke sind in 40 Sprachen übersetzt. Für seine Verdienste um die englische Literatur verlieh ihm Queen Elizabeth sogar die Ritterwürde. Terry Pratchett starb am 12.3.2015 im Alter von 66 Jahren.
Weitere Infos & Material
Korporal der Höchst Ehrenwerte Graf von Ankh Nobby Nobbs stieß die Tür zum Wachhaus auf und wankte hinein.
Feldwebel Colon blickte vom Schreibtisch auf und rang nach Luft: »Geht’s dir nicht gut, Nobby?« Dann eilte er der schwankenden Gestalt entgegen, um sie zu stützen.
»Es ist schrecklich, Fred. Ganz schrecklich!«
»Setz dich erst mal hin. Du bist ja kreidebleich.«
»Ich bin erhoben worden, Fred!«, stöhnte Nobby.
»Gemein! Hast du gesehen, wer’s war?«
Nobby reichte ihm wortlos die Schriftrolle, die ihm Dragon Wappenkönig in die Hand gedrückt hatte, und ließ sich auf den Stuhl plumpsen. Dann zog er den Stummel einer selbstgedrehten Zigarette hinter dem Ohr hervor und zündete ihn mit zitternder Hand an. »Ich weiß es nicht, keine Ahnung«, sagte er. »Da tut man sein Bestes, um nicht aufzufallen, man macht keinen Ärger, und dann passiert so was!«
Colon las sich den Schrieb langsam durch und bewegte die Lippen an den Stellen mit den schwierigen Wörtern wie »und« oder »die«. »Hast du das gelesen, Nobby? Da steht, du bist ein Lord!«
»Der alte Mann hat gesagt, sie müssten alles noch mal genau überprüfen und so, aber mit dem Ring, und überhaupt ist die Sache ziemlich klar. Was soll ich bloß machen, Fred?«
»Also ich würde sagen: Hände in den Schoß legen und ab jetzt von Hermelintellern speisen!«
»Genau das ist der Haken dabei, Fred. Es gibt kein Geld. Kein großes Haus. Kein Land. Nicht mal einen roten Heller!«
»Was? Nichts?«
»Gar nix, Fred.«
»Ich dachte, die feinen Pinkel hätten alle Truhen voller Geld.«
»Ich bin wohl einer von den ganz armen feinen Pinkeln, Fred. Und ich hab keinen Schimmer, wie man so ein Lord ist. Ich will auch nicht in schnieken Klamotten rumlaufen und auf Jägerbälle gehen und was weiß ich noch alles.«
Feldwebel Colon setzte sich neben ihn. »Hast du denn nicht gewusst, dass du so eine schnieke Verwandtschaft hast?«
»Na ja … mein Vetter Vincent ist mal eingebuchtet worden, weil er sich einem Hausmädchen von der Herzogin von Quirm unsittlich genähert hat …«
»Zimmermädchen oder Küchenmagd?«
»Küchenmagd, glaub ich.«
»Dann zählt es wahrscheinlich nicht. Weiß sonst noch jemand davon?«
»Na, sie natürlich, und sie hat sich auch prompt bei …«
»Ich meine, dass du ein Lord bist und so weiter.«
»Nur Herr Mumm.«
»Na also«, sagte Feldwebel Colon und gab ihm das Schriftstück zurück. »Du musst es ja niemandem sagen. Dann musst du auch nicht in goldenen Hosen herumspazieren und musst auch keine Bälle jagen, es sei denn, du hast welche verloren. Bleib einfach hier sitzen, und ich hol dir eine Tasse Tee, was meinst du? Wir kriegen das schon geschaukelt, keine Bange.«
»Bist’n echter Kumpel, Fred.«
»Damit wären wir schon zwei, Mylord!« Colon wackelte mit den Augenbrauen. »Kapiert? Hast du’s kapiert?«
»Hör schon auf, Fred«, wehrte Nobby matt ab.
Die Tür ging auf.
Nebel quoll wie Rauch herein. Mitten im Nebel leuchteten zwei rote Augen. Die sich teilenden Schwaden enthüllten die massige Gestalt eines Golems.
»Umpf!«, entfuhr es Feldwebel Colon.
Der Golem hielt seine Tafel hoch.
Ich bin hergekommen.
»Ja. Ja. Ja. Ist, ähm … ja, das sehe ich«, sagte Colon.
Dorfl drehte die Tafel um. Auf der Rückseite stand:
Ich stelle mich wegen Mord. Ich bin derjenige, der den alten Priester umgebracht hat. Das Verbrechen ist aufgeklärt.
Sobald seine Lippen nicht mehr zitterten, rannte Colon eilig hinter die plötzlich ziemlich windige Barrikade seines Schreibtischs und kramte dort in irgendwelchen Papieren herum.
»Halt ihn in Schach, Nobby!«, sagte er. »Pass auf, dass er nicht abhaut.«
»Warum sollte er abhauen?«, wollte Nobby wissen.
Feldwebel Colon fand ein relativ sauberes Blatt Papier.
»Gut. Also. Dann … wollen wir mal. Äh … wie heißt du?«
Der Golem schrieb:
Dorfl.
* * *
Als er auf der Messingbrücke ankam (mittelgroße Pflastersteine von der abgerundeten Sorte, die man »Katzenköpfe« nannte, hier und da fehlten welche), fragte sich Mumm bereits, ob er die richtigen Entscheidungen getroffen hatte.
Im Herbst war der Nebel schon immer sehr dicht gewesen, aber so schlimm hatte er ihn noch nicht erlebt. Wie ein Leichentuch lag er über der Stadt und erstickte sämtliche Geräusche, er verwandelte die hellsten Lichter in trübe Funzeln, obwohl die Sonne genau genommen noch nicht mal untergegangen war.
Mumm ging dicht am Geländer entlang. Im Nebel vor ihm ragte eine gedrungene schimmernde Gestalt auf. Es war eines der hölzernen Flusspferde, ein ferner Vorfahr von Roderich oder Kimbert. Es gab vier von ihnen auf jeder Seite der Brücke, und alle blickten in Richtung Meer.
Mumm war schon tausende Male an ihnen vorübergegangen. Sie waren alte Freunde. Oft schon hatte er in kühlen Nächten im Windschatten des einen oder anderen gestanden und dort ein Weilchen Ruhe gefunden.
Genau – so war es früher mal gewesen. Dabei schien das alles noch nicht mal so lange her zu sein. Die Wache hatte aus einer Handvoll Leute bestanden, die allen Schwierigkeiten nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen waren. Dann war Karotte aufgetaucht, und auf einmal hatte sich der enge Kreis ihres Lebens erweitert, und jetzt zählte die Wache fast dreißig Mann (darunter Trolle, Zwerge und sonstige), und sie drückten sich nicht irgendwo in der Stadt herum, um dem Ärger aus dem Weg zu gehen, sie suchten förmlich nach Ärger. Und sie fanden ihn überall, ganz egal, wo sie danach suchten. Schon komisch. Wie es Vetinari in seiner unnachahmlichen Art einmal ausgedrückt hatte: Je mehr Polizisten man hatte, desto mehr Verbrechen wurden begangen. Aber die Wache war wieder da und patrouillierte auf den Straßen, und wenn auch nicht alle beim In-den-Arsch-Treten so gut wie Detritus waren, so klopften sie dem einen oder anderen doch empfindlich auf den Hintern.
Er rieb ein Streichholz am Zehennagel eines Flusspferdes an und wölbte die Finger darum, um seine Zigarre vor der Feuchtigkeit zu schützen.
Und jetzt diese Morde. Wenn sich die Wache nicht darum kümmerte, kümmerte sich niemand darum. Zwei alte Männer, am gleichen Tag ermordet. Dabei war nichts gestohlen worden. Er korrigierte sich: Allem Anschein nach war nichts gestohlen worden. Das Problem bei gestohlenen Sachen bestand ja gerade darin, dass sie nicht mehr da waren. Die Opfer hatten so gut wie sicher nicht mit den Ehefrauen anderer Männer herumgemacht. Wahrscheinlich hatten sie sich nicht einmal mehr daran erinnern können, was Herummachen eigentlich war. Der eine hatte seine Zeit mit frommen Büchern verbracht, und der andere, bei allen Göttern, war eine Koryphäe auf dem Gebiet der aggressiven Verwendung von Backwaren gewesen.
Vermutlich konnte man behaupten, alle beide hatten ein untadeliges Leben geführt.
Aber Mumm war Polizist. Niemand führte ein völlig untadeliges Leben. Eventuell lag es im Bereich des Möglichen, einen Tag völlig reglos irgendwo in einem Keller zu verbringen, ohne ein Verbrechen zu begehen. Aber nur eventuell.
Wahrscheinlich machte man sich sogar dann des unbefugten Herumlungerns schuldig.
Angua schien diesen Fall persönlich zu nehmen. Sie hatte schon immer ein Herz für Benachteiligte gehabt.
Mumm erging es genauso, er konnte einfach nicht anders. Und zwar nicht, weil die Benachteiligten unschuldiger oder edler wären, nein, man musste einfach auf ihrer Seite sein, weil sie eben keine Bevorteiligten waren.
In dieser Stadt kümmerte sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten. Deshalb gab es die Gilden. Leute verbündeten sich gegen andere Leute. Die Gilden kümmerten sich um einen, von der Wiege bis zur Bahre, oder, im Falle der Assassinen, bis zur Bahre anderer Leute. Sie achteten sogar die Gesetze, zumindest war es einmal so gewesen, in gewisser Hinsicht. Diebstahl ohne Lizenz konnte schon beim ersten Mal mit dem Tode bestraft werden.11 Dafür sorgte die Diebesgilde. Auch wenn es sich unglaublich anhörte – es funktionierte.
Es funktionierte wie eine Maschine. Was normalerweise auch gut und schön war – nur nicht für diejenigen, die versehentlich zwischen die Zahnräder gerieten.
Das feuchte Pflaster unter seinen Sohlen fühlte sich auf eine beruhigende Art und Weise echt an.
Bei den Göttern – wie hatte ihm das gefehlt! Früher war er ganz allein Streife gelaufen. Nur er und die glänzenden Steine gegen drei Uhr morgens, und alles ergab irgendwie einen Sinn …
Er blieb stehen.
Die Welt rings um ihn herum erstarrte in einem unbestimmten Grauen, einem Grauen, das nichts mit spitzen Reißzähnen, tropfenden Sekreten oder Geistern zu tun hatte, sondern damit, dass das Vertraute ganz plötzlich unvertraut wurde.
Irgendetwas Grundsätzliches stimmte nicht mehr.
Sein Verstand brauchte ein paar schreckliche Sekunden, um die Einzelheiten dessen nachzuliefern, was sein Unterbewusstsein bemerkt hatte. Auf dieser Seite des Geländers hatten fünf Statuen gestanden.
Dabei hätten es vier sein müssen.
Er drehte sich ganz langsam um und ging zur letzten Statue zurück. Ein Flusspferd, alles klar.
Die nächste ebenso. Mit Graffiti drauf. Nichts Übernatürliches hatte »Zass isn Wikser« darauf gekritzelt....