E-Book, Deutsch, 252 Seiten
Politycki Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-455-81176-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bestimmte Artikel 2006-1998
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-455-81176-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Matthias Politycki gilt als großer Stilist und ist einer der klügsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur. Er schreibt Romane, Erzählungen und Gedichte; als Essayist äußert er sich seit Jahrzehnten mit vieldiskutierten Debattenbeiträgen zu den Fragen der Gegenwart. Zuletzt erschienen der Roman Alles wird gut - Chronik eines vermeidbaren Todes sowie das Debattenbuch Mann gegen Mann.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
I Alt werden, ohne jung zu bleiben
II Dick & durstig
III Betreutes Wohnen
IV Relevanter Realismus
V Digitaler Grabstein
VI Fata Americana
Anhang
Anmerkungen
Über Matthias Politycki
Impressum
Alt werden, ohne jung zu bleiben
Seit dem 28. Februar 1992 führe ich mit meinem Freund Christoph Bartmann[1] das immerwährende »Prager Protokoll«: Begonnen anläßlich eines Besuchs im dort gerade neugegründeten Goethe-Institut und noch ganz im Zeichen privater Irrungen und Wirrungen stehend, widmete es sich im Zuge der Zeit – auch wenn wir uns andernorts trafen, hielten wir am Namen unsrer Gesprächsnotate fest – zunehmend den allgemeinen Weltläuften, festgehalten in holzschnittartigen Kurzzusammenfassungen unsrer Weitschweifigkeiten: Es steht nicht gut um die deutsche Kultur, wenn man vom Ausland auf sie blickt, so eines unsrer von Jahr zu Jahr verzagter intonierten Leitmotive, welch grassierendes Desinteresse an der deutschen Sprache, welch rasanter Verlust an Strahlkraft dessen, was jenseits von Mercedesstern, Adidasstreifen und Niveadose unterm Label »deutsch« firmiert![2] Mit den kläglichen Darbietungen der Nationalelf fing es an,[3] mit der Flucht von Spitzensteuerzahlern und -wissenschaftlern ins Ausland, dem konstanten Anwachsen von Staatsschuld, Arbeitslosenzahl und allgemeiner Politikverdrossenheit hörte es noch lang nicht auf.
Soweit das Holzschnittartige. Selbstredend hätten all die angeschnittnen Themen differenzierter angegangen werden müssen; ihre schiere Benennung schien uns jedoch als Hintergrundsrauschen auszureichen, vor dessen anschwellender Intensität das Prager Protokollieren erst so richtig in Fahrt kam: »Es muß sich was ändern, die Frage ist nur: was wo wie wann.«[4] Fürs übrige Mitteleuropa sah es unsrer Meinung nach im Verlauf der späten 90er ebenfalls zunehmend düster aus, für die Gründerstaaten der EWG, deren wichtigste Vertreter denn auch nach der Jahrtausendwende als »Altes Europa« explizit auf einen weltpolitischen Abstiegsplatz verwiesen wurden.[5] Und in Bälde wahrscheinlich auch auf einen weltwirtschaftlichen, wohingegen die jungen Industrienationen Asiens immer häufiger für Schlagzeilen sorgten, und zwar längst nicht mehr in Sachen Verlagerung von Produktionsstätten in Billiglohnländer, oh nein! Sondern indem sie mit ihrer rasant wachsenden Wirtschaftskraft altehrwürdige Industriestaaten wie Frankreich auf die Plätze verwiesen[6] oder sich im Handstreich riesige europäische Großkonzerne einverleibten,[7] indem sie sich also dem wachsenden Druck der Globalisierung weit besser anzupassen wußten als der Rest der Welt und damit für Verwerfungen sorgten, die man als erste Vorboten einer völlig neuen Wirtschaftsordnung lesen konnte: Ob wir von einem »Kleinen Tiger« wie Taiwan auf Mitteleuropa blickten oder von einem der dynamisch aufstrebenden Staaten des ehemaligen Ostblocks – und beide taten (und tun) wir das als überzeugte »Alte Europäer«, keine Frage –, vermeinten wir, Symptome des drohenden Abstiegs aus der »Ersten Welt« zu entdecken, zumindest schon mal die entsprechende Lähmung, Verkrustung, diffus muffige Untergangsstimmung. Zugegeben, auch wir frönten beim Prager Protokollieren der allgemeinen Verdrießlichkeit, wie sie hierzulande über Jahre zum guten schlechten Ton gehörte. Waren wir auf diese Weise etwa zu »Konservativen« geworden? Oder lediglich kritischer im Umgang mit Illusionen, sprich: leidenschaftsloser, kälter, älter?
Älterwerden erlebten wir während der 90er, in unsrer Eigenschaft als Bürger eines Gemeinwesens, als Verlusterfahrung, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks war ja nicht nur die sozialistische Utopie an ein real existierendes Ende gekommen, sondern auch die des »freien Westens«, in der soziale Marktwirtschaft so berauschend schlicht mit Demokratie und Glück gleichgesetzt werden konnte: Erst ging mit Pauken und Trompeten die DDR unter, dann, sang- und klanglos bis zum heutigen Tage, die alte BRD. Gegen unsern Willen gerieten wir östlich wie westlich der alten Demarkationslinie in eine rundum offene Gesellschaft, in der nichts mehr tabu, unhinterfragbar, heilig, hingegen alles möglich und paradoxerweise trotzdem ohne echte Zukunftsperspektive war. Schon bald schien unsre Idee von Freiheit auf den Sachverhalt zusammenzuschnurren, daß wir zwischen den diversen Stromversorgern, Netzbetreibern, Spaßlieferanten wählen und uns ansonsten als »Ich-AG« würden durchschlagen dürfen; an der Abschaffung unsres klassischen Kulturbegriffs hatten wir selber maßgeblich mitgewirkt, an derjenigen des oft geschmähten (und in der jetzigen Eventkultur arg vermißten) Bildungsbürgertums bereits die Generationen vor uns;[8] von idealistischen Gesellschaftskonzepten kündeten schließlich nur noch diejenigen, die wir als »Verlierer der Einheit« gern zu Wort kommen ließen, weil wir ihnen dann nicht auch noch Gehör schenken mußten. Das Ende der inneren Nachkriegsordnung gestaltete sich zwar als ein längst überfälliges Großreinemachen im Feld der alten, verbrauchten Werte, Logoi und Diskurshoheiten, auf das wir selber einst voll Hoffnung hingearbeitet hatten, lief dann aber, da die verschlissenen ästhetischen Hierarchien und utopischen Konzepte zwar verworfen, aber keine neuen postuliert wurden, vor allem auf eines hinaus: auf eine sehr grundsätzliche Orientierungslosigkeit, und mit ihr: auf das schleichende Ende sämtlicher Visionen. Glück schien im Zeichen der neuen Unübersichtlichkeit nurmehr als Privatbiotop zu erlangen und dann durch flächendeckenden Zynismus zu verteidigen; unter Berufung auf »Toleranz« und »Ironie«[9] ließ sich ungehemmt der eignen Ignoranz frönen, es war schlichtweg zum … Oder waren wir, die gealterten Prager Protokollanten, im Lauf der Jahre lediglich erfahrener geworden im Umgang mit Etikettenschwindlern und Phrasendreschmaschinen, sprich: leidenschaftlicher, dünnhäutiger, älter?
Nun ist das Älterwerden seit dem Siegeszug von Pop und Rock zu unser aller Kardinalproblem geworden, in dem weltanschauliche Aspekte – »Trau keinem über dreißig!« – mit latent sexistischen zusammenfließen: In einer dem Körperkult ergebenen Gesellschaft kann man’s sich im Grunde nicht leisten, älter zu werden, und wenn doch, dann nur, wenn man dabei trotzdem bleibt. Man betrachte in die Jahre gekommene Berufsjugendliche, wie sie Szenekneipen bevölkern und dort auf ihren siebzehnten, womöglich bauchnabelgepiercten Frühling warten; wie sie sich lässig ihr Hemd aus der Hose gezogen oder ein Baseballkäppi schräg aufgesetzt haben, um Lebensart, Selbstironie, Frauenverstehertum vorzutäuschen, »erfahrne Rock ’n’ Roller«, die nach gieren. Freilich kommt anstelle des Keith-Richard-mäßigen dabei zumeist nur das Roberto-Blanco-hafte an ihnen heraus.
Alter Schwede! Spätestens mit dem Ende der Nachkriegsordnung ist die einstmals revolutionäre Jugendkultur zur reaktionären Spaßkultur verkommen, und jeder blamiert sich, so gut er eben kann. Würdevoll altern ist out, statt dessen huldigt man einer neuen Schamlosigkeit, notfalls als Narr, die mit aller Gewalt den Eindruck erzeugen will, man fröne zumindest noch einem pharmazeutisch geregelten Geschlechtsleben. Als ob geistige Potenz kein ausreichender Virilitätsnachweis wäre! Als ob Älterwerden schon dasselbe wie Altsein wäre! Und nicht vielmehr der ewige Lebemann auf eine Weise vergreist und erstarrt, wie es dem bewußt Alternden bereits die fortwährende Dynamik des Vorgangs versagt! Wer bis zum finalen Akt nichts als jung bleiben will, versäumt in aller Regel die Hälfte des Lebens – warum sollte man das, was man in seiner Jugend erträumt, erlitten, erlacht hat, auf immergleiche Weise bis zum letzten Atemzug erleben, allenfalls ergänzt um das Wissen über sämtliche toskanischen Olivenöle einschließlich ihrer Falschpressungen? Ein Schisser ist man mit dieser anhaltenden Selbstbetrügerei obendrein.
Hingegen alt werden, ohne jung zu bleiben![10] Ein permanenter Prozeß, in dem jedes neue Lebensjahr, jedes neue Lebensjahrzehnt zum intellektuellen Abenteuer gerät, zum Ausgangspunkt neuer Ansichten, die sich mit bisherigen Ansichten sukzessive zu Einsichten verbinden, freilich auch im Handumdrehen alles bisher Postulierte als liebgewonnenen Lebensirrtum decouvrieren könnten: Man denke an das jähe Wiedererstarken des Nationalismus in Europa, nicht nur in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, wie man ihn längst überwunden glaubte. Einsicht in die Relativität aller Wahrheit, gerade auch der festreden- und leitartikelsubventionierten, bei gleichzeitig ungebrochnem Idealismus, sie wenigstens in ihrer flüchtigen Erscheinungsform immer wieder neu zu erhaschen oder gar für sie zu kämpfen – welch eine Herausforderung! Und so wenige, die sich ihr in angemessener Weise stellen; schließlich fällt es viel einfacher, in der Unverbindlichkeit einer perpetuierten Jugendlichkeit zu verharren, keinem andern verpflichtet als sich selbst.
Es ist nicht nur eine Frage des Stils, den klassischen Erwachsenenstatus vorzuziehen und mit ihm die klassischen Tugenden des Alters. Ein wohlstrukturiertes Zusammenleben, sprich: die bewußte gesellschaftliche Einbindung aller Bevölkerungsgruppen und -schichten ins große Ganze, Gemeinsame, beginnt bekanntlich erst dort, wo Erfahrung ins Spiel kommt, wo sich der Blick auf die Zukunft übers unmittelbar Zukünftige hinweghebt. Und stehen wir Älteren nicht überdies unterm erhöhten Druck der laufenden Ereignisse; ist die Bedrohung des Westens (als einer spätaufgeklärten Wertegemeinschaft jenseits von...