E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Pörtner Der Campingplatzkiller
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7152-7518-5
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7152-7518-5
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephan Pörtner, geboren 1965, wuchs in einer Schriftstellerfamilie auf: Seine Mutter war U?bersetzerin, sein Vater Autor, seine Schwester ist die Schriftstellerin Milena Moser. Er lebt in Zu?rich, wo seine sechs Krimis mit Ko?bi Robert, dem Detektiv wider Willen, spielen. Der letzte Band Po?schwies wurde mit einem Werkbeitrag ausgezeichnet, fu?r Stirb, scho?ner Engel erhielt er den Zu?rcher Krimipreis. Po?rtner war bereits drei Mal fu?r den Glauser Kurzkrimi-Preis nominiert. Fu?r das Straßenmagazin Surprise schreibt er die Kolumne Tour de Suisse, fu?r das Schweizer Radio Ho?rspiele, ist Co-Autor der Theaterstu?cke Polizeiruf 117 und Die Bankra?uber. Sein ju?ngster Roman Heimatlos wurde von der Literaturkommission des Kantons Zu?rich mit einem Anerkennungsbeitrag ausgezeichnet.
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Erstens
Verschlafen schlurfte Henry Kummer den Kiesweg entlang, es war früher Donnerstagmorgen, und alles war still. Wer ging, ging gemächlich, noch war man unter sich. Die ersten Wochenendgäste und Ausflügler würden am Freitagnachmittag eintreffen. Gutes Wetter war angesagt. Seit zwei Wochen war der Campingplatz wieder geöffnet. Die Coronakrise hatte dem Saisonstart, wie allem anderen, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Den ganzen, ungewöhnlich schönen Frühling hindurch waren die Campingplätze geschlossen gewesen, sogar als die Beizen und Hotels wieder aufmachen durften, blieben sie zu, was unter den Campern für Gemurre sorgte.
Camping war beliebter denn je. Hatte Margrit Rainer über das Zelten im Sihltal noch ein Spottlied gesungen, war die ehemals als biedere Kleinbürgeridylle verlachte Tourismusform hip geworden. Gut aussehende, glückliche und von keinen finanziellen oder sonstigen Sorgen geplagte Paare und Familien zeigten auf YouTube und Instagram, wie schön das Leben im Camper sein konnte. Der seit Jahren anhaltende Boom ließ die Zahl der Wohnmobile, -wagen und Campingbusse stetig steigen. In diesem Frühling, als während des Lockdowns alle zu Hause eingesperrt waren und sich nach Abwechslung und Reisen sehnten, waren die Verkäufe regelrecht explodiert. Es war abzusehen, dass es in diesem Jahr keine Ferien im Ausland geben würde. Man blieb im eigenen Land, und Camping war eine Möglichkeit, dabei in den eigenen vier Wänden zu bleiben, auch wenn es nur dünne Fiberglas-, Blech- und Zeltwände waren. An dem Wochenende, an dem die Campingplätze wieder öffnen durften, hatte es allerdings geregnet.
Auch Kummers Pläne waren durchkreuzt worden. Sein neues Leben war stecken geblieben. Seit Anfang des Jahres war er Rentner, die Frühpensionierung hatte er selbst beantragt. Finanziell ein grober Unfug, trotzdem war ihm der Entscheid leichtgefallen. So ein Bauchschuss regt zum Nachdenken an, über das Leben, wie lange es noch dauert und was man damit anfangen will. Er war sechzig Jahre alt. Jeden Tag konnte Schluss sein. Ein Fehltritt, eine Diagnose, ein Virus. Wäre er damals nicht schnell genug ins Spital gebracht worden, hätte dort schon der coronabedingte Krisenmodus geherrscht, die Kugel ein wichtiges Organ getroffen oder das Rückenmark verletzt, wäre er tot oder schwer behindert. Er hatte Glück gehabt, aber das Glück, Kummer wusste es, sollte man nicht herausfordern. Aufhören, so lange man vorn liegt. Auch wenn er nicht vorne, sondern in einem Spitalbett gelegen hatte, als er diesen Entschluss fasste. Der Bauchschuss hatte ihm gezeigt, wie entscheidend Gesundheit war. Abhandenkommen würde sie ihm so oder so: langsam, stetig, unaufhaltsam oder schnell und vollständig. »Dem Weisen ist es einerlei, ob er früh oder spät stirbt«, hatte neben den kunstvoll gemalten chinesischen Schriftzeichen auf der Karte gestanden, die ihm der Kollege Bärtschi gemalt hatte. Acht Jahre lang hatten sie das Büro geteilt, aber Kummer wusste nicht, dass Bärtschi sich mit chinesischer Kalligraphie befasste. Er wusste auch sonst nicht allzu viel über ihn. Sie waren beide große Schweiger, darum kamen sie gut miteinander aus. Mehr aber auch nicht.
Den Zeitpunkt seines Todes konnte er nur bedingt beeinflussen, aber er konnte beeinflussen, wie er die Zeit bis dahin verbringen würde. Noch fünf Jahre lang Dienst tun oder selbstbestimmt leben. Polizist war er gewesen. Aber keiner, der Verbrecher jagt, nicht einmal einer, der den Verkehr regelt. Zweiunddreißig Jahre lang war er bei der Kantonspolizei gewesen, die letzten fünfundzwanzig davon im Kommandobereich 2 in der Abteilung Logistik. Zu seinen Aufgaben hatte unter anderem der Dienst am Empfang des Kripo-Gebäudes an der Kasernenstrasse gehört. Das war natürlich nicht die Laufbahn, die er sich vorgestellt hatte. Er war zur Polizei gegangen, um Verbrecher zu jagen, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, schwierige Fälle zu lösen. Zumindest hatte er sich das eingeredet. Eigentlich war er bei der Polizei gelandet, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Sein Plan: Nach spätestens zehn Jahren, noch bevor er vierzig war, bei der Kriminalpolizei angestellt zu sein oder den Job zu wechseln. Er hatte sowohl die Karriere wie auch den Absprung verpasst. Es war diese Mentalität, diese fehlende Entschlossenheit, die ihn daran gehindert hatte, beispielsweise in die Abteilung Leib und Leben vorzustoßen. Das war die Elite der Polizei, doch er war im Mittelbau gelandet, nach ein paar Jahren auf einem Posten in der Agglomeration war die Stelle im Hausdienst frei geworden, und er hatte sich darum beworben, weil er wieder in Zürich arbeiten wollte. Auch wenn er am Stadtrand, in Affoltern an der Wehntalerstrasse, aufgewachsen war, so war er doch ein Städter und vermisste seine Heimat. Er blieb hängen, schob eine ruhige Kugel, hatte ein sicheres Einkommen. Abgesehen von den unregelmäßigen Arbeitszeiten eine solide Existenz. Leider nur beruflich, seine Ehe war gescheitert, was er nicht einmal auf den Stress bei der Arbeit schieben konnte.
Bei dem Einsatz, bei dem es passiert war, hatte er nichts verloren gehabt. Es war keine Schießerei mit Bankräubern oder Terroristen, bei der er eine Geisel gerettet oder sonst eine Heldentat vollbracht hätte. Die Kugel durchschlug die Tür eines gutbürgerlichen Einfamilienhauses, abgefeuert aus einer ordentlich registrierten, großkalibrigen Waffe. Schwer zu handhaben und zur Selbstverteidigung denkbar ungeeignet. Als Symbol von Macht und Potenz hingegen unschlagbar.
Er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, im Auto seiner Kollegin Strittmatter nämlich. Sie hatten beide frei und waren unterwegs in ein Brockenhaus, wo sie einen Schrank abholen wollten, den sie gekauft hatte. Strittmatter hatte ihn gefragt, ob er Traggurte besäße; der Hausdienst war auch für den Umzug von Büromobiliar verantwortlich, und er bot an, ihr zu helfen, das Ding in die Wohnung hinaufzutragen. Kummer half Kollegen öfter beim Umzug, davon hatte wohl auch Strittmatter Wind bekommen.
Sie waren ganz in der Nähe des Gebrauchtwarenladens, als sie, die bei der Kripo arbeitete und direkt von der Arbeit kam, den Funkspruch mithörte. Typische Berufskrankheit, den Funk auch in der Freizeit eingeschaltet zu lassen. Da sie in unmittelbarer Nähe waren, fuhren sie hin.
»Lass mich machen«, sagte Kummer, als er aus dem Wagen stieg. Männer, die ihre Frauen und Kinder terrorisierten, hatten tendenziell Mühe, sich von einer Frau etwas sagen zu lassen, so seine Überlegung.
»Ich bin gleich hinter dir.« Strittmatter war ebenfalls ausgestiegen.
Mit seinen knapp zwei Metern Körpergröße, seiner Masse, von der ihm seither ein Stück abhandengekommen war, wirkte er deeskalierend, wie das im modernen Polizeijargon hieß.
Beeindruckend, aber nicht bedrohlich. Papa Bär ist da, alles wird gut. Hinter der Tür tobte ein Mann, schrie, er solle verschwinden. Kummer blieb ruhig, bat ihn, die Tür zu öffnen. Der Mann schoss ohne Vorwarnung. Da nützte seine deeskalierende Erscheinung natürlich nichts, wenn der Agitator sie gar nicht sehen konnte. Die Kugel fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Im ersten Moment begriff Kummer nicht. Er roch das Blut, bevor er es zwischen den Fingern der linken Hand spürte, die er auf den Bauch hielt. Wollte etwas sagen, doch die Stimme versagte ihm. Das Blut floss, die Tür blieb verschlossen, er sank auf die Knie. Strittmatter stützte ihn, dann rief sie über Funk nach einer Ambulanz und Verstärkung. Kummer lag schon im Rettungswagen, als sich der Schütze widerstandslos festnehmen ließ.
Ein Mann Anfang vierzig, Position im mittleren Management. Nach außen hin ein unauffälliger, anständiger Bürger. Zu Hause ein Tyrann, der Frau und Kinder seinen Launen mit Gewalt unterwarf, in dem modernen, gesichtslosen Einfamilienhäuschen mit dem gepflegten Rasen und der Doppelgarage. Kaum war der Mann in Haft, meldeten sich die Nachbarn bei der Polizei. Sie sprachen in die Mikrophone der Lokalradios und Onlineportale: Schlimm sei es gewesen, vor allem die Kinder hätten einem leidgetan, hätten manchmal stundenlang in der sengenden Sonne oder im strömenden Regen gestanden, ohne sich zu bewegen, vom Vater durch das Fenster beobachtet. Manchmal hätten sie geschrien oder seien voller Striemen gewesen, das habe man schon gesehen, beim Schulsport zum Beispiel.
Bei der Gemeinde gemeldet hatte es aber nur eine Bürgerin. Die einen fanden, das sei Privatsache. Es ginge sie nichts an, was zu Hause passierte, und wenn es überhandnähme, würde der Staat schon eingreifen. Wo war er denn überhaupt, der Staat, der doch immer da ist, wenn es darum geht, Steuern einzutreiben? Und diese Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, KESB oder wie die hieß, machte die Sache doch nur noch schlimmer. Also!
Die andern wollten nicht Polizist spielen und den Nachbarn denunzieren. Das wäre doch bünzlig. Lieber eine halb totgeschlagene Frau und misshandelte Kinder, als sich wie ein Blockwart vorkommen. Außerdem hat sie ihn ja geheiratet, nicht wahr, und in der Schweiz kann man sich scheiden lassen. Wir sind hier nicht in Saudi-Arabien. Eben!
Männer waren bereit, jeden Gehorsam zu leisten, jede Erniedrigung hinzunehmen, zu kriechen und schlucken, solange sie in den eigenen vier Wänden unbeschränkt herrschen durften. Männer am unteren Ende der sozialen Hackordnung waren deshalb etwas anfälliger, aber es gab sie in allen Schichten. Diesen Umstand machten sich Despoten, repressive politische und religiöse Systeme zunutze. Ein Mann, der zu Hause König ist, ist ein guter Untertan, ein frommer Gläubiger, ein effizienter Abteilungsleiter. Ein schlechter Mensch.
Kummer sah den...




