E-Book, Deutsch, 367 Seiten
Pons Flussgefährtinnen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-6140-6
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Eine einfühlsame Geschichte über Freundschaft, Familie, Liebe und den Sinn des Lebens
E-Book, Deutsch, 367 Seiten
ISBN: 978-3-7517-6140-6
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Vielleicht geht es darum, sich auf den Weg zu machen.«
Die forsche Kapitänin Hanne, die Vollzeitmutter Katrin, Büroleiterin Astrid und die junge Jessie finden sich nach einem Unfall und einem verunglückten Rettungsversuch auf Hannes Flussfrachter wieder. Hanne will die drei ungebetenen Gäste am liebsten sofort loswerden, ihr Schiff ist ja kein Vergnügungsdampfer. Doch keine der drei will von Bord gehen. Stattdessen nötigen sie Hanne, sie mitzunehmen. Aber die Frauen sind zu unterschiedlich, als dass die zusammengewürfelte Reisegemeinschaft auf Anhieb funktionieren könnte. Und so müssen erst einige Missverständnisse aus dem Weg geräumt und Geheimnisse gelüftet werden, bis die vier erkennen können: Manchmal ist der Weg das Ziel.
Brigitte Pons lebt nahe Frankfurt/Main in Südhessen, wo sie auch geboren ist. Einem klassischen Werdegang - Abitur, Ausbildung, Familie - folgten zahlreiche Veröffentlichungen. Auf der Suche nach neuen Herausforderungen widmet sie sich den unterschiedlichsten Themen. Dabei liegt ihr Hauptaugenmerk immer auf den Gefühlen ihrer Figuren, den versteckten Motiven hinter dem Offensichtlichen, die sie vor ihren Leser:innen Stück für Stück entblättert.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Drei am Fluss
»Verpisst euch«, knurrte Jessie. Eine Wolke winziger Insekten tanzte über den hohen Gräsern am Wegrand. Irritierend in ihrer Stabilität, die sich nicht zu verändern schien, während die Einzelwesen in wildem Zickzack durcheinanderschwirrten, ohne vom Fleck zu kommen. Wieso mussten die blöden Viecher ausgerechnet in dem schmalen Durchschlupf zwischen den Hecken herumfliegen? Die Kontur der Wolke dehnte sich mal in die eine, mal in die andere Richtung, verlor dabei jedoch nie den Zusammenhalt, wie ein einziger Organismus. Selbst wenn man mit der Hand mitten hineinfuhr, stoben die Insekten zwar im Strudel beiseite, schlossen die entstandene Schneise aber so schnell und gründlich, als wäre nichts geschehen.
Jessie hielt den Atem an. Auf Mücken im Mund oder der Lunge verzichtete sie gern. Zur Sicherheit verengte sie die Augen zu Schlitzen, tauchte dann unter dem Schwarm ab und schlidderte die Böschung zum Fluss hinunter, die steiler war als erwartet.
»Shit!« Ihre Absätze rissen blühenden Klee und gelbe Butterblumen aus dem Boden, der Rucksack schleifte hinter ihr her. Ein paar Brennnesseln, Brombeerranken und scharfkantige Steinchen waren auch dabei, wie ihre Handflächen beim Versuch, den Hintern oben zu halten, schmerzhaft zu spüren bekamen.
»Ooooh neiiiin!« Sie biss die Zähne zusammen. Erst kurz vor der Uferkante fanden ihre Füße wieder Halt. Ihr Herz hämmerte. Einige Sekunden blieb sie sitzen, stieß halblaute Flüche aus, dann richtete sie sich auf und klopfte den Dreck von ihrer Hose. Vorsichtig schaute sie sich um. Hatte jemand ihren bescheuerten Abgang bemerkt? Wie blöd konnte man eigentlich sein? Ziemlich blöd, hätte Marlon ihr sofort bescheinigt, doppelt blöd! Was leider stimmte. Ja, sich blöd anstellen konnte sie hervorragend. Genau wie vorhin in der Bahn. Falscher Zug, falsches Ticket und keine Ausrede parat. Dreifach blöd war das gewesen. Um ein Haar auch noch teuer und mit Polizei. Wie ein Karnickel war sie über den Bahnsteig gehetzt, bis ihr förmlich die Lunge aus dem Hals hing. Und jetzt diese vollkommen sinnlose Rutschpartie, denn wenige Meter entfernt führten halb überwucherte Stufen zum Trampelpfad am Wasser, auf dem sie gelandet war.
Jessie murmelte weitere Verwünschungen. Mal wieder typisch. Nicht nur, dass die Treppe ihr den Sturz erspart hätte: Am oberen Ende saß eine Frau, die jetzt von ihrem Smartphone hoch und zu ihr herunter starrte. Unten ragte in Verlängerung der Treppe ein Steg in den Fluss, von dem eine zweite Frau ins Gelände glotzte. Dabei hatte Jessie sich eingebildet, am Ufer allein zu sein. Wegen der Hecke und der Verbotsschilder neben dem Türchen, an dem sie nahe der Brücke vorbeigekommen war. Knapp vorbei ist auch daneben. Schnell wandte sie sich ab. Bloß kein Blickkontakt mit irgendwem.
Der Fluss vor ihr war genauso grau wie ihre Gedanken heute. War sie darum hergekommen? Oder weil es ihre Bestimmung war, sich im Dornengestrüpp eine Blutvergiftung einzufangen? Oder wartete vielleicht ein Traumtyp darauf, sie vorher zu retten? Sie prustete. Das klang doch gleich viel besser. Ein Hoch auf die Bahn und ihre kopflose Flucht vor dem Kontrolleur! Schließlich hatte sie nie nach Stuttgart gewollt und hätte diese einmalige Chance andernfalls glatt verpasst. Wie gut, dass sie sich anschließend auch noch verlaufen hatte. Ironie off.
Grinsend dachte sie an die olle Krüger. Ihrer früheren Nachbarin zufolge gab es immer einen Grund. Immer und für alles. Was albern, aber irgendwie auch tröstlich war, und Jessie gab sich Mühe, daran zu glauben.
Sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, presste die Fäuste in die Taschen der zu großen Sweatjacke und bewegte sich vorsichtig bis fast an den Steg heran. Wohin sollte sie denn jetzt? Der Trampelpfad endete hier. Weiter ging es nur über den Steg. Das Ding war massiv, kein Holz, und führte am Ufer entlang. Auf beiden Seiten von Wasser umgeben, das darunter durchschwappte. Das kam gar nicht in Frage. Also umkehren? Oder die Treppe hoch? Stocksteif verharrte Jessie auf der Stelle. Sie suchte doch nur ein ruhiges Plätzchen zum Nachdenken. War das etwa zu viel verlangt? Den Ausspruch Karma is a bitch hätte sie sofort unterschrieben. Das Leben war eine Aneinanderreihung mehr oder weniger mieser Zufälle. Von wegen du hast dein Schicksal selbst in der Hand … Völlig egal, für welche Richtung sie sich entschied, am Ende war es bestimmt verkehrt. Denn sogar wenn Jessie gar nichts tat, reichte das regelmäßig, um an irgendetwas schuld zu sein.
Sie legte den Kopf in den Nacken, suchte ein Fetzchen Blau zwischen den Wolken, die sich in Zeitlupe über den Himmel bewegten, und ignorierte das Brennen ihrer Schürfwunden. Lächeln und schön positiv bleiben. Wenigstens ihr Rucksack war unversehrt geblieben.
*
Unschlüssig schwebten Katrins Finger über der Handy-Tastatur und dem angefangenen Text. Was hatte sie gerade schreiben wollen? Das Geräusch reißender Blätter und brechender Zweige hatte sie abgelenkt, als jemand ungeschickt die Böschung hinuntergerutscht war. Der Kleidung nach ein Teenager. Die Stelle, an der er, ohne sein Hirn zu benutzen, einfach vom Weg abgebogen war, markierten jetzt zerfetztes Grün und zertretene Blütenköpfe. Was für ein Trampel! Und all das wahrscheinlich nur, um ungesehen in die Büsche zu pinkeln. Keine Achtung vor dem Leben.
Ihre Hand zitterte. Unschärfe legte sich über ihre Augen, und sie blinzelte hastig. Wie albern sie sich aufführte, wegen dieses bisschen Grünzeugs. Dabei war ihr vorher nicht einmal aufgefallen, dass in dem wilden Gestrüpp auch Blumen sprossen. Und eigentlich neigte sie nicht zu vorschnellen Urteilen. Was wusste sie schon, was andere bewegte? Wer wusste das überhaupt, besonders wenn es um Teenager ging? Die lebten in einer eigenen, ganz anderen Welt, zu der es für Erwachsene keinen Zutritt gab. Eine schreckliche Phase. Und wenn man mittendrin steckte, irgendwie trotzdem eine der besten. Erwachsenwerden als Verheißung und eine Ewigkeit entfernt. Erste Liebe, Musik, Rebellion. Es war gar nicht so lange her, dass sie das selbst durchlebt hatte. Oder doch?
Katrin lächelte betreten. Doch, es war lange her und sie – Ü40 –, aus der Sicht jedes Teenagers definitiv auf der anderen Seite der Ewigkeit angekommen. Damals hatte sie geglaubt, Erwachsensein bedeutete, den Durchblick zu haben. Eine glatte Fehleinschätzung, über die sie heute nur lachen konnte. Gerade heute, obwohl ihr eigentlich wirklich nicht zum Lachen war. Von außen betrachtet wurden viel zu leicht falsche Schlüsse gezogen. Allein wenn sie sich vorstellte, wie merkwürdig sie vorhin auf der Spielplatzbank am Kletternetz gewirkt haben musste. Oder jetzt, zusammengefaltet auf einer Stufe, neben dem zur Seite geschobenen rot-weißen Absperrelement, das mit kreativen Flüchen und Schmierereien verziert war.
Der Mensch am Ufer rappelte sich auf. Blass und oval das Gesicht, dunkel der Rest, und ein Störfaktor, den Katrin wahrnahm, ohne ihn spontan benennen zu können. Es ging sie weder etwas an, noch interessierte es sie. Trotzdem schaute sie weiter hin, folgte dem Blick des Trampeltiers zu dem langgestreckten Schiffsanleger, auf dem seit geraumer Zeit eine Frau stand. Still wie ein Reiher, der auf Beute lauerte, und ebenso gut getarnt. Fast wirkte sie eins mit der Umgebung. Die Kleider farblos Ton in Ton bis zu den Schuhen, die sie jetzt auszog.
Die Luft war zwar warm, doch um ein Sonnenbad nehmen zu wollen, musste man schon sehr optimistisch sein.
Katrin wandte sich ihrem Handy zu. Ein Tropfen wölbte sich über dem Wort wieder. Weider las sie stattdessen. Unwirklich groß, wie unter einer Lupe – gefangen und falsch – sprangen das E und I sie an. Der hartnäckige Kloß in ihrem Hals löste sich in einem kurzen, krächzenden Lachen. Ach du dickes Ei. Mit dem Handballen wischte sie die törichten Tränen weg. Heulen war keine Option. Sie legte die Fingerkuppe auf Entfernen und löschte einen Buchstaben nach dem anderen, bis von ihrer Nachricht nichts mehr übrig war.
*
Vor einer guten Stunde hatte es noch geregnet; jetzt lag der abgenutzte Beton des Landungsstegs rau und trocken unter Astrids nackten Füßen. Sie wackelte mit den Zehen. Schon seltsam, wie schnell ein kurzer Schauer die Straßen leerfegte und wie lange es dauerte, bis die Leute anschließend wieder aus den Häusern kamen. Sonst war hier um diese Zeit am späten Vormittag viel mehr los. Der Radweg oberhalb war viel befahren, der Spielplatz und das Beachvolleyballfeld am Neckarknie beliebt, ganz zu schweigen vom Biergarten am Stadtstrand mit seinen stoffbespannten Holzliegestühlen. Bestimmt waren die ziemlich unbequem, dafür boten sie einen guten Ausblick aufs Wasser.
Astrid spähte zum anderen Ufer. Gleich hinter der Straße und den Bäumen erstreckte sich das weitläufige Gelände der Wilhelma. Jahrelang hatte sie eine Dauerkarte besessen, jedes Tier, jeden Weg und jeden Unterstand gekannt – und war bei jedem Wetter hingegangen. Andere kauften sich einen Hund zum regelmäßigen Gassigehen, sie bevorzugte Elefanten, Löwen und Erdmännchen. Da die nun einmal nicht ins Einfamilienhaus passten, musste sie zum Zoo spazieren, und die Tiere durften bleiben, wo sie waren. Ein platter Scherz, der sich trotzdem zu einer Art Familientradition entwickelt und als Running Gag jeden Besuch begleitet hatte. Vielleicht sollte sie ihre regelmäßigen Wilhelma-Ausflüge wieder aufnehmen.
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