E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Erinnerungen eines Philosophiehistorikers
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-2097-4
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Es geht bei ihm um unbekannte Skeptiker, häretische Juden, chiliastische Träumer, um die Vertreibung der Juden aus Spanien, die Entdeckungen von Kolumbus und die Untergrundliteraten der Aufklärung - aber auch und immer wieder um die großen Denker wie Spinoza, Hobbes, Leibniz, Newton oder Hume. Nur werden diese Denker in ein ganz neues Licht gerückt, indem sie in ihre geschichtlichen Kontexte zurückversetzt werden, die eben von allerlei seltsamen und uns fremd gewordenen Strömungen gekennzeichnet waren.
Popkins Hauptwerk ist die 'History of Scepticism', die in der dritten und letzten Auflage (2003) von Savonarola bis Bayle reicht. Seine intellektuelle Autobiographie, 1987 und 1998 in Form von zwei Aufsätzen erschienen, beleuchtet den Lebensweg dieses Nachfahren russischer Juden im Amerika der Nachkriegsjahre, seine Detektivarbeit zum Kennedymord und seine Entdeckung skeptischer und millenaristischer Strömungen der Frühen Neuzeit. Von den letzteren handelt auch der beigefügte exemplarische Aufsatz aus dem Jahr 1982, 'Die dritte Kraft im Denken des 17. Jahrhunderts'.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Westlichen Philosophie Westliche Philosophie: 20./21. Jahrhundert
- Geisteswissenschaften Philosophie Geschichtsphilosophie, Philosophie der Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Geschichtsphilosophie, Philosophie der Geschichte
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Vorwort
Richard H. Popkin gilt als einer der großen Philosophiehistoriker des 20. Jahrhunderts – und doch ist sein Werk für das deutsche Publikum erst noch zu entdecken. Seit I960 hat Popkin in zahlreichen Büchern und Sammelbänden Themenfelder der Geistesgeschichte eröffnet, von denen sich die traditionelle Philosophiehistorie nichts hätte träumen lassen. Es geht bei ihm um unbekannte Skeptiker, häretische Juden, chiliastische Träumer, um die Vertreibung der Juden aus Spanien, die Entdeckngen von Kolumbus und die Untergrundliteraten der Aufklärung – aber auch und immer wieder um die großen Denker wie Spinoza, Hobbes, Leibniz, Newton oder Hume. Nur werden diese Denker in ein ganz neues Licht gerückt, indem sie in ihre geschichtlichen Kontexte zurückversetzt werden, die eben von allerlei seltsamen und uns fremdgewordenen Strömungen gekennzeichnet waren. Denjenigen, die Popkin kannten, war schnell klar: Dies ist kein gewöhnlicher Philosophieprofessor. Der Mann scherte sich weder um akademische Förmlichkeiten noch um die Regeln der Grammatik. Seine Mutter war eine Romanschriftstellerin.1 Popkin selbst hatte die Gabe eines genialen Gedächtnisses. Entsprechend begann er als Mathematiker, wechselte dann aber bald über zur Philosophie. Popkin war im Herzen ein Detektiv, und sein vieldiskutiertes Buch über den Kennedymord, The Second Oswald (1966), bestätigt diese Leidenschaft. Er liebte es, riesige komplizierte Informationsmengen zu einem kohärenten Ganzen zusammenzusetzen. Was immer es war – Watergate oder der junge Spinoza –, Popkin suchte nach unentdeckten Spuren. Noch das späte mit David Katz verfaßte Werk Messianic Revolution von 1999 ging vom Attentat in Oklahoma City aus, um dessen ideologische Spur zwischen Antisemitismus und Endzeiterwartung bis weit in die Frühe Neuzeit hinein zurückzuverfolgen. Die Frühe Neuzeit war denn auch das eigentliche Gebiet, auf das der am 27. Dezember 1923 geborene Popkin seinen philosophiegeschichtlichen Spürsinn richtete. 1960 erschien sein bis heute bekanntestes (aber nie ins Deutsche übersetztes) Buch: The History of Scepticism from Erasmus to Descartes. Darin wurde jener Skeptizismus wiederentdeckt, der seit dem späten 16. Jahrhundert von Kreisen der katholischen Kirche genährt wurde, um den Rationalismus vieler Protestanten zu unterminieren. Popkin las Montaigne, Descartes – und später auch Spinoza und Bayle2 – im Lichte dieses Narrativs auf neue Weise. Und er vervollständigte sein Bild von diesen Denkern – und von Hobbes, Glanvill, Hume und vielen kaum bekannten Theoretikern –, indem er in den folgenden Jahrzehnten dem Puzzle ständig neue Teile zuführte: etwa den Millenarismus, also die Endzeiterwartung, die so viele Philosophen und Wissenschaftler von Comenius bis Newton umtrieb und ihre Systeme prägte. Die Gewißheit der Endzeit aus einer unfehlbaren Bibeldeutung heraus erschien manchen ein besserer Weg aus der skeptischen Krise als das cartesische »cogito«. Zwischen den Rationalisten und den Empiristen waren diese Männer (und eine Frau: Anne Conway) eine nicht zu unterschätzende »Third Force«. Popkin lag viel daran, die Einteilungen der philosophischen Lehrbücher aufzubrechen. Vor allem die angloamerikanische Philosophiehistorie der Nachkriegszeit neigte zu der Vereinfachung, alles in die Felder Rationalismus und Empirismus aufzuteilen. Wenn Philosophiegeschichten heute damit vorsichtiger sind, ist das nicht zuletzt Popkin zu verdanken. Der Detektiv Popkin verfolgte seine Spuren aber auch bis in den Untergrund der »clandestinen Philosophie« von religionskritischen Pamphleten wie der berüchtigten Schrift über die »drei Betrüger« Moses, Jesus und Mohammed. Oder den antichristlichen Schriften, die in den Kreisen der Amsterdamer Juden um 1700 zirkulierten, bevor sie ihren Weg in den Schwarzmarkt der Aufklärer und in die Hände der Deisten fanden. Jüdisches (häretisches) Denken war dem Nachkommen russischer Juden immer ein Anliegen. Er spekulierte über die Verbannung Spinozas aus der jüdischen Gemeinde, über die Aktivitäten des großen Vermittlers Menasse ben Israel oder das mögliche Marranentum (verborgenes Judentum) von Isaac La Peyrère, einem der ersten Bibelkritiker. Nicht immer sind seine oft gewagten Hypothesen akzeptiert worden, aber immer war die Forschung dankbar für die Anregungen. »Popkin knew hundreds of sixteenth-, seventeenth-, and eighteenth-century thinkers personally,« hat Popkins Schüler Richard Watson bemerkt. «Perhaps several thousand. He had read their letters and private papers, noted what they underlined in the book they read, checked mentions of their names in official documents, virtually memorized the book they wrote, and registered their relations to one another. His memory was omnivorous, nothing […] ever escaped, but what defined the man was that his mind ranged around in that memory bank and made all the connections.«3 Popkin, der in Iowa, St. Louis und Kalifornien gelehrt hat und dazwischen rastlos auf Reisen war, verbrachte seine letzten Jahrzehnte in Pacific Palisades bei Los Angeles, dem bevorzugten Ort deutscher Emigranten. Schon seit Jahren von Lungenproblemen gezeichnet und am Ende fast blind, hat er dennoch nie seinen spezifischen Humor verloren immer wieder den großen Kreis seiner Mitstreiter und Korrespondenten mit der Offenheit und Großzügigkeit seiner Hinweise verblüfft. Bis zuletzt hat er an Projekten gearbeitet, mit Unterstützung studentischer Helfer, die ihm Texte vorlasen und das Eintippen übernahmen. Er saß in seinem Rollstuhl, schrieb Texte still in seinem Kopf und konnte dann aus dem Gedächtnis heraus diktieren. Bis zuletzt hat er Freunden seinen Wissensschatz geöffnet und Informationen und Adressen vermittelt. Ich selbst bin erst spät mit Popkin in Kontakt gekommen: 1990 bei dem vierwöchigen Sommerseminar über die »Drei Betrüger« in Leiden, in das ich rein zufällig hineingeschneit war, das aber prägend für meine weitere Arbeit werden sollte. 1990 war ich noch eher verwundert über diesen kleinen dicken Mann mit Warzen und fettigen Haaren, der schnaufend die Treppen hochstieg. Als ich aber in den Jahren danach immer intensiver in brieflichen Austausch mit ihm kam, da lernte ich erst den richtigen Popkin kennen: Einen unglaublich lebendigen, freigiebigen und begeisterungsfähigen Menschen, der nie aufhörte, Projekte zu entwerfen, Sammelbände zu planen und auf unentdeckte Schätze in Bibliotheken hinzuweisen. Richard Popkin starb am 14. April 2005 in Los Angeles. Nach seinem Tod hat es mehrere Konferenzen und Unternehmungen gegeben, die sein Andenken ehren und die Lebendigkeit seines Erbes zeigen. In Los Angeles gab es im Juni 2006 in der Clark-Library eine Tagung mit dem Titel The Legacies of Richard Popkin, organisiert von Popkins Sohn Jeremy. In Belo Horizonte, Brasilien, hat José Maia Neto im Oktober 2007 eine Gedächtnis-Tagung für Popkin abgehalten, und in Florenz hat Antonio Rotondò kurz vor seinem eigenen Tod einen Sammelband in Erinnerung an Popkin organisiert, der von Luisa Simonutti als Herausgeberin fortgeführt wird. * * * Ich habe einige Zeit gezögert bei der Entscheidung, die deutsche Übersetzung der Autobiographie Popkins zu veröffentlichen. Sie erschien im englischen Original in Form von zwei Aufsätzen an abgelegenen Orten: der erste im von Richard A. Watson und James E. Force herausgegebenen Sammelband The Sceptical Mode in Modern Philosophy. Essays in Honor of Richard H. Popkin (Dordrecht: Kluwer 1987, S. 103–149), der zweite in Everything Connects. In Conference with Richard H. Popkin, einer Festschrift zu Popkins 75. Geburtstag, herausgegeben von James E. Force und David S. Katz (Leiden: Brill 1998, S. xi-lxxvi). Während der erste Aufsatz – der erste Teil der Autobiographie, der bis etwa 1986 reicht – schwungvoll geschrieben ist und ein buntes Bild nicht nur von Popkins Interessen und Theorien, sondern auch der Zeitgeschichte enthält, erschöpft sich der zweite Teil in Beschreibungen von Konferenzen und gibt zunehmend den Themen von Popkins gesundheitlichen Schwierigkeiten in den letzten Jahren Raum. Er kann weit weniger öffentliches Interesse beanspruchen als der erste, durchaus ungewöhnliche Teil. So stellte sich die Frage: Sollte man den zweiten Teil einfach weglassen? Doch das hätte eine seltsame Amputation bedeutet, denn die Jahre zwisehen 1986 und 1997, von denen diese Seiten erzählen, waren reich an Tagungen, die die Ernte dessen einfuhren, was Popkin seit den 1960er Jahren gesät hatte. Da es Zweck dieses kleinen Bandes sein soll, in Popkins Welt einzuführen und Interesse an seinen Themen zu wecken, sei es dem Leser zugemutet, auch einige Längen zu erdulden und Einzelheiten zu erfahren, die nicht an die große Glocke gehängt werden müssen. Der Titel, den Popkin seiner Autobiographie gegeben hat, lautet im Original »Intellectual Autobiography: Warts and all«. Das läßt sich schwer ins Deutsche übertragen. Das wörtlich »Warzen und das alles« Meinende changiert in seiner Bedeutung zwischen »In aller Offenheit«, »ohne Umschweife« und »ungeschönt« bis hin zum umgangssprachlichen »Mit allen Macken«. Der Titel sagt einiges über Popkins unorthodoxe Art, mit Dingen umzugehen – und sei es der eigenen Autobiographie.4 Natürlich ist die eigentliche Übersetzung, die notwendig ist, aber noch aussteht, diejenige von Popkins Hauptwerk, der History of Scepticism. Das konnte in dem Rahmen, der hier zur Verfügung stand, nicht geleistet werden. Um aber dennoch einen Eindruck zu vermitteln, wie sehr Popkin gerade auch mit seinen Aufsätzen neue Türen geöffnet und neue Sichtweisen ermöglicht hat, ist der...