E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Popper / Nendzig Ich simuliere nur!
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-903217-91-1
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von mathematischen Modellen, virtuellen Muttermalen und dem Versuch, die Welt zu verstehen. Aufgezeichnet von Ursel Nendzig
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-903217-91-1
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nikolas »Niki« Popper, Dr., geboren in Wien, studierte Mathematik und ist Mitbegründer der Firmen »drahtwarenhandlung« und »dwh GmbH«, die durch ihre Pionierarbeit in der Modellierung, Simulation und Visualisierung dynamischer Systeme Bekanntheit erlangten. Seit 2020 Mitglied im COVID-19-Beraterstab des Gesundheitsministeriums. Ursel Nendzig, Mag., geboren in Bad Urach/D, absolvierte die Zeitenspiegel-Reportageschule in Reutlingen. Sie ist freie Journalistin, Autorin von Reportagen, Kolumnen und Sachbüchern. urselnendzig.at
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2
Die Drahtwarenhandlung
Ein einzigartiges Lokal, Antithesen zu Planung und Prognose
Wer die Räume der Drahtwarenhandlung betritt, taucht in einen ganz eigenen Mikrokosmos ein. Es ist ein Biotop, das nur schwer zu beschreiben ist, und das liegt nicht nur daran, dass die Materie, mit der sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier beschäftigen, schwer zu verstehen ist. Es liegt an der ganzen Atmosphäre, an diesem Ort, der in keine Schublade passen will. Ist es ein Lokal? Eine Bar? Ein Thinktank? Eine Art Indoor-Spielplatz für Nerds? Eine Programmierer-Bude? All diese Fragen würden mit einem klaren Jein beantwortet werden.
Die Geschichte der Drahtwarenhandlung beginnt mit einer Idee, wenn auch einer sehr vagen. Niki Popper, Michael Landsiedl und ihr gemeinsamer Freund Thomas Peterseil wollten sich selbstständig machen. Niki und Michael kannten sich noch aus dem Gymnasium, maturierten einst gemeinsam und wurden nach der gemeinsamen Zeit als Grundwehrdiener im Bundesheer durch ihre unterschiedlichen Studien wieder getrennt. Niki und Thomas lernten sich in Wien beim Mathematikstudium kennen, Michael ging nach Linz, um dort Mechatronik zu studieren. Gegen Ende des Studiums durchlief Niki ein Assessment-Center beim ORF erfolgreich und war für einige Zeit fixer freier Mitarbeiter – eine sehr österreichische Lösung. Michael war an einem uninahen Forschungszentrum in Oberösterreich, dem Fuzzy Logic Laboratory Linz-Hagenberg, angestellt, aber das Leben trieb ihn wieder nach Wien.
Michael Landsiedl, Niki Popper und Thomas Peterseil Anfang 2004, als sie noch nicht so genau ahnten, was ihnen beim weiteren Umbau blühen wird
So kam es, das muss, so genau erinnert sich keiner mehr, im Jahr 2002 gewesen sein, dass aus der vagen Idee ein ganz konkreter Plan wurde. Sie wollten sich selbstständig machen, jeder sollte sich mit seiner Expertise einbringen. Und weil alle drei gerne und gut kochen, wollten sie nicht nur einen Arbeitsplatz schaffen, sondern ein wirkliches Lokal, in dem Speisen und Getränke angeboten werden, sie wollten einen Kontrapunkt setzen zu ihrer Tätigkeit, die nur virtuell existiert: einen Ort, an dem man kommunizieren kann, an dem Menschen zusammenkommen. In echt.
Es sollte also ein Arbeitsplatz sein, um das zu machen, was ihnen Spaß macht. Einen konkreten Businessplan gab es zwar nicht, dafür aber ausreichend viel Leichtsinn und wenig genug Lebensplan, um zu sagen: Wenn wir schon arbeiten müssen, dann selbstbestimmt und in einer angenehmen Umgebung. Und das Ganze nach Möglichkeit so, dass wir das, was wir uns hier erarbeiten, auch an jüngere Menschen weitergeben können. Ende 2003 wurden sie in der Neustiftgasse im 7. Wiener Gemeindebezirk fündig. Als sie eine alte Drahtwarenhandlung entdeckten, in der früher einmal tatsächlich alles, was mit oder aus Draht besteht, verkauft und repariert wurde, wussten die drei sofort: Das ist genau die Umgebung, nach der sie gesucht hatten. Daraus konnte man etwas machen. Sie hatten sich zuvor einige Wirtshäuser angeschaut, die zur Vermietung ausgeschrieben waren, einige schlimme waren dabei, gruselige Keller und dubiose Nebenzimmer inklusive. Hier war es anders, hier war klar, dass es passt. Der Name stand bereits über der Tür und wurde nie geändert. Innen wartete die alte Werkstatt mit einem nackten Betonboden und keiner Heizung.
In der Drahtwarenhandlung wurden bis in die 1990er-Jahre Lampenschirme und andere Metallwaren hergestellt und verkauft.
Wenn Mathematiker planen
Anfang November 2003 mieteten sich die drei (damals noch mit zwei weiteren Mitgründern, Gudrun und Michael) in die ehemalige und zukünftige Drahtwarenhandlung ein. Bis April 2004 wurde umgebaut, und zwar im Groben. Durchgänge wurden gestemmt, Türen versetzt, die gesamte Elektrik neu verlegt, eine Heizung überhaupt erst eingebaut. Die komplette Glasfassade wurde getauscht, auf den nackten Betonboden Holz verlegt.
Die Rollenverteilung beim Umbau war zwischen den drei alten Freunden und neuen Geschäftspartnern klar: Thomas kümmerte sich um die Planung, Michael um das Technisch-Handwerkliche und Niki um die Lokalzulassung, die sogenannte Betriebsanlagengenehmigung – ein eigenes, extrem aufwendiges Kapitel. Vom Fluchtweg über die Toilettenanlagen, Lärmschutz- und feuerpolizeilichen Bestimmungen bis zum Einbau und zur Genehmigung einer Gastro-Küche … Mithilfe mathematischer Finesse optimierte Niki die einzelnen Komponenten. Die maximal zugelassene Anzahl an Personen ist nämlich abhängig von der Toilettenanlage, der Lüftung und den Fluchtwegen. Für mehr als 15 Personen sehen die Vorschriften getrennte WC-Anlagen für Frauen und Männer sowie ein Pissoir vor. (Das wäre baulich in den Räumen gar nicht möglich gewesen.) Auch ist eine Tür, die nach außen aufgeht, ab 15 Personen Vorschrift. Damit war klar, dass die Lüftung auch nur für maximal 15 Personen dimensioniert sein musste. Niki errechnete, wie man mit den bestehenden Kaminen des Hauses, den vorhandenen Quadratmetern und den Fluchtwegen die Räumlichkeiten optimal nutzen konnte. Der Umbau gelang. Es konnte losgehen mit der Arbeit. Und mit dem Lokal.
Beim Umbau blieb kein Stein auf dem anderen. Michael Landsiedl im zukünftigen neuen Mitarbeiter-WC – auch eine Vorschrift aufgrund des geplanten Lokals.
Seit 2004 existiert die Drahtwarenhandlung in der heutigen Form: als Lokal, in dem Speisen und Getränke angeboten werden, und als Heim der Forschungsfirma dwh GmbH, Filmproduktion, Animationsfirma und Kooperationsbüro mit der Technischen Universität Wien.
Der Gong
Irgendwann um die Mittagszeit ertönt in der Drahtwarenhandlung der Gong, ein Geschenk von einer Mitarbeiterin, Barbara Glock. Eine überdimensionierte Triangel, die von Michael geschlagen wird, sobald es Essen gibt. »Babsi« hat sie der Drahtwarenhandlung geschenkt, um Struktur ins Leben zu bringen. Hungrig herumirrende Kollegen ab halb elf Uhr vormittags machen sie nervös. Ordnung ist auch sonst ein wichtiger Teil ihres Jobs, wenn es zum Beispiel um das Koordinieren neuer Forschungsanträge geht.
Das Essen bereitet Michael scheinbar nebenher zu. Immer wieder schlüpft er von seinem Arbeitsplatz im ersten Stock der Drahtwarenhandlung hinunter in die Küche, die im Erdgeschoss liegt und direkt an den Gastraum angeschlossen ist. Dann rührt er um, schnippelt, paniert, klappert – und widmet sich anschließend wieder seiner Arbeit. Wenn man das beobachtet, kann man gar nicht anders, als zu denken: Die haben es wirklich geschafft, alles, was ihnen Spaß macht, unter einen Hut zu bringen.
Zum Mittagessen strömen all jene Mitarbeiter herbei, die da und hungrig sind, holen sich einen Teller – heute: Reisfleisch mit Salat – und setzen sich auf die schwarz und weiß lackierten Tische im Gastraum, tauschen sich über ihre Arbeit aus, essen, besprechen auch Privates und loben Michael für das, was er da wieder zubereitet hat.
Apropos Essen. Niki fällt dazu das »Dining Philosophers Problem« ein, und das geht so: Fünf Philosophen sitzen beim Essen, vor sich je eine Schüssel und zwischen den Schüsseln jeweils ein einzelnes Essstäbchen. Um essen zu können, bräuchte jeder zwei Stäbchen. Es gibt aber nur fünf, es können nicht alle gleichzeitig essen. Sie müssen sich also irgendwie einigen, wer wann essen darf, sodass alle satt werden.
Zur Lösung dieses Problems gibt es unterschiedliche Strategien, die man ausprobieren kann. Mal ist einer gierig, mal der andere, mal sind sie altruistisch. Edsger W. Dijkstra (siehe Glossar) hat dieses Modell in den 1960er-Jahren erfunden, als er sich mit der Parallelisierung (siehe Glossar) von Computern beschäftigt hat. Der Griff zu den Essstäbchen steht für den Zugriff auf Speicherplatz – wenn jeder zu zwei Essstäbchen greifen will, entsteht ein sogenannter Deadlock, also eine Situation, in der jede weitere Handlung zu einem Einfrieren des Systems führt. Nur durch die Rücknahme einer Handlung kann man wieder in einen Funktionsbetrieb kommen. Effizienter wäre es natürlich, Deadlocks überhaupt zu verhindern, wofür vorausschauendes Agieren erforderlich ist – man muss das Handeln anderer antizipieren. Mit diesem Modell hat sich Niki während seines Studiums lange beschäftigt.
Und mit einer Modellierungsmethode, die zur Abbildung dieses Problems sehr gut geeignet ist – den sogenannten Petri-Netzen (siehe Glossar). Günther Zauner erklärt gleich, dass der Name erstens nichts mit dem Fischer Petrus zu tun hat, das fragen nämlich Studierende immer gleich. Es handelt sich zweitens dabei um eine Art von Netzwerkmodellen, die Kausalitäten gut darstellen kann und die man mit linearer Algebra analysieren kann. Soll sein …
Was er dabei gelernt hat, erzählt Niki, sei, dass solche Modelle dazu dienen, den Prozess an sich und die Struktur der Fragestellung zu verstehen....




