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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 336 Seiten

Reihe: Weggesperrt

Poppe Weggesperrt


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86272-682-0
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 1, 336 Seiten

Reihe: Weggesperrt

ISBN: 978-3-86272-682-0
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Niemals aufgeben! Flucht aus dem Erziehungsheim. DDR 1988: Anjas Mutter stellt einen Ausreiseantrag aus der DDR und wird von der Stasi verhaftet. Die 14-jährige kommt in einen Jugendwerkhof, eine Einrichtung der Jugendhilfe. Geschockt von der Willkür der Erzieher, der Gewalt und dem Drill, will Anja bald nur noch fliehen. Doch es kommt noch schlimmer. Ein fesselnder Roman über Willkür und Gewalt im Jugendwerkhof in der DDR. Sorgfältig recherchiert von der Autorin, die selbst in der Bürgerbewegung 'Demokratie Jetzt!' engagiert war. Mit Glossar und Wende-Chronik im Anhang.

Grit Poppe wurde 1964 in Boltenhagen an der Ostsee geboren. Sie studierte am Literaturinstitut in Leipzig. Von 1989 bis 1991 engagierte sie sich in der Bürgerbewegung 'Demokratie Jetzt'. Heute schreibt sie Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Für ihren Jugendroman 'Weggesperrt' wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem 'Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendliteratur'. Grit Poppe lebt mit ihrer Familie in Potsdam.
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1 Anja wandte den Kopf ganz leicht nach hinten und erhaschte aus den Augenwinkeln einen Blick auf einen ihrer Verfolger. Es war der kleine Dicke mit der karierten Jacke und dem merkwürdigen Täschchen, das an seinem Handgelenk hin und her baumelte. Sein Gesicht war rot angelaufen und schweißnass, das konnte sie noch erkennen. Dann hörte sie, wie ihre Mutter, die neben ihr lief, nervös Luft holte. »Dreh dich nicht um«, sagte sie schroff.

»Wieso nicht?«, fragte Anja leicht gereizt zurück.

Ihre Mutter hatte vor dem Schulgebäude auf sie gewartet, das war ungewöhnlich. Wer holte schon seine vierzehnjährige Tochter von der Schule ab? Oder ahnte sie etwa, dass Anja in den letzten Wochen hin und wieder schwänzte? Wollte sie prüfen, ob ihre Tochter den Unterricht überhaupt noch besuchte? Wohl kaum. Ihre Mutter interessierte sich nur wenig für die Schule. Im Vergleich zu anderen Müttern verhielt sie sich oft ungewöhnlich. Ungewöhnlich, verrückt, wagemutig, widerspenstig, leichtsinnig … Anja flogen die Worte zu wie kleine Vögel. Wie kleine schwarze Vögel mit scharfen spitzen Schnäbeln und scharfen spitzen Krallen.

Ein schlammfarbener Wartburg fuhr langsam an ihnen vorbei.

Anja versuchte nicht hinzusehen. Sie starrte geradeaus. Menschen kamen ihnen entgegen. Anja blickte durch sie hindurch, als wären sie Geister.

»Die spinnen doch«, sagte die Mutter so leise, als würde sie mit sich selbst sprechen.

Anja spürte eine merkwürdige Kälte in ihrem Mund. Konnte es sein, dass ihre Zunge eiskalt war? Sie schob den Zeigefinger zwischen die Lippen. Nein, die Zunge war warm und feucht. Alles normal also.

»Solange wir beide zusammen sind, werden sie es nicht wagen«, hörte sie die Mutter murmeln. »Mach dir also keine Sorgen.«

Anja schluckte. Das Kalte rutschte ihr die Kehle hinunter. »Was wagen?«, fragte sie. »Was werden sie nicht wagen?«

»Wenn sie uns anfassen, schreien wir um Hilfe«, sagte ihre Mutter bestimmt. »Schrei einfach, so laut du kannst.«

Anja schwieg. Thea, eine Freundin ihrer Mutter, war erst vor ein paar Tagen von der Staatssicherheit abgeholt worden. Hatte Thea geschrien? Sich irgendwie gewehrt? Anja hatte jedenfalls nichts davon gehört.

Der braune Wartburg parkte am Straßenrand. Anja tat so, als würde sie die Blicke aus dem Wagen nicht bemerken.

Ihre Mutter wurde also beschattet. Wieder einmal. Hoffentlich bemerkte niemand aus ihrer Klasse das seltsame Geschehen.

»Warum gehen wir nicht einfach nach Hause?«, fragte Anja. Sie hörte sich an wie ein quengeliges Kleinkind.

Die Mutter seufzte. »Vielleicht ist es ja das, was sie wollen«, murmelte sie.

Anja hielt den Blick gesenkt. Das, was sie wollen, das, was sie wollen, echote es in ihrem Kopf. Aber was wollen sie? Warum rannten die Männer hinter ihnen her? Sie hatten doch nichts verbrochen! Am liebsten hätte sie sich umgedreht und den Männern ihre Frage ins Gesicht geschrien: Was zum Teufel wollt ihr von uns?! »Ist es wegen dem Trommeln?«, fragte sie.

Ihre Mutter zuckte mit den Achseln. »Möglich«, antwortete sie knapp.

Anja warf ihr einen forschenden Blick zu. Die Mutter sah blass aus. Die Falte lag tief zwischen ihren Augenbrauen, wie eine Narbe oder Wunde.

»Oder wegen den Zetteln?«, fragte Anja.

Ihre Mutter hatte getrommelt. Und Zettel verteilt. Aus Protest. Für Thea. Sie nannte den Aufruhr, den sie veranstaltete, eine Mahnwache.

Anja war nicht ganz klar, was ein getrommelter Protest auf dem Marktplatz nützen sollte. Vielleicht wusste das ihre Mutter ja auch nicht so genau. Vielleicht wollte sie nur irgendetwas tun. Und nun bekamen sie die Quittung. Die Herren von der Staatssicherheit mochten es ganz und gar nicht, wenn man aus Protest trommelte und Zettelchen verteilte.

Das Kalte steckte jetzt in Anjas Hals. Sie konnte es nicht herunterschlucken.

»Wie war es in der Schule?«, wechselte ihre Mutter das Thema.

Anja zuckte mit den Schultern. »Wie immer«, brachte sie heraus.

In Staatsbürgerkunde hatten sie über Ausreiseanträge gesprochen. Es war eine merkwürdige Stunde gewesen. Eigentlich gar nicht wie immer. Ihre Stabilehrerin wirkte nervös, als Ronny das Thema plötzlich ansprach; sie lief auf und ab, redete hastig und einmal schlug sie sogar mit der Faust gegen die Tafel. Sie zuckte zusammen, als wäre sie selbst erschrocken, und betrachtete einen Moment verwundert ihre Hand. Dann huschte ihr Blick durch die Klasse und blieb an Anja hängen. »Wo kommen wir da hin, wenn alle einfach davonlaufen? Unsere Heimat muss doch … verteidigt werden. Das versteht ihr doch, oder?« Natürlich antwortete niemand. Nur ein leises verächtliches Prusten war zu hören. »Oder?« Die Stimme der Lehrerin klang dünn und atemlos, als hätte sie vergessen Luft zu holen. Anja dachte daran, den Kopf zu schütteln. Aber sie überlegte zu lange. Eigentlich mochte sie Frau Falkner. Die Lehrerin drückte sich nicht vor schwierigen Themen, ließ Diskussionen zu, auch kritische Fragen, und wenn jemand seine eigene Meinung vertrat, bekam er deshalb keine schlechte Zensur wie bei manch anderem Lehrer. Sogar als Ronny, der Klassenclown, einmal mitten im Unterricht seine Strümpfe auszog und damit quer durch den Raum zum Papierkorb lief, blieb Frau Falkner erstaunlich gelassen. »Was machst du da, wenn ich fragen darf?«

»Das sehen Sie doch«, meinte Ronny. »Ich schmeiße meine roten Socken weg. Sie sind dreckig und haben Löcher. Die roten Socken sind ganz einfach im Arsch.«

Die ganze Klasse hatte gelacht. Nur Anja nicht. Sie starrte gespannt ihre Lehrerin an. Bei anderen Lehrern hätte Ronny dafür mindestens einen Tadel bekommen. Und es wäre nicht sein erster. Wenn er so weitermachte, würde er bald von der Schule fliegen. Frau Falkner wedelte mit der Hand vor ihrer Nase herum. »Vielleicht würdest du die Güte besitzen und den duftenden Eimer in der Pause zur Mülltonne bringen?« Ronny grinste und deutete eine Verbeugung an. »Es ist mir eine Ehre«, behauptete er.

Weil Anja Frau Falkner mochte, schüttelte sie nicht den Kopf. Aber natürlich nickte sie auch nicht. Sie verstand nicht, warum Leute ihre Arbeit verloren oder verhaftet wurden, nur weil sie nicht in diesem Land leben wollten, und warum das für den Sozialismus nötig sein sollte. Nicken wäre eine Lüge gewesen.

Als das Schweigen im Klassenzimmer zu lange dauerte, sagte Frau Falkner: »Zettel raus. Leistungskontrolle. Zehn Vorzüge des Sozialismus. In Stichworten. Ihr habt fünf Minuten.«

In der Klasse wurde gestöhnt und geseufzt. Blätter raschelten, Stifte fielen zu Boden und wurden wieder aufgehoben. Anja hatte kein Problem mit der Aufgabe. Keine Arbeitslosigkeit, geringe Mieten, keine Obdachlosen, keine Rauschgifttoten, schrieb sie, und als sie nach zwei oder drei Minuten fertig war, meldete sie sich. »Bekommt man Zusatzpunkte, wenn man auch die Nachteile aufschreibt?« Sie lauschte dem Gekicher der anderen und tauschte einen schnellen Blick mit Ronny, der das Gesicht zu einem anerkennenden Grinsen verzog. Seit einiger Zeit lieferten sie sich eine Art Wettstreit: Wem eine Provokation gelang, rückte ein Feld vor. Auch wenn das Spielfeld unsichtbar und das Ziel unbekannt war. Natürlich versuchten sie sich gegenseitig zu übertrumpfen. Das Schwänzen gehörte seit einiger Zeit dazu: Statt sich mit Russisch zu quälen, schlenderte Anja die Einkaufsstraße entlang, kaufte billigen Modeschmuck oder Süßigkeiten, eine Bambina-Tafel oder, wenn sie knapp bei Kasse war, wenigstens ein paar Pfeffis. Einmal verabredete sie sich mit Ronny. Statt im Sportunterricht Runden zu rennen, saßen sie gemütlich in der Milchbar und leisteten sich zur Feier des Tages zwei Schwedeneisbecher.

Ein angedrohtes Elterngespräch umging Anja, indem sie ihrem Klassenlehrer einen falschen Termin mitteilte – ihre Mutter war nicht zu Hause und natürlich öffnete Anja nicht. Während ihr Lehrer klingelte, klopfte und rief, lauerte sie hinter der Tür und presste sich die Hand auf den Mund, um nicht laut zu lachen. Sie besaßen kein Telefon und den Beschwerdebrief aus dem Büro des Schuldirektors fischte sie aus dem klapprigen Briefkasten und zerriss ihn. Die Schnipsel warf sie in den Ofen und sah zu, wie sie verbrannten.

Frau Falkner ignorierte ihre Frage und Anja zuckte unschuldig lächelnd mit den Schultern. »Keine Meinungsfreiheit, keine Sarotti-Schokolade, keine Reisen nach Paris, London oder San Francisco …«, diktierte sie sich selbst und tat so, als würde sie schreiben. Tote an der Mauer, dachte sie. Thea im Gefängnis. Als Anja von ihrem Blatt aufsah, stand die Lehrerin an ihrem Tisch. Frau Falkner nahm den Zettel in die Hand und betrachtete ihn stumm. Wie in Zeitlupe legte sie das Papier zurück. Sie beugte sich über ihre Schülerin und flüsterte ein Wort, ein einziges, es war mehr ein Zischen als ein Sprechen: »Vorsicht!«

Hatte Anja sich verhört? Frau Falkner schob ein Buch, das über die Tischkante ragte, ein Stück zurück, als sorgte sie sich nur darum, dass es hinunterfallen könnte.

»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Anja.

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. »Hast du Hunger?«, fragte sie zurück.

Die Eckkneipe, die sie betraten, roch nach Zigarettenqualm und gebratenen Zwiebeln. Es war eine von den Gaststätten, in denen die Blumen und Tischdecken aus Plastik waren und die Gardinen so aussahen, als wären sie vor zwanzig Jahren einmal weiß gewesen. Aber hier schmeckten die...


Grit Poppe wurde 1964 in Boltenhagen an der Ostsee geboren. Sie studierte am Literaturinstitut in Leipzig. Von 1989 bis 1991 engagierte sie sich in der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt". Heute schreibt sie Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Für ihren Jugendroman "Weggesperrt" wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem "Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendliteratur". Grit Poppe lebt mit ihrer Familie in Potsdam.



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