Pratchett Echt zauberhaft
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-14765-5
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Scheibenwelt-Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-14765-5
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In Hunghung, der Hauptstadt des achatenen Reiches, herrscht Chaos. Der tyrannische Kaiser liegt im Sterben, und Großwesir Lord Hong will an die Macht. Eine Gruppe Widerstandskämpfer setzt heimlich einen Hilferuf in Richtung Unsichtbarer Universität ab: Nur der Große Zaubberer könne noch helfen. In Ankh-Morpork ist man ratlos. Wer ist der Große Zaubberer? Da niemand der Universitätszauberer Kopf und Kragen riskieren will, einigt man sich auf den armen Rincewind, der mittels magischen Beamstrahls prompt nach Hunghung befördert wird. Um dort an der Seite von Cohen dem Barbar Revolution und Roter Armee tüchtig Beine zu machen ...
Terry Pratchett, geboren 1948, schrieb 1983 seinen ersten Scheibenwelt-Roman - ein großer Schritt auf seinem Weg, einer der erfolgreichsten Autoren Großbritanniens und einer der populärsten Fantasy-Autoren der Welt zu werden. Von Pratchetts Romanen wurden weltweit 85 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke sind in 40 Sprachen übersetzt. Für seine Verdienste um die englische Literatur verlieh ihm Queen Elizabeth sogar die Ritterwürde. Terry Pratchett starb am 12.3.2015 im Alter von 66 Jahren.
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Mit einem schmatzenden Plopp war die Truhe plötzlich da und plumpste in eine Schneewehe.
In ihrem Deckel steckte ein Fleischerbeil.
Eine Zeitlang rührte sie sich nicht von der Stelle, dann vollführten ihre Beine einen komplizierten kleinen Tanz, und sie drehte sich um 360 Grad.
Die Truhe dachte nicht. Sie hatte nichts, womit sie hätte denken können. Welche Prozesse in ihr auch stattfinden mochten, sie hatten wahrscheinlich mehr damit zu tun, wie ein Baum auf Sonne, Regen und plötzlich aufziehende Stürme reagierte, nur eben viel schneller.
Schon bald darauf hatte sie sich ausreichend orientiert und stapfte durch den schmelzenden Schnee davon.
Die Truhe fühlte auch nichts. Sie besaß nichts, womit sie hätte fühlen können. Aber sie reagierte, so wie ein Baum auf den Wechsel der Jahreszeiten reagiert.
Ihre Schritte beschleunigten sich.
Sie war nicht weit von zu Hause entfernt.
Rincewind musste zugeben, dass der brüllende Mann recht hatte. Nicht damit, dass er Rincewinds Vater als krankhafte Leber einer besonderen Bergpanda-Art und seine Mutter als einen Eimer Schildkrötenschleim bezeichnete; Rincewind hatte seine Eltern nie persönlich kennengelernt, war jedoch der Ansicht, dass sie zumindest annähernd menschenähnlich gewesen sein mussten, wenn vielleicht auch nur kurzzeitig. Aber was die Tatsache anging, dass Rincewind allem Anschein nach auf einem gestohlenen Pferd saß, lag er ziemlich richtig, außerdem drückte sein Stiefel immer noch auf Rincewinds Nacken. Mit dem Stiefel im Nacken eines anderen hatte man das Gesetz so gut wie sicher auf seiner Seite.
Rincewind spürte, wie seine Taschen durchsucht wurden.
Eine zweite Person – Rincewind war nicht in der Lage, mehr zu sehen als ein paar Zentimeter Schwemmboden, aber der Kontext deutete auf eine eher unsympathische Person hin – stimmte in das herrische Brüllen ein.
Dann wurde Rincewind hochgerissen.
Die Wächter unterschieden sich nicht sonderlich von anderen Wächtern, denen Rincewind schon sonst wo begegnet war. Sie besaßen gerade so viel Grips, um andere Leute zu verprügeln und sie zur Skorpiongrube zu schleifen. Sie waren wahre Meister darin, Leute aus einem Abstand von wenigen Zentimetern Abstand anzuschnauzen.
Surreal an der ganzen Angelegenheit war jedoch, dass die Wächter keine Gesichter hatten, zumindest keine, die sie als die ihren bezeichnen konnten. Ihre reich verzierten, schwarz emaillierten Helme und die darauf gemalten großen, schnurrbärtigen Fratzen ließen nur den Mund frei, damit dessen Besitzer beispielsweise Rincewinds Großvater als Behältnis voll mit minderwertigem Goldfischkot bezeichnen konnte.
Jemand wedelte ihm mit Was ich im Urlaub gemacht habe vor der Nase herum.
»Tüte mit verfaultem Fisch!«
»Ich weiß nicht, was das heißt«, erwiderte Rincewind. »Das hat mir nur jemand gegeben und …«
»Füße aus extrem vergammelter Milch!«
»Könnten Sie vielleicht weniger laut schreien? Ich glaube, mir ist eben ein Trommelfell geplatzt.«
Der Wächter ließ von ihm ab. Vielleicht war ihm auch nur die Luft ausgegangen. Das verschaffte Rincewind die Gelegenheit, sich kurz umzusehen.
Auf der Straße standen zwei Karren. Einer sah aus wie ein Käfig auf Rädern, aus dem ihn verängstigte Gesichter anstarrten. Der andere war eine verzierte, von acht Bauern getragene Sänfte. Prächtige Vorhänge verhüllten die Seiten, aber er sah, dass sie an einer Stelle ein Stück aufgezogen waren. Wer immer darin sitzen mochte, schien ihn zu beobachten.
Auch die Wächter hatten es bemerkt. Es schien ihnen nicht zu behagen.
»Wenn ich mal erklären dü-«
»Schweig, Maul eines …« Der Wächter zögerte.
»Schildkröte, Goldfisch und etwas, womit Sie wahrscheinlich Käse meinten, haben Sie schon benutzt«, sagte Rincewind.
»Maul eines Hühnerkleins!«
Eine lange zarte Hand kam hinter den Vorhängen hervor und winkte, nur einmal.
Rincewind wurde vorwärtsgestoßen. An den Fingern der Hand befanden sich die längsten Fingernägel, die er je an einem Geschöpf gesehen hatte, das nicht schnurrte.
»Kotau!«
»Wie bitte?«, fragte Rincewind.
»Kotau!«
Schwerter wurden gezückt.
»Ich weiß nicht, was Sie wollen!«, heulte Rincewind.
»Kotau, bitte«, flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. Es war keine ausgesprochen freundliche Stimme, aber verglichen mit den anderen Stimmen klang sie deutlich herzlicher. Sie schien einem ziemlich jungen Mann zu gehören. Und sie sprach sehr gut Morporkisch.
»Wie denn?«
»Das weißt du nicht? Du musst dich hinknien und die Stirn auf den Boden drücken. Es sei denn, du willst nie wieder einen Hut aufsetzen können.«
Rincewind zögerte. Er war ein freigeborener Morporkianer, und auf der Liste der Dinge, die für einen freien Bürger nicht infrage kamen, stand die erzwungene Verneigung vor einem Fremden – ohne dem Wort an sich allzu viel Gewicht beizumessen.
Andererseits stand »sich den Kopf abschlagen zu lassen« auf der Liste der Dinge, die für freie Bürger nicht infrage kamen, gleich an erster Stelle.
»Schon besser. Sehr schön. Woher wusstest du, dass du dabei zittern musst?«
»Ach, da bin ich von ganz allein draufgekommen.«
Ein gekrümmter Finger winkte ihn heran.
Ein Wächter schlug Rincewind mit dem schlammverkrusteten Was ich im Urlaub gemacht habe ins Gesicht. Rincewind schnappte es sich schuldbewusst, und der Wächter eilte auf den Zeigefinger seines Herrn zu.
»Stimme?«, fragte Rincewind.
»Ja?«
»Was passiert, wenn ich Immunität beantrage, weil ich Ausländer bin?«
»Dafür gibt es eine besondere Behandlung, irgendetwas mit einer Weste aus Maschendraht und einer Käsereibe.«
»Ach.«
»Und in Hunghung gibt es Folterer, die einen jahrelang am Leben erhalten können.«
»Vermutlich meinen Sie damit nicht gesunde Dauerläufe am Morgen und eine ballaststoffreiche Diät?«
»Nein. Also halt die Klappe, dann wirst du mit einem bisschen Glück als Sklave in meinen Palast geschickt.«
»Glück ist mein zweiter Vorname«, entgegnete Rincewind undeutlich. »Leider lautet mein eigentlicher Vorname Kein.«
»Nicht vergessen zu katzbuckeln und um Gnade zu winseln.«
»Ich werde mich bemühen.«
Wieder erschien die weiße Hand und streckte ein Stück Papier heraus. Der Wächter nahm es entgegen, wandte sich an Rincewind und räusperte sich.
»Lausche der Weisheit und Gerechtigkeit des Bezirkskommissars Ki, Ausgeburt des fauligen Sumpfes! Ich meine nicht ihn, sondern dich!«
Er räusperte sich wieder und glotzte mit zusammengekniffenen Augen auf das Blatt, wie jemand, der das Lesen gelernt hatte, indem er sich einen Buchstaben nach dem anderen sorgfältig aufsagte.
»›Das weiße Pferdchen läuft durch die … die …‹«
Der Wächter drehte sich um und führte eine geflüsterte Unterhaltung mit den Vorhängen, dann wandte er sich wieder um.
»›… Chrysanthemem … menmem … blüten,
Der kalte Wind rührt die
Aprikosenbäume. Sende ihn zum
Palast, wo er schuften soll,
Bis ihm alle Gliedmaßen
abfallen.‹«
Ein paar andere Wächter applaudierten.
»Sieh auf und klatsche«, sagte die Stimme.
»Dann fallen mir vielleicht die Gliedmaßen ab.«
»Die Käsereibe ist ziemlich groß!«
»Zugabe! Bravo! Vortrefflich! Die Stelle mit den Chrysanthemen – einfach wunderschön!«
»Gut. Hör zu. Du kommst aus Bes Pelargic. Du hast den richtigen Akzent, weiß der Himmel, wie du dazu kommst. Das ist eine Hafenstadt, die Leute dort sind ein bisschen komisch. Du bist von Banditen ausgeraubt worden und auf einem ihrer Pferde entkommen. Deshalb kannst du dich nicht ausweisen. Hier braucht man für alles irgendwelche Papiere, auch um nachzuweisen, dass man überhaupt jemand ist. Und tu so, als würdest du mich nicht kennen.«
»Ich kenne Sie ja auch nicht.«
»Gut. Lang leben die möglichen Veränderungen hin zu einem gerechteren Staat – ohne Vernachlässigung des gebührenden Respekts gegenüber den Traditionen unserer Ahnen und natürlich, ohne der erhabenen Person des Kaisers Schaden zuzufügen!«
»Gut. Ja. Wie bitte?«
Ein Wächter trat Rincewind in die Nierengegend. In der überall verstandenen Stiefelsprache bedeutete das: Aufstehen, aber sofort!
Er schaffte es auf ein Knie, dann sah er die Truhe.
Es war nicht seine Truhe, und es gab gleich drei davon.
Die Truhe trabte einen Hügel hinauf und blieb oben so abrupt stehen, dass sie viele kleine Vertiefungen im Boden hinterließ.
Abgesehen davon, dass sie nichts hatte, womit sie hätte denken oder fühlen können, fehlte ihr auch jegliches Instrumentarium zum Sehen. Es war völlig rätselhaft, wie sie überhaupt etwas wahrnehmen konnte.
Sie nahm die anderen Truhen wahr.
Die drei standen geduldig in einer Reihe hinter der Sänfte. Sie waren groß, und sie waren schwarz.
Die Beine der Truhe verschwanden in ihrem Körper.
Es verging eine gewisse Zeit, dann öffnete sie sehr vorsichtig ihren Deckel. Nur einen winzigen Spalt.
Von den drei Dingen, die den meisten Menschen zu Pferden einfällt, ist das dritte, dass ein Pferd über eine kurze Distanz nicht so schnell...