E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Wissen & Leben
Pörtl Fernweh
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12427-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Psychologik des Reisens
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Wissen & Leben
ISBN: 978-3-608-12427-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Neurologin. Nach langjähriger Kliniktätigkeit als Oberärztin jetzt in eigener psychotherapeutischer Praxis tätig, wo sie auch hundegestützt arbeitet. Dozentin für tiergestützte Therapie an verschiedenen Instituten (EAG/FPI,Wikkegaard etc). Seit 2012 forscht Pörtl zur Neurobiologie der self-domestication insbesondere am Modell der Hundwerdung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Kognitionspsychologie Emotion, Motivation, Handlung
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Allgemeines
- Sozialwissenschaften Sport | Tourismus | Freizeit Tourismus & Reise Reise & Urlaub: Führer, Landkarten, Pläne
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Los geht’s …
»What’s the purpose of your visit?« – »Was ist der Grund für Ihren Besuch?«, fragt mich der Grenzbeamte bei Ankunft im Flughafen von Orlando. Ich bin gekommen, um einen Vortrag zu halten und im Anschluss noch einige Tage durch Florida zu reisen. Müde und gut gelaunt antworte ich: »I’m here on vacation« – »Ich mache Urlaub«, und ziehe dabei meine Kongressmappe aus dem Gepäck. Ich möchte meine Hoteladresse schnell zur Hand haben. Mein persönliches Nadelöhr. Denn 30 Jahre zuvor, bei meiner ersten Einreise in die USA, kündigte sich am Flughafen von Los Angeles mit der Frage »Where are you staying?« – »Wo wohnen Sie?«, schon ihr Ende an. Ich hatte keine Hotelbuchung. Nur eine private Adresse. Von einem Freund meiner Eltern: 400 North Camden Drive, Beverly Hills. Die Grenzbeamten überprüften meine Angaben und waren sich augenscheinlich nicht sicher: War ich nur verrückt oder doch gefährlich? Sie verweigerten mir die Einreise. Die Adresse gehörte Gene Autry. Einer damals schon betagten, mittlerweile verstorbenen Country-Star-Legende. Al, ein Bekannter unserer Familie, machte dort Housekeeping. Telefonisch war Al nicht erreichbar – damals, als noch kaum jemand ein Mobiltelefon besaß. War er doch gerade auf dem Weg, mich abzuholen. Bewacht von mehreren amerikanischen Grenzbeamten wurde ich vorerst in einen kleinen kahlen Raum geführt. Mir blieb nur das Warten. Auf was? Den Heimflug? Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit meldete Al sich auf den Lautsprecherausrufs des Personals: Ich durfte einreisen.
Ein harsches »You are here on business!« – »Sie sind auf Geschäftsreise!«, holt mich aus meinem Tagtraum zurück. Der Grenzer zeigt auf meine Kongressdokumente. Business? Ich zahle einen Kongressbeitrag, verdiene nichts, rede 30 Minuten, um dann fünf Tage durch Florida zu reisen. Und überhaupt, meine wissenschaftliche Arbeit ist doch fast ein Hobby. Mein Geld verdiene ich als Psychiaterin und Psychotherapeutin. Ich erkläre mich, will nicht als Betrügerin dastehen. Merke, wie die Angst in mir hochkriecht, wieder nicht einreisen zu dürfen. Der Kongress poliere mein Image auf, es sei also geschäftsfördernd, beharrt der Grenzer. Ich füge mich seiner Ansicht. Er korrigiert sein Kreuz – business statt vacation: Ich darf einreisen.
Mir wird schlagartig klar: Reisen bedeutet, an Grenzen zu kommen. Die von Ländern, die der Fremden und der eigenen, die es allesamt zu überwinden gilt. Auch nach der Einreise hören die Fragen nicht auf. Über all die Jahrzehnte wird mir auf Reisen immer wieder die gleiche Frage gestellt: »Where are you from?« – »Woher kommst du?« Und: »Wohin willst du?« Wie ich heiße, was ich mache und wer ich bin, interessiert meist weniger.
Reisen heißt, den Alltag, das, was man alle Tage hat und tut, für einige Zeit zu verlassen, um sich über eine größere Entfernung hinweg zu einem anderen Ort zu begeben. Das Wort »Reise« entstammt dem althochdeutschen »reisa«, was Aufbruch und Fahrt bedeutet. Im Aufbruch lassen wir das Altbekannte hinter uns und schreiten fort. Fortschritt. Um Neues zu erleben. Reisen ist mehr als nur Bewegung durch Raum und Zeit. Reisen ist der Bogen, die Brücke, von dem uns Bekannten zu dem uns (noch) Unbekannten, dem Neuen. Reisen will diese unbekannte Leere füllen. Reisen ist Wissenwollen. Reisen braucht Neugier – die Gier nach dem Neuen. Neugier ist eine seelische Kraft, die uns antreibt, nach Verbindung zu suchen. Die bisher noch Unverbundenes zusammenfügen will. Zu neuen Landkarten und Wegen. So gesehen erklärt sich, warum Reisende vornehmlich nach ihrem Woher und Wohin gefragt werden. Und nicht nach ihrem Alltag. Auch nicht nach ihrem Reisealltag.
Dieses Buch soll vom Reisen berichten. Von meinen eigenen Reisen genauso wie von Reisegeschichten, die bereits Reisegeschichte schrieben. Wer praktische Reisetipps erwartet, wird leer ausgehen. Bezüglich Marschgepäck, Kauderwelsch, Vor- und Nachteilen von Solo- und Gruppenreisen oder Zimmern mit Meerblick wird nicht viel zu lesen sein. Das Buch will sich nicht der Frage widmen, wie wir bestmöglich reisen. Vielmehr soll uns beschäftigen, warum wir überhaupt reisen. Was uns dazu bewegt, aufzubrechen. Warum wir nach dem Neuem, nach Neuland suchen. Und wie und ob Reisen uns verändert. Den Einzelnen. Die Menschheit.
»Alle Welt reist« – das bekannte Zitat von Theodor Fontane (1894, o. S.) ist breits 130 Jahre alt. Im Jahr 2019, noch vor der Corona-Pandemie, zählte die UNWTO (Weltorganisation für Tourismus, 2019) weltweit rund 1,46 Milliarden grenzüberschreitende Reiseankünfte. Und da sind Reisen im je eigenen Land noch nicht enthalten. Das weltweit beliebteste Reiseziel mit rund 117 Millionen Touristen im Jahr ist Frankreich. Und interessanterweise sind Franzosen mit 200 Millionen Auslandsreisen pro Jahr auch das reiselustigste Volk. Gefolgt von den Deutschen, die 2019 rund 178 Millionen Mal für mindestens eine Nacht ihr Land verließen. Bei Reiselust in Milliardenhöhe erscheint der Begriff »Massentourismus« durchaus gerechtfertigt. Aber das war nicht immer so.
Das Wort »Tourist« taucht erstmals um 1800 im Englischen, 1816 im Französischen und 1830 im Deutschen auf. Tourismus entstammt dem lateinischen »tornare« – umrunden – und deutet so an, dass Reisen auch zurückkehren, wieder heimkehren heißt; ja Reisen und Heimat unzertrennlich verbunden sind. Denn wohin wir auch reisen, es ist immer die Heimat anderer.
Die bisher älteste wissenschaftlich dokumentierte Reise erzählt von solch einem Aufbruch in die Fremde und der Heimkehr. Im heutigen White-Sands-Nationalpark in New Mexico finden sich über eine längere Distanz die ca. 12 000 Jahre alten Fußspuren einer erwachsenen Person, die auf dem Hinweg mit einem Kind zielstrebig über den damals schlammigen Boden eilte und einige Zeit später allein zurückkehrte. Der Artikel über diese prähistorische Reise ist von Bennett et al. im Dezember 2020 veröffentlicht worden. Mitten im Lockdown der Corona-Pandemie als alle Grenzen geschlossen und Menschen weltweit in ihre eigenen vier Wände verbannt waren. Dem Notstand geschuldet. Denn Reisen ist ein Menschenrecht. In Artikel 13 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« heißt es wörtlich: »Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen und in das eigene Land zurückzukehren.« Seit wir Menschen aufhörten, zu vagabundieren, und sesshaft wurden, scheinen wir zu reisen. Bewegen wir uns von zu Hause weg und kehren heim. Um Verwandte zu besuchen, Handel zu treiben, Wallfahrten zu unternehmen, uns im 5-Sterne-All-inclusive-Tempel in der Sonne zu suhlen oder aber im südamerikanischen Urwald tatsächlich verfallene Tempelanlagen per pedes und schweißnass zu erkunden.
Von der Antike bis in die Neuzeit war das Reisen eher der reichen Schicht vorbehalten und diente zunehmend der Bildung und Erholung. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Tourismus langsam zum Massenphänomen. Reisen für alle. Individuell oder pauschal. Wer es sich leisten konnte, fuhr aber schon vor den Weltkriegen all-inclusive mit Thomas Cook, dem größten Reisekonzern der Welt, nach London, Paris oder Kairo. Dieser Thomas Cook gilt als Erfinder der Pauschalreisen. Cook wurde 1808 in England in die erste Phase der industriellen Revolution hineingeboren. Damals drängten Menschen zunehmend in die Städte und Fabriken, wo sie bis zu 16 Stunden am Tag arbeiteten, ohne Urlaubstage versteht sich. Die Arbeiter:innen lebten in kleinen, feuchten und kalten Wohnungen. Ihre sozialen Bedürfnisse stillten sie in Wirtshäusern. Der Elendsalkoholismus nahm zu. Cook kam selbst aus ärmlichen Verhältnissen. Er musste bereits mit 10 Jahren die Schule abbrechen, um zum Familienunterhalt beizutragen. Als 14-Jähriger lernte er bei seinem alkoholabhängigen Onkel das Schreinerhandwerk. Später, als Laienprediger der Baptisten, setzte Cook sich dann vehement gegen die Trunksucht ein. So kam es, dass er am 5. Juli 1841 einen Zug charterte. Mit neun Waggons. Das neuartige Transportmittel sollte abstinente Trunkenbolde 16 Kilometer von Leicester nach Loughbourogh zu einem Abstinenzlertreffen bringen. 570 Passagiere und eine Blaskapelle stiegen ein. Es gab alkoholfreie Getränke und Butterbrote. Ein voller Erfolg. Die Pauschalreise war geboren. 1845, kaum vier Jahre später, gründete Cook das erste Reiseunternehmen der Welt, das bis heute organisierte Reisen in alle erdenklichen Winkel der Erde verkauft.
Erfunden hat Cook die Pauschalreise aber nicht wirklich. Eher kopiert. Denn schon in den 1830er Jahren verkaufte die Eisenbahngesellschaft in England, dem Mutterland der Eisenbahn, günstige Tickets für organisierte Ausflugsfahrten – bevorzugt für Ausflüge zu Hinrichtungen. In Deutschland rollte ab 1839 die erste Ferneisenbahn zwischen Leipzig und Dresden hin und her. So wurde Reisen zunehmend für alle möglich. Der Begriff »Tourismus« wurde in Deutschland dann durch »Fremdenverkehr« ersetzt. »Fremdenverkehr« geht zurück auf das 1866 erschienene Buch »Recht der Frauen auf Erwerb« von Louise Otto-Peters (1866), sozialkritische Schriftstellerin und Mitbegründerin der deutschen Frauenbewegung. Sie schrieb: »In Städten mit starkem Fremdenverkehr, wie z. B. Dresden, ist es auch bereits ganz üblich geworden, daß alleinstehende Damen allein außer Haus speisen« (S. 58).
Da, wo fremde Menschen aus anderen Kulturen die Bräuche unserer Heimat aufweichen, ja vielleicht sogar mit ihnen brechen, da ist Aufbruch, ist Veränderung möglich. So können wir erleben, dass es immer auch anders geht. Anders, als ich es kann, anders, als ich es kenne, anders, als ich es gewohnt bin. Auf Reisen ist mir erstmal alles fremd, ist alles...