E-Book, Deutsch, 312 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 190 mm
Pohlmann Paula in Paris 1985 - Das Jahr, das alles veränderte
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-03975-008-5
Verlag: Sixthkyu Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 312 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 190 mm
ISBN: 978-3-03975-008-5
Verlag: Sixthkyu Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Idee genauso wie den Vornamen hat sie von ihrer Lieblingsoma, die schon 1912 für ein Jahr in der französischen Hauptstadt Arbeitskraft gegen Bildung tauschte. Die verstorbene Großmutter wird Paulas Begleitungim Geiste, ihr Wegweiser und Schutzengel. Mit wenig Gepäck und großer Aufregung steigt Paula am Gare du Nord aus dem Zug und taucht ein in ihr neues, fremdes Leben.
Doch Paris macht es Paula nicht leicht. Die Stadt schockiert sie mit ihren grauen, abweisenden Fassaden, den endlosen Métrogängen,dem tosenden Verkehr und den stets hastenden Menschen. Ihre Gastfamilie entpuppt sich als ausbeuterisch, die Differenzen sind vorprogrammiert. Das Alltagsfranzösisch hat so gar nichts gemein mit dem Schulfranzösisch, und die einzige Rettung ist der Sprachkurs, bei dem Paula ihre erste Freundschaft zur quirligen Kanadierin Moira schließt.
In der Métro lernt Paula zufällig den Studenten Vincent kennen, der ihr die schönsten Ecken der Stadt zeigt und ihr einen Einblick in die gesellschaftlichen Zusammenhänge Frankreichs gibt.
Zielgruppe
Für Frauen zwischen 35 und 60 Jahren die nochmals ihr Paris revue passieren lassen wollen. Und sich nochmals an die schöne Zeit erinnern. Auch im Hinblick auf die Olympischen Spiele in Paris 2024.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
K a p i t e l 1
Ich wollte weg. Weg von dem acht Quadratmeter großen Zimmer, weg von der kackbraunen Couch, dem Tennisclub, der Eisdiele, der Fußgängerzone. Das war zumindest eines der wenigen Dinge, von denen ich einen Plan hatte.
Ich hatte Close to me von The Cure auf volle Lautstärke gestellt – so viel, wie mein Plattenspieler mit den einfachen Lautsprechern hergab, ohne zu rauschen und versuchte, die Fotos und Briefe meiner Freunde, mein Tagebuch und den Fotoapparat in den Ecken des Koffers zu verstauen, als meine Mutter aus der Küche rief:
»Noch eine Stunde, dann müssen wir los! Guckst du noch mal auf die Packliste, ob du auch alles hast?«
Als wir kurz darauf Richtung Hamburger Innenstadt fuhren, sprachen wir nicht viel. Mir war es recht. So konnte ich meiner Heimat auf Wiedersehen sagen, einer Gegend, die ich außer für Urlaubsreisen nach Bayern nie verlassen hatte.
Es nieselte und ich konnte keinen Unterschied zwischen Himmel und Horizont ausmachen. Hamburg, die Perle des Nordens, wie unsere Lokalzeitung täglich hymnenartig schrieb, zeigte sich von ihrer hässlichsten Seite.
»Wenn du zurück bist, haben wir Sommer und du hast wieder Geburtstag«, sagte meine Mutter in die Stille hinein – eher zu sich selbst als zu mir.
Mir erschien der Hamburger Hauptbahnhof mit seinen vierzehn Gleisen wie der Weg in die große weite Welt. Obwohl er weder von der Vorder- noch von der Rückseite her einladend wirkte. Ich fand ihn hässlich, kein Bahnhof zum Verweilen, er war offenbar ausschließlich zum Ankommen und Abfahren gedacht.
Neben dem Eingang hockten Obdachlose zusammen mit ausgemergelten Junkies. Meine Mutter und ich hievten den Koffer aus dem Auto. Von meinem Vater hatte ich mich bereits zwei Tage zuvor verabschiedet, er war auf Geschäftsreise.
Der Nachtzug nach Paris fuhr von Gleis 14 ab, dem letzten Gleis des Bahnhofs. Meine Mutter schien erleichtert: »Ach, guck mal. Du kannst schon einsteigen, dein Zug ist ja schon da!« Sie drückte mich an sich und strich mir flüchtig über die Wange: »Mach‘s gut, Paula!« Dann schickte sie noch einen strengen Blick hinterher. »Und sei bitte ordentlich.«
Ich nickte. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob man zum neuen Menschen mutiert, sobald man einen neuen Raum betritt.
»Sei fleißig, hörst du – arbeite gut mit in der Sprachschule, aber vor allem bei deiner Gastfamilie!«
Da war er wieder, der Leitsatz aus unserem Hause: Geliebt wird, wer ordentlich ist und wer etwas leistet.
Wie auch immer ich die mir gestellten Aufgaben bewältigte – ich hatte mir zumindest vorgenommen, mich nicht zu blamieren. Davon, wie mein Arbeitsauftrag aussehen würde, hatte ich keinen blassen Schimmer, aber der Vorsatz, das Beste zu geben, war da.
Als ich meiner Mutter zuwinkte, während der Zug sich in Bewegung setzte, nickte sie kurz, ansonsten erkannte ich keine Gefühlsregung. Ich fragte mich, ob sie traurig war, ihre einzige Tochter ein Jahr lang nicht zu sehen, oder ob die Freude über die Annehmlichkeiten meines Fortgangs überwog: keine Songs von Supertramp in voller Lautstärke ertragen zu müssen oder Platten von The Cure, Madness und den Talking Heads, die ich mehrfach hintereinander abspielte, weil die Lieder mich in eine andere Welt trugen. Eine Welt, in der ich mir selbst nichts beweisen musste; nicht definieren, wer ich war oder sein wollte oder was ich mal werden wollte, und in der es keine unbequemen Fragen gab – warum ich bisher weder bei Anti-AKW-Demos in Brokdorf mitgelaufen war noch gegen die atomare Aufrüstung protestiert hatte. Die Musik versetzte mich in ein Vakuum, in dem ich mich geborgen fühlte.
In meinem Abteil mit sechs Schlafpritschen zum Ausklappen hatte mein Reisekoffer keinen Platz, er passte weder unter die Sitze – dafür war er zu dick – noch oben auf die Ablage – dafür war er zu schwer. Auch der Schlafplatz im Abteil war sportlich bemessen, denn die Liegen waren für Jockeys konzipiert. Ich stellte meinen Koffer also mitten auf dem Boden ab, kramte den Walkman aus der Reisetasche und drückte auf Play für die Kassette, die die letzten Tage und Wochen in Dauerschleife lief. Kate Bush sang Running up that hill. Es erschien mir wie eine Ewigkeit und war doch erst ein paar Stunden her, als meine Mutter bei diesem Lied zum Aufbruch gedrängt hatte.
Der Zug passierte die Elbbrücken und fuhr durch ein Höllenfeuer, denn der Hamburger Himmel hatte eine dramatische Farbe angenommen, eine Mischung aus Orange und Violett, sodass die Kräne des Hafens krakenartig wie in einer perfekt ausgeleuchteten Bühnenkulisse in die Höhe ragten.
Vor zwei Wochen war ich zwanzig geworden, hatte mein Abi in der Tasche und wusste nur, dass ich nicht in Wentorf bleiben wollte. Ich galt als die Chaotin der Familie. Das mag an Vorkommnissen aus der Vergangenheit gelegen haben, denn ich hatte mir im Skiurlaub gleich nach der Ankunft einen komplizierten Kreuzbandriss zugezogen, weil ich anstelle der blauen eine rote Piste genommen hatte. Kurz darauf war ich diejenige, die lachend auf Holzbotten die steile Garagenabfahrt ihrer Freundin runterrutschte und sich unten angekommen beide Handgelenke brach. Mein Kopf befand sich zeitweilig in den Wolken, in einer Art Nirwana, dort spielte sich ein nebulöses Wirrwarr ab, in das ich mittels seitenlanger Tagebuchnotizen versuchte, Ordnung zu bringen, während mein Paula-Körper tennisfest auf der Erde stand und neben dem Training ein Punktspiel nach dem anderen absolvierte. Weil man es bei uns so machte, weil alle es so machten, und da ich nicht auffallen wollte, machte ich mit. Ich trug Tennisschuhe von Adidas und weiße kurze Röckchen, Steffi Graf war mein Vorbild und Björn Borg ein Halbgott. Man traf sich am Wochenende im Tennisclub, manche waren außerdem im Reitverein und diejenigen, die eine Doppelgarage hatten und in einer Villa mit Türmchen wohnten, Mitglied im Hockeyclub. Ich wollte eigentlich tanzen, am liebsten Ballett und Jazzdance, aber meine Eltern meldeten mich, ohne zu fragen, im Tennisclub an und dabei blieb es.
Da ich keinen Plan hatte, was ich nach der Schule machen wollte, hatte ich eher aus Unentschlossenheit denn aus Überzeugung Französisch als Leistungskurs gewählt. Nun war ich froh über die Möglichkeit einer Auszeit, eines einjährigen Aufschubs. Und vor allem darüber, einen Grund zu haben, ein Jahr weg zu sein aus meinem Kaff und ein neues Leben auszuprobieren.
Der Zug hatte Hamburg längst hinter sich gelassen und passierte Dörfer, Äcker, Bauernhöfe und ab und zu Kühe auf der Weide. Ich kramte in meiner Reisetasche und holte ein altes Schwarz-Weiß-Foto heraus. Darauf war meine Großmutter abgebildet, in einem langen Kleid, neben ihr zwei Mädchen. Auf der Rückseite stand mit Bleistift geschrieben: Paula in Paris, 1912.
Meine Oma war gerade sechzehn geworden, als ihre Eltern beschlossen, sie für ein Jahr ins Ausland zu schicken, damit sie sich bei einer fremden, wohlhabenden Familie im Haushalt nützlich machte, Kinder betreute und Bildung erhielt. Es war das Jahr, in dem im April die Titanic untergehen sollte, Deutschland noch einen Kaiser hatte und es in der Welt politisch brodelte.
Meine Großmutter wuchs in einer Villa in Hamburg-Blankenese auf und besuchte die höhere Mädchenschule. Auf den meisten Fotos als junge Frau trug sie knöchellange, schmal geschnittene Kleider mit gerafftem Überrock und mehreren Volants, so wie ich sie aus alten Filmen kannte.
Zu ihrer Zeit, so erzählte sie mir, war es in bestimmten Kreisen üblich, die Tochter eine Zeit lang ins Ausland zu schicken, damit sie eine Fremdsprache, am besten Französisch lernte und in Haushaltstätigkeiten eingeführt wurde. Obwohl meine Oma absolut keine Lust auf Haushaltstätigkeiten hatte, denn sie war jemand, die sich gegen jegliche Art von Konventionen auflehnte.
Oma Paula erhielt einen Reisepass mit der Unterschrift ihres Vaters und die schriftliche Zusage, dass sie sich für die Zeit von eineinhalb Jahren unbegleitet in Paris aufhalten durfte. Traurig war sie nicht wegen des Abschieds von ihrem Zuhause, erzählte sie mir mit schelmischem Blick, denn obwohl man in unserer Familie eigentlich nicht über Gefühle sprach, sagte sie immer offen, was sie dachte.
Wenn sie von ihrer Zeit in Paris erzählte, leuchteten ihre Augen. Sie schwärmte von den charmanten Franzosen, von deren Eleganz, von den Hutkreationen, den ausladenden Diners, der melodiösen Sprache. Auf den Fotos sah sie tatsächlich sehr zufrieden aus.
Die Abteiltür wurde aufgerissen und ein älterer Mann in blauer Uniform trat ein.
»Bonjour Madame, votre passeports s’il vous plait! Ihrö Osweise bittö!«
Mit halb geschlossenen Lidern fummelte ich in meiner Tasche nach meinem Pass.
Ich schob das Rollo hoch, um zu sehen, wo wir uns befanden und ob es noch mitten in der Nacht war. Doch draußen brach ein neuer Tag an und es wurde langsam hell. Der Zug rollte durch eine leicht hügelige, grüne Landschaft, die sich bis zum Horizont erstreckte.
Ich kramte nach dem Foto, das meine Gastfamilie mir geschickt hatte: Links auf dem Bild war die Mutter zu sehen, Isabelle, dunkle Locken, Brille, offenes Lächeln. Sie arbeitete als Lehrerin an einem lyçée, einem Gymnasium. Daneben ihr Mann, Philippe, Regisseur an einem Theater. Im Gegensatz zu seiner Frau wirkte er ernst, aber das konnte auch an seinem schwarzen Oberlippenbart liegen. Er trug ein buntgemustertes Hemd zu einer schwarzen Hose. Davor die beiden Mädchen, Amélie und Josephine. Zehn und acht Jahre alt. Sie sahen frech aus, hatten Zahnlücken und...




