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E-Book, Deutsch, 134 Seiten
Pohl / Wiedemann Abgetaucht, radikalisiert, verloren? Die Generation 50+ im Sog der Filterblasen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-647-99283-9
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 134 Seiten
ISBN: 978-3-647-99283-9
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Früher wandten sich betroffene Eltern wegen ihrer radikalisierten Jugendlichen an Beratungsstellen. Seit einigen Jahren scheint sich dies umgekehrt zu haben: Immer öfter suchen junge Menschen wegen ihrer radikalisierten Eltern Hilfe. Menschen der Generation 50plus teilen häufiger Fake News als junge Menschen, sind anfälliger für Verschwörungsideologien und scheinen häufiger in Filterblasen abzutauchen. Woran liegt das? Und wie kann mit diesem neuen Phänomen der radikalisierten Senioren und Seniorinnen umgegangen werden? Neben einem Streifzug durch die Studienlage zu Medienkompetenz und Radikalisierung im Alter beleuchten die Autorinnen individuelle Fallgeschichten und leiten daraus Lösungsideen ab. Es zeigt sich, dass eine Sensibilisierung für die Vulnerabilität in dieser Generation dringlich und von hoher politischer Relevanz ist: Nur so lassen sich Wege finden, der Spaltung innerhalb von Familien und innerhalb der Gesellschaft entgegenzuwirken.
Dr. Sarah Pohl, Diplom-Pädagogin, systemische Paar- und Familienberaterin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes Baden-Württemberg (ZEBRA/BW). Sie arbeitete acht Jahre in der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg und ist seit langem als Referentin und Autorin in diesem Themenfeld tätig.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Erster Teil: Generation 50+ und Radikalisierung: Zahlen, Daten und Fakten
Kürzlich haben wir uns erneut mit den deutschlandweiten Beratungsstellen, welche zum Thema »Verschwörungstheorien« auf Landesebene beraten, getroffen. Dabei tauschen wir uns regelmäßig zu verschiedenen Themen aus und stellen regionale Unterschiede oder auch Ähnlichkeiten fest. In einem Punkt jedoch besteht Konsens: Überwiegend kontaktieren uns Menschen zwischen 25 und 45 Jahren, die in Sorge um ihre Eltern sind. Das sind Menschen, wie beispielsweise Anne (37 Jahre), die uns folgendes Szenario schildert: »Ich habe drei kleine Kinder und eigentlich nicht viel Zeit, aber meine Mutter hält mich gerade echt auf Trab. Sie ist 71, eigentlich noch ganz rüstig, kerngesund, aber seit Corona ist sie abgedriftet. Sie teilt die abstrusesten Beiträge auf Facebook. Ja, Facebook hat sie vor vier Jahren für sich entdeckt, und ich muss sagen, sie ist da völlig unkritisch. Sie hat kein Verständnis dafür, dass manche Quellen vertrauenswürdiger sind als andere. Sie hängt in diesen Verschwörungstheorien drin. Sie hat sich sogar ein T-Shirt bestellt, mit ›Kill Bill‹, da geht es um Gates. Vor einem Jahr bekam sie die Diagnose Parkinson. Seither ist sie noch tiefer in alternativmedizinischen, esoterischen und antistaatlichen Weltbildern verstrickt. Ich bin schockiert und weiß nicht, was zu tun ist. Jedes Gespräch mit ihr endet im Streit. Sie ist wie eine Teflonpfanne, alle Argumente prallen an ihr ab. Mich macht das hilflos und verzweifelt und ich habe das Gefühl, ich kann sie doch damit nicht allein lassen. Ich kann sie doch nicht in ihr eigenes Verderben rennen lassen.« Annes Geschichte steht dabei stellvertretend für unzählige familiäre Geschichten mit einer vergleichbaren Struktur. Ein Problem der Pandemie? Oder gab es schon vorher die radikalisierten Seniorinnen und Senioren? Werden Menschen gar im Alter rigider und festgefahrener in ihren Denkstrukturen oder liegt es womöglich an mangelnder Medienkompetenz bzw. einem zu hohen Vertrauen in das, was man im Internet so liest? Kann man dieser Entwicklung innerhalb dieser Altersgruppe einfach zusehen oder muss auf gesellschaftlicher Ebene reflektiert werden, wie diese Menschen erreicht werden können und welche Angebote es geben sollte, um einer Radikalisierung vorzubeugen? Nicht zuletzt ist auch die Frage zu stellen, ob es sich um Einzelfälle handelt oder ob wir es mit einem bislang kaum thematisierten gesellschaftlichen Phänomen zu tun haben. Grundsätzlich muss bereits an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Forschungslage zu den »radikalisierten Seniorinnen und Senioren« ungenügend ist. Die meisten Forschungsberichte beschäftigen sich mit jungen Menschen, die extremistische Einstellungen haben. Was wissen wir über Radikalisierung bei der Generation 50+, den Best Agern oder Senioren?
Wenn wir von »radikalisierten Seniorinnen und Senioren« oder »radikalen Best Agern« sprechen, dann klingt das zunächst etwas plakativ. Wen meinen wir damit? Wie es der Titel des Buchs verrät, haben wir die Generation 50plus im Auge, auch als »Best-Ager« bezeichnet. Wie im Vorwort bereits angesprochen, wurde vor allem diese Altersgruppe in unseren Gesprächen und Berichten von unzähligen Angehörigen zum sichtbaren Problemfeld. Zunächst planten wir, uns begrifflich auf die sog. »Senioren« festzulegen. Aber: Der Begriff des »Seniors« oder der »Seniorin« ist nicht klar altersmäßig definiert. Die Zuschreibung des Begriffs »Senior« hängt von Kontext, Kultur und individuellen Interpretationen ab. Sozial dient die Zuschreibung »Senior« als Bezeichnung für Menschen, die einen fortgeschrittenen Lebensabschnitt erreicht haben. Eine präzise Altersangabe existiert nicht, wobei in verschiedenen Kulturen 60 bis 70 Jahre als Richtwert gelten. Wir haben Abstand genommen von dieser Zuschreibung und konzentrieren uns ganz allgemein auf Menschen jenseits der Lebensmitte, Menschen, die über 50 Jahre alt sind. Übrigens: Vereinzelt haben wir es auch mit Angehörigen von hochbetagten Menschen zu tun, die bereits weit jenseits der 80 Jahre sind. Allerdings beobachten wir, dass in diesem Alter körperliche Gebrechen und andere Themen im Vordergrund stehen und kaum mehr Anfragen zu Radikalisierungsprozessen bei uns eingehen. Was bedeutet »Radikalität«?
Auf den ersten Blick wirkt »Radikalität« eindeutig und eingängig, doch löst der Begriff unterschiedliche Assoziationen aus. Während die einen Radikalität eher als politischen Extremismus definieren, gibt es andere, die Radikalität auch stark im weltanschaulichen Bereich ansiedeln und mit dem Wort »Rigidität« über einen Kamm scheren. Unser Bild wird unter anderem geprägt durch die mediale Berichterstattung, Bilder von Terroranschlägen, Gewalt, Rechtsextremismus usw. sind hier besonders einflussreich. Doch wir laden Sie ein, all diese Assoziationen zu vergessen und im Wortsinne zurück zu den Wurzeln zu gehen (der Begriff »Radikalität« entstammt dem lateinischen Wort »radix«, also Wurzel). Oft geht es um wesentliche und existenzielle Grundfragen, die das eigene Wertefundament betreffen. Radikalität kann sich in verschiedenen Lebensbereichen zeigen, es gibt etwa Menschen, die zu politischer Radikalität neigen, daneben existieren auch religiöse und ideologische Radikalität, wenn sich Personen etwa einer Extremgruppe anschließen oder extreme Positionen und Überzeugungen vertreten. Zuletzt wäre noch der Bereich der sozialen Radikalität zu nennen, hier fokussieren Menschen eher auf soziale Themen, wie etwa Geschlechterrollen oder -definitionen, Rassengerechtigkeit und Ähnliches, und fordern tiefgreifende Veränderung sozialer Strukturen in den jeweiligen Bereichen. Der Begriff »Radikalität« ist also nicht zwangsläufig negativ, sondern kann auch verwendet werden, um Personen oder Bewegungen zu beschreiben, die sich für (positive) Veränderungen und Reformen in einer Gesellschaft einsetzen. Allerdings wird der Terminus oft mit Extremismus in Verbindung gebracht, insbesondere wenn er mit gewalttätigen oder illegalen Durchsetzungsmitteln in Verbindung steht. In der Radikalismusforschung gibt es unterschiedliche Modelle und Annahmen, oft geht man von einem Prozess aus, der in gewissen Stufen verläuft und in einem gewalttätigen Handeln gipfelt (Ostwaldt u. Coquelin, 2018). Wir wollen in Bezug auf Menschen jenseits der 50 gezielt einen Radikalisierungsbegriff zugrunde legen, welcher angelehnt an McCauley und Moskalenko (2011, S. 222 f.) Gewalt nicht als notwendiges Stadium einbezieht. Wir sehen Gewaltbereitschaft als eine mögliche Variable, aber nicht immer ist diese gegeben. Auch möchten wir uns an dieser Stelle noch zurückhalten mit Definitionen, welche Erklärungen miteinschließen, da sich solche Definitionen vor allem auf die Forschung zu jungen Menschen beziehen. Grundsätzlich jedoch beziehen wir Radikalisierung in Übereinstimmung mit Borum (2011, S. 9) auf einen Entwicklungsprozess extremer Ideen und Überzeugungen. Die Gründe für diesen Prozess können verschieden sein, diese sollen im zweiten Teil des Buches näher beleuchtet werden. Da wir uns nicht mit jungen Menschen, sondern mit den sog. »Best Agern« beschäftigen, greifen möglicherweise die typischen linearen Stufenmodelle nicht bzw. funktioniert Radikalisierung im Alter vielleicht anders als in jungen Jahren. In diesem Buch betrachten wir verschiedene mögliche Bereiche, in denen sich Senioren und Seniorinnen radikalisieren bzw. in Filterblasen abtauchen. Wir beziehen die Reichsbürger und Querdenkerszene, Verschwörungstheoretikerinnen und Esoteriker mit ein. Viele Kontexte mischen sich, eine klare Abgrenzung ist nicht immer gegeben, oft fließen rechte oder antisemitische Ideologien mit ein. Wir bevorzugen den Begriff der Filterblase, da wir vor allem über solche Menschen schreiben, die einem in sich geschlossenen Weltbild anhängen, von allgemeinen gesellschaftlichen Werten divergierende Überzeugungen vertreten und reduzierte Kontakte zur Außenwelt pflegen. Bei der Frage, warum Menschen sich radikalisieren bzw. in Filterblasen verschwinden, ist zu unterschieden zwischen strukturellen und individuellen Erklärungen. Das soziale Umfeld kann eine Rolle spielen, aber auch diverse Vorerfahrungen, Diskriminierung, Armut, biografische Gegebenheiten usw. Uns interessieren in diesem Buch vor allem die individuellen Ursachen für den Rückzug in die Filterblase. Denn, um besser zu verstehen, welche gesellschaftlichen Angebote es benötigt, um Menschen, die »abgehängt« haben, wieder »abzuholen«, braucht es diesen Blick auf mögliche individuelle Ursachen. Bouhana und Wikström (2011) kennzeichnen besonders die Gruppe der Menschen zwischen 15 und 35 Jahren als besonders empfängliche Gruppierung für radikale politische Ideologien. Auf die Frage, ob Menschen über...