E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Power Mothers
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2168-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-2168-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chris Power ist Autor der hochgelobten Erzählungssammlung Mothers (Ullstein, 2019). Ein einsamer Mann ist sein Debütroman. Chris Power lebt und arbeitet in London.
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Sommer 1976
Ich habe an meine Mutter gedacht und an jenen Sommer, in dem ich über Nisse Hofmann gelogen habe. Sechs Wochen lang herrschte eine Affenhitze; man konnte den ganzen Tag draußen sein, ohne einen einzigen Lufthauch zu spüren. Im September wurde ich elf, aber die heißen Tage vergingen so langsam, dass ich glaubte, mein Geburtstag würde nie kommen. Die Birke auf dem Rasen vor unserem Mietshaus stand still wie ein Wachsoldat; kein Zweig regte sich. Die Borke staubte ein, die Blätter hingen wie Lumpen herab. Tagsüber, wenn sich dort niemand sonst aufhielt, war es, als wäre die Welt stehen geblieben.
Im Frühjahr waren Mum und ich aus Stockholm in diese neue Siedlung außerhalb der Stadt gezogen. Alles war makellos und identisch, weshalb auch auf dem Rasen vor jedem Gebäude stets eine Birke wuchs. Hier wollten eine Menge Leute wohnen, aber Mums Freund Anders kannte wen bei der Wohnungsgesellschaft. Anders war es auch, der gesagt hatte, wir müssten raus aus unserer alten Wohnung, weil sie heruntergekommen sei und zu klein. So wie hier, sagte er, müsse man leben: im Grünen und mit Platz für Bewegung. Erst später kam mir der Gedanke, dass ihm unsere alte Wohnung nicht gefiel, weil Mum da mit meinem Dad gelebt hatte. Und mit mir; allerdings war Dad schon gestorben, als ich noch zu klein war, um mich an was erinnern zu können. »Ihm ging es gut, dann wurde er krank, und er starb«, hatte Mum es mir erklärt. »Einfach so«, sagte sie und klatschte dabei in die Hände, als würde sie Mehl abschlagen. Danach sind wir in dieses neue Haus gezogen, fort vom Geist meines Vaters; und Anders wollte mich sein kleines Mädchen nennen, aber das hat er bald wieder aufgegeben.
***
Unser Gebäude war lang und rechtwinklig und unglaublich weiß. Es hatte vier Stockwerke und vier Treppenhäuser: A, B, C und D. Wir wohnten in 4B, zweiter Stock. An meiner Schlafzimmerwand hing eine große Weltkarte, und in der Lade vom Nachtschränkchen bewahrte ich einen Bogen mit Stickern auf, roten und blauen. Die roten Sticker waren für die Länder, in denen ich schon gewesen war, die blauen Sticker für die Länder, in die ich reisen wollte. Dänemark und Schweden waren die einzigen Länder mit roten Stickern. Manchmal habe ich den roten Sticker für Schweden wieder abgemacht, weil ich das geschummelt fand, aber über kurz oder lang kam er doch wieder ran. Mit der Zeit wuchs die Zahl der blauen Sticker: Frankreich, Irland, Russland, Spanien, Brasilien, Amerika, Jugoslawien. Ich wählte die Länder aus, weil mir der Klang ihrer Namen gefiel, weil ich in einer Fernsehsendung was über sie gesehen oder weil ich in Mums Reisebuch darüber gelesen hatte, einem dicken Taschenbuch, das ich mir auf den Schoß wuchtete, um dann stundenlang darin zu lesen. Bei manchen, wie Japan, gefiel mir einfach die Form des Landes.
Nisse Hofmann wohnte ebenfalls im zweiten Stock, ein Treppenhaus weiter. Er war in meinem Alter und hatte auch keinen Dad. Unsere Wohnungen waren nicht nur Nachbarwohnungen, unsere Schlafzimmer grenzten sogar aneinander. Ich konnte ihn am Fenster sehen, wie er Sticker auf die Scheibe klebte. Von außen erkannte man nur die weiße Rückseite, aber der Umriss verriet mir, dass es Soldaten, Flugzeuge und Autos waren. Nachts stieg ich manchmal aus dem Bett, presste mein Ohr an die Wand und versuchte, ihn zu hören.
Nisses Mum war die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Sie hatte weißblondes Haar und war so traumhaft, dass sie grausam aussah. Ich kapierte nicht, dass es jemand wie sie an einem so dermaßen langweiligen Ort wie unserem Wohnblock aushielt. Sie schien mit demselben Gedanken zu hadern: Ich habe es nicht ein einziges Mal erlebt, dass sie glücklich aussah, ihrer Schönheit aber tat das keinen Abbruch. Meine Mum war auf ihre Weise auch hübsch, aber die Sorgen, die sie sich ständig über dieses oder jenes machte, hinterließen Spuren in ihrem Gesicht und wurden bald zum Einzigen, das man darin sah. Ich schaue nicht gern in Spiegel, aber wenn, dann starrt mich ihr Gesicht an. Nur bin ich heute viel älter, als sie es je werden sollte.
Wenn ich Mrs Hofmann mit anderen Männern zusammen sah, fragte ich mich, ob sie so schlimm wie Anders oder vielleicht sogar noch schlimmer waren. Und abends fragte ich mich manchmal, ob Nisse sein Ohr an denselben Flecken Wand presste, zwischen uns nur wenige Zentimeter. Im Dunkel seines Zimmers sah ich sein blondes Haar leuchten.
Nicht dass ich Nisse gemocht hätte. Er preschte wie ein Tier um die Wohnblöcke, trampelte Blumen nieder und hieb auf Bäume ein. Er machte Sand nass, buk aus dem Matsch Kugeln und bewarf damit andere Jungen, um dann die schwarzen, schmierigen Hände auszustrecken und hinter Mädchen herzujagen. Ich selbst mied solche Spiele. Manchmal spielte ich mit anderen Kindern aus der Siedlung, aber nie mit Nisse.
Eines Tages sah ich eine Schar von sieben, acht Kindern, die sich an der Ecke unseres Wohnblocks über etwas beugten. Sie standen oder knieten in der Erde eines Blumenbeets, wie gebannt von dem, was ich nicht sehen konnte. Neugierig linste ich über ihre Rücken, um mehr herauszufinden.
»Was ist es?«, fragte ich, weil ich zwischen ihren dicht gedrängten Leibern nicht hindurchsehen konnte.
In dem Moment stand Nisse auf, der inmitten dieser Schar steckte, weshalb alle zurückweichen mussten. »Nur das hier«, sagte er, während er sich umdrehte, und ich sah einen kleinen, verschwommenen Schemen auf mich zufliegen. Instinktiv langte ich danach, um ihn zu fangen: eine tote Maus. Ich hielt sie nur einen Moment, ehe ich sie zu Boden warf, schaudernd wegen ihrer kalten, starren Kompaktheit, ihres drahtigen, schmutzverklebten Fells. Das Gefühl haftete an meinen Händen. Alle um mich herum lachten.
»Du gemeines Biest«, schrie ich Nisse an.
Weinend rannte ich zurück zur Wohnung, um meiner Mum – sobald sie sich davon überzeugt hatte, dass ich unverletzt war – das Vorgefallene zu erzählen. »Na schön«, sagte sie und verließ die Wohnung. Ich trat ans Fenster und sah, wie sie aus unserer Tür kam und zum nächsten Treppenhaus ging. An jenem Abend legte ich das Ohr an die Wand und konnte deutlich hören, wie Mrs Hofmann Nisse anschrie, auch wenn ich die heisere, barsche Stimme kaum mit ihrem schönen Aussehen in Einklang brachte. Es war, als lebte in ihrer Wohnung noch eine Frau, die nur dann auftauchte, wenn jemand bestraft werden musste. Später, das Geschrei war schon lang vorbei, saß ich aufrecht im Bett, das Ohr an die kühle Wand gepresst. Ich weiß noch, dass ich lächelte, als ich, nur sehr undeutlich, Nisse weinen hörte.
***
Mum arbeitete im Büro einer nahe gelegenen Fabrik, und Anders fuhr jeden Morgen mit dem ältlichen Saab nach Stockholm; sein Job hatte irgendwas mit den städtischen Telefonleitungen zu tun. Ich habe ihn mal danach gefragt, er hatte jedoch geantwortet, was er mache, sei für kleine Mädchen zu kompliziert. Während der Ferien war ich meist allein, das machte mir allerdings nichts aus. Solange ich genug Bücher hatte, wurde mir nicht langweilig. Tagsüber las ich oft im tüpfeligen Schutz der Birke, rückte mit dem Schatten mit, der über den Rasen wanderte. Es war, als säße ich im Zentrum eines riesigen Ziffernblattes; erst zog der Baumschatten längs über unser Mietshaus, dann über die angrenzenden Häuser. Ein paar Tage nachdem Nisse mir die Maus zugeworfen hatte, begann er immer wieder an mir vorbeizulaufen. Er tat, als würde er mich gar nicht wahrnehmen, aber ich sah die kleinen, huschenden Bewegungen seiner Augen, wenn er mir von der Seite Blicke zuwarf. Ich konnte viel besser verbergen, wohin ich guckte. Er machte laute Geräusche und stürzte zu Boden – erstürmte Maschinengewehrnester und warf sich auf Granaten –, doch nach einer Weile hatte er von diesem Spiel genug und wurde stiller. Ich war in mein Buch vertieft und ganz erstaunt, dass er, als ich das nächste Mal hochsah, immer noch da war und an unserem Haus hinaufblickte.
»Was gibst du mir, wenn ich ihn durchs mittlere Fenster werfe?«, sagte er, in der Hand einen roten Apfel, von dem er einmal abgebissen hatte.
Er sah zu den Treppenhausfenstern hoch, die in diesem Sommer Tag und Nacht offen standen, um im Haus für einen leichten Luftzug zu sorgen.
»Das ist das Fenster vor unserer Wohnung«, sagte ich.
»Weiß ich. Wir sind Nachbarn.«
Mir wurde heiß im Gesicht, als er das sagte. Irgendwie hatte ich nicht daran gedacht, dass Nisse oder sonst wer auch darauf kommen könnte. Vielleicht legte er ja wirklich sein Ohr an die Wand, genau wie ich. Und vielleicht hatten wir beide tatsächlich zur selben Zeit versucht, etwas vom anderen zu hören. »Das triffst du nicht«, sagte ich.
»Tu ich doch.«
»Okay, beweis es.«
»Aber was gibst du mir dafür?«, sagte Nisse. Er versuchte, trotzig zu klingen, dabei schwang in seiner Stimme ein quengeliger Ton mit, der mich begreifen ließ, dass ich Macht über ihn hatte. Wie aufregend.
»Zeig mir erst, dass du es kannst«, sagte ich lässig. »Dann sehen wir weiter.«
Nisse schaute zum Fenster hoch und ging ein paar Schritte zurück, wobei er den Apfel einige Male hob und senkte. Als er dann mit dem rechten Arm rückwärts ausholte, streckte er den linken vor und deutete damit auf sein Ziel. Er schleuderte den Apfel mit voller Kraft, und er flog durchs offene Fenster, als würde er an einem Faden hochgezogen. Mit einem leisen Klatschen zerplatzte er. Nisse drehte sich um und grinste. Ich grinste auch.
»Hab ich doch gesagt. Und? Was krieg ich jetzt?«
Ich legte das Buch beiseite und stand auf.
»Komm her.«
Als Nisse näher kam, überlief mich...