E-Book, Deutsch, 702 Seiten
Powers DIE KALTE BRAUT
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7438-7301-8
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Fantasy-Klassiker - nominiert für den World-Fantasy- und den Locus-Award!
E-Book, Deutsch, 702 Seiten
ISBN: 978-3-7438-7301-8
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
1816: In einer regnerischen Nacht taumelt ein Mann durch die Straßen einer englischen Kleinstadt und streift einer verzauberten Statue seinen Verlobungsring auf den Finger... Ahnungslos erwacht der Arzt Dr. Michael Crawford am Morgen nach seiner Hochzeit und entdeckt den entstellten Leichnam seiner Frau neben sich. Auf der Flucht vor der Schlinge des Henkers flieht er in die Schweiz und sucht Hilfe bei den Dichtern John Keats, Percy Shelley und Lord Byron, die ihm das Geheimnis jener Macht enthüllen sollen, die sein Schicksal beherrscht. Denn Crawford hat eine zweite - eine heimliche - Braut, der die Stunden seines Schlafes gehören: la belle dame sans merci, die gnadenlose Schöne, die betörende Muse der Dichter. Ebenso schön wie böse, hält sie ihre zahlreichen Liebhaber in lustvoller Abhängigkeit und richtet sie langsam zugrunde. Es gibt einen Ausweg, doch dieser Ausweg ist schrecklicher als der Tod... 'Nahtlos verbindet Powers historische Fakten, Legende und Phantasie zu einem Roman voll düsteren Vergnügens, der tief erschüttert und gleichzeitig höchsten Lesegenuss schenkt.' (Twilight Zone) 'Es gibt kaum bessere und anspruchsvollere Fantasy-Literatur als Die kalte Braut.' (The Oxford Times)
Autoren/Hrsg.
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Prolog: 1816
»Bring auch... einen neuen Degenstock mit... (mein letzter fiel in diesen See).« - Lord Byron, an John Cam Hobhouse, 23. Juni 1816 Bevor der Sturm ausbrach, war der Lac Léman, der Genfer See, so still, dass die beiden Männer, die im offenen Bug des Segelboots miteinander sprachen, getrost ihre Weingläser auf den Ruderbänken abstellen konnten. Wie gewelltes Glas lagen die Bugwellen zu beiden Seiten; backbords fächerten sie weit über den See aus, nach Steuerbord hin rollten sie langsam das Ufer entlang und schienen im späten Glanz des Nachmittags bis zu den grünen Gebirgsausläufern hinaufzuspülen, um als Luftspiegelung über das zerklüftete, schneefleckige Haupt des Dent d'Oche zu flirren. In einem Buch schmökernd, hockte ein Diener auf einem der Sitze, und die Seemänner schienen zu dösen; noch brauchten sie den Kurs nicht zu ändern. Als die Unterhaltung der beiden Touristen ins Stocken geriet, wehte der Wind den Klang ferner Kuhglocken herbei, was wie die Melodie einer zarten Äolsharfe anmutete. Der Mann im Winkel des Bugs schaute mit trägem Blick hinüber zum östlichen Seeufer. Obwohl er erst achtundzwanzig Jahre alt war, schimmerte schon Grau in seinen lockigen dunkelroten Haaren, und die blasse Haut um Augen und Mund zeigte Fältchen, die ironischen Humor verrieten. »Das Schloss dahinten ist Chillon«, erklärte er seinem jüngeren Begleiter, »wo die Herzöge von Savoyen ihre politischen Gefangenen in Verliese warfen, die tiefer lagen als der Wasserspiegel. Stell dir vor, zu einem vergitterten Fenster hochzuklettern und einen solchen Ausblick vorzufinden.« Er wies hinaus auf die ferne weiße Welt der Alpen. Der Freund fuhr mit den Fingern seiner dünnen Hand durchs dichte blonde Haar und schaute nach vorn. »Es steht wohl auf einer Halbinsel, oder? Reicht weit in den See hinein. Ich schätze, sie würden sich freuen über das viele Wasser ringsum.« Lord Byron musterte Percy Shelley; wieder einmal war er nicht sicher, was der junge Mann eigentlich meinte. Er hatte ihn vor knapp einem Monat hier in der Schweiz getroffen, und obwohl sie viel miteinander gemein hatten, war ihm Shelley in mancher Hinsicht ein Rätsel geblieben. Beide hatten England aus freien Stücken den Rücken gekehrt. Byron war vor einem Konkurs und einer gescheiterten Ehe sowie, was weniger bekannt war, vor dem Skandal geflohen, die eigene Halbschwester geschwängert zu haben. Vor vier Jahren war er mit der Publikation des langen, weitgehend autobiographischen Gedichts Junker Harolds Pilgerfahrt zu einem der gefeiertsten Dichter des Landes aufgestiegen; doch die Gesellschaft, die ihn damals bejubelt hatte, verschmähte ihn jetzt. Wenn englische Touristen ihn auf den Straßen entdeckten, zeigten sie mit dem Finger auf ihn, und nicht selten markierten Damen bei seinem Anblick einen Ohnmachtsanfall. Shelley war längst nicht so berühmt, aber seine Tiraden auf das Eigentum schreckten manchmal sogar Byron ab. Wegen eines Pamphlets, das den Atheismus predigte, hatte er sein Studium in Oxford abbrechen müssen. Er war von seinem vermögenden Vater enterbt worden und hatte seine Frau und seine zwei Kinder verlassen, um mit der Tochter des radikalen Londoner Philosophen William Godwin davonzulaufen. Godwin war vom Rigorismus, mit dem die Tochter sein abstraktes Plädoyer für die freie Liebe in die Tat umsetzte, nicht allzu begeistert gewesen. Byron zweifelte daran, dass Shelley wirklich froh wäre, über das viele Wasser ringsum. Die Steinmauern mussten doch leck sein, und Gott allein wusste, wie feucht und faul es an einem solchen Ort sein mochte. War es Naivität, die Shelley diese Worte in den Mund legte, oder steckte eine geheimnisvolle überirdische Qualität dahinter, die Heilige früher dazu veranlasst hatte, ihr Leben auf Säulen in der Wüste hockend zu verbringen? Und war Shelleys Verteufelung von Religion und Ehestand wirklich ernst gemeint oder doch nur die Ausflucht eines Feiglings, der nach Lust und Laune leben wollte, ohne eine Schuld anerkennen zu müssen? Courage schien ihm wirklich nicht eigen zu sein. Vor vier Nächten hatten Shelley und die beiden jungen Frauen, mit denen er reiste, Byron einen Besuch abgestattet, und das regnerische Wetter hielt die kleine Gesellschaft im Haus zurück. Byron hatte die Villa Diodati gemietet, einen inmitten von Weingärten gelegenen Säulenbau, in dem schon zwei Jahrhunderte zuvor Milton Gast gewesen war. Bei warmem Wetter, wenn die Gäste über die Terrassengärten ausschwärmen oder von der breiten Veranda aus den See überblicken konnten, wirkte das Anwesen groß und geräumig; aber in dieser Gewitternacht, als das Wasser durch die Türen zu schwemmen drohte, schien das Haus eng zu sein wie eine Fischerkate. Byron war ganz besonders unwohl zumute gewesen, weil Shelley nicht nur Mary Godwin mitgebracht hatte, sondern auch deren Stiefschwester Claire Clairmont, die, wie's der Zufall wollte, Byrons letzte Geliebte in London gewesen war und nun durch ihn in Hoffnung zu sein schien. Der Sturm, der hinterm Fenster heulte, und die in wechselhafter Zugluft flackernden Kerzen lenkten die Unterhaltung auf Geister und übernatürliche Erscheinungen - zum Glück für Byron, denn Claire, das war bald klar, ließ sich durch solche Themen allzu schnell bange machen, was ihm Gelegenheit gab, sie in Angst und Schrecken zu versetzen; und abgesehen davon, dass sie gelegentlich entsetzt nach Luft schnappte, blieb sie stumm. Shelley war mindestens ebenso leichtgläubig wie Claire, fand aber Vergnügen an den Vampir- und Phantomgeschichten, und nachdem Byrons Leibarzt, ein eitler junger Mann namens Polidori, von einer Frau erzählt hatte, die mit blankem Schädel statt Kopf umherstreifend gesehen worden sein sollte, beugte sich Shelley vor und klärte die Gesellschaft mit leiser Stimme über die Gründe auf, die ihn und seine inzwischen verlassene Frau vor vier Jahren bewogen hatten, aus Schottland zu fliehen. Die Erzählung bestand mehr aus Andeutungen und Stimmungsbildern als aus wirklich konkreten Einzelheiten. Aber Shelley - seine langfingrigen Hände zitterten im Kerzenlicht, und die großen Augen stachen funkelnd aus dem Wust seiner Locken hervor - war von der eigenen Geschichte offenbar selbst so überzeugt, dass sogar Mary Godwin, ansonsten sehr vernünftig, verängstigte Blicke auf die regennassen Fenster warf. Laut Shelley waren er und seine Frau zu eben jener Zeit in Schottland eingetroffen, als man dort eine junge Bauernmagd mit Namen Mary Jones zu Tode zerhackt aufgefunden hatte. Eine Schafsschere war nach Ansicht der Behörden die Mordwaffe gewesen. »Der Schuldige«, flüsterte Shelley, »soll ein Riese gewesen sein, den die Ortsansässigen den Bergkönig nennen.« »Ein Riese?« Claire war sichtlich verstört. Byron warf Shelley einen dankbaren Blick zu, denn er glaubte, dass sein junger Freund gleichfalls darauf aus war, Claire zu schrecken, um sie nicht auf das Thema ihrer Schwangerschaft kommen zu lassen. Doch Shelley nahm ihn überhaupt nicht wahr. Es machte ihm, wie Byron feststellte, einfach Spaß, anderen Angst einzujagen. Trotzdem war Byron dankbar. »Man nahm einen Mann fest«, fuhr Shelley fort, »einen gewissen Thomas Edwards, dem das Verbrechen zur Last gelegt und die Schlinge um den Hals gelegt wurde. Aber ich weiß, dass er nur als Sündenbock herhalten musste. Wir...« Polidori lehnte sich in seinem Sessel zurück und sagte, streitlustig und mit gekünstelter Stimme, wie man es von ihm gewohnt war: »Woher wussten Sie das?« Shelley krauste die Stirn, und weil ihm das Gespräch offenbar eine allzu persönliche Note angenommen hatte, setzte er fahrig und mit schnell dahingesprochenen Worten nach: »Woher? Das - das wusste ich aufgrund meiner Recherchen. Ich war ein Jahr zuvor, noch in London, sehr krank gewesen, hatte Halluzinationen und schreckliche Schmerzen in der Seite... tja, da blieb mir eben viel Zeit zum Studieren. Ich habe mich mit Elektrizität und mit der Berechnung der Tagundnachtgleiche beschäftigt... und auch mit dem Alten Testament, der Schöpfung...« Ungeduldig schüttelte er den Kopf, und Byron fand, dass die Frage, so verrückt sie auch beantwortet worden war, sehr viel Wahres über Shelley hervorgebracht hatte. »Wie dem auch sei«, fuhr Shelley fort, »am sechsundzwanzigsten Februar - einem Freitag - hielt ich es für besser, mit zwei geladenen Pistolen zu Bett zu gehen.« Polidori öffnete den Mund und wollte einen Kommentar abgeben, doch Byron ließ ihn nicht zu Wort kommen und sagte unwirsch: »Still jetzt!« »Ja, Pollydolly«, sagte Mary, »warten Sie, bis die Geschichte vorbei ist.« Polidori setzte sich zurück und zog einen Flunsch. »Und wir waren kaum eine halbe Stunde im Bett«, erzählte Shelley, »als ich ein Geräusch im Stockwerk tiefer hörte. Ich ging nach unten, um nachzusehen, und ertappte eine Gestalt, die das Haus gerade durch ein Fenster verlassen wollte. Da griff sie mich an, aber ich konnte einen Schuss abgeben und traf - in die Schulter.« Byron machte sich mit gerunzelter Stirn über Shelleys Schießkunst lustig. »Und das Ding wirbelte herum, baute sich vor mir auf und sagte: Du willst mich erschießen? Bei Gott, das wird gerächt. Ich töte deine Frau. Ich vergewaltige deine Schwester. Und dann nahm es Reißaus.« »Es?«, fragte Claire zaghaft. Auf einem Tisch nahe seinem Sessel waren Papier, Feder und Tintenfass. Shelley nahm die Feder zur Hand, tauchte sie ein und zeichnete eine flüchtige Skizze. »So ungefähr sah mein Angreifer aus«, sagte er und hielt das Blatt ans...