Kriminalgeschichten aus vier Jahrhunderten
E-Book, Deutsch, 314 Seiten
ISBN: 978-3-7562-5213-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Seiler, geboren in Dresden, zehnjähriges Exil in Bayern, heute in Leipzig stationiert. Begeisterter Leser und Geschichtenerfinder seit Buch Nummer eins, deshalb später Studium der Sprachwissenschaften, Geschichte, Keltische Studien und Buchwissenschaft. Danach und währendessen verschiedene Abenteuer im Film- und Musikgeschäft, mittlerweile im Verlagswesen sowie als Blogger und Autor tätig und immer noch schwer textverliebt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Michael Seiler Fedder und Schwerdt Wann hat mich die Liebe zum Krimi gepackt? Ich weiß es nicht mehr genau. Als Kind bekam ich irgendwann eine Anthologie mit klassischen Detektivgeschichten geschenkt, die mich unter anderem mit Sherlock Holmes und Miss Marple bekannt machte, später die Kinderkrimis von Enid Blyton, Erich Kästners »Emil und die Detektive« sowie eine Gesamtausgabe der Holmes-Kurzgeschichten. Seit ich diese Bücher verschlungen habe verfolgen mich Kriminalgeschichten, bis hin zu meinen ersten eigenen Schreibversuchen. Die folgende Geschichte ist eine Liebeserklärung an das Genre, das seinen Schöpfern auch schnell zum Verhängnis werden kann. Den Mord hatte er sorgfältig geplant und vorbereitet. Die benötigten Werkzeuge lagen vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch. Gleich würde er zur Tat schreiten, denn die Sache war schon lange überfällig. Seit einer gefühlten Ewigkeit ließ ihm dieser Kerl keine Ruhe, also musste er eines spektakulären Todes sterben. Frederick Schwerdt ermittelte als amtierender Hauptkommissar seit gut zehn Jahren zuverlässig in einem Fall nach dem anderen und lehrte selbst die raffiniertesten Verbrecher das Fürchten. Eine lebende Legende bei allen, die ihn kennenlernen durften und ein Genie in Sachen Verstand und Kombinationsgabe. Aber heute würde er gehen, für immer. Der Grund dafür war weniger der unverhohlene Neid seiner Kollegen oder der Racheakt eines von ihm gestellten Verdächtigen, sondern die Tatsache, dass der wichtigste Mensch in seinem Leben ihn endlich loswerden wollte. Für manchen wäre es eine unbequeme Wahrheit, aber Schwerdts Titel und Erlebnisse existierten nur auf dem Papier. Er war eine Romanfigur. Erfunden vom Schriftsteller Jonathan Marius Fedder, der sich seinem Verlag zuliebe ein Pseudonym für seine Bücher ausgedacht hatte: Jon Marc Feather oder J. M. Feather. Jon ohne h, damit der Name »kantiger« wirkt, unbequemer, auffälliger. Autoren mit so banalen deutschen Namen wie seinem würde kein Mensch lesen, der auf atemlose Spannung aus ist, hatte sein Lektor angedeutet, aber Fedder wusste, dass die Bücher vor allem neben den großen englischsprachigen Namen des Genres bestehen sollten. Welcher Verleger wollte seine Ware im Buchladen nicht gerne neben Don Winslow, Stephen King oder Robert Harris platziert sehen? Eben. Wenn dann plötzlich ein Herr Müller, Schuster oder Fedder in derselben Regalreihe auftauchte, würden sich die Leser angeblich abwenden und gleich darauf fragen, ob sie versehentlich beim verpönten Heimatkrimi gelandet wären. Fischkopp un’ Doppelkorn, hatte er gespottet, worauf beide höflich lachten. Gelegentlich landete zwar auch mal ein Skandinavier wie Stieg Larsson oder Adler Olsen in den Bestsellerlisten, aber nordeuropäische Pseudonyme waren aus irgendwelchen Gründen ein No-Go. Muss man akzeptieren. Also weg mit Schwerdt, endgültig. Ein letztes großes Abenteuer und ein Abschluss, der sich gewaschen hat. Fedders Vertrag sah nur noch ein Buch vor, aber er wusste, dass die Verlagsleitung sich gleich danach wieder händereibend mit einer Verlängerung an ihn wenden würde. Natürlich musste man sich über die Konditionen einig werden, aber ein neuer Schwerdt würde es garantiert nicht. Nach Jahren der Knechtschaft würde der Autor seine Schöpfung endlich in den Orkus schicken. Und künftig nur noch das schreiben, was er wollte. Unter seinem richtigen Namen. Er griff sich das Mordinstrument. Der Bleistift war dünn und spitz, so wie er es liebte. Erste Entwürfe schrieb Fedder grundsätzlich mit der Hand, er musste die Verbindung zur Geschichte spüren und am Ende des Tages fühlen, dass seine Hände gearbeitet hatten. Eine Angewohnheit, die Kollegen und Kritikern meist ein gönnerhaftes Schmunzeln entlockte. Aha, altmodische Methoden. Wie sympathisch. Das Papier lag in der Mitte des Schreibtischs, weiß und unschuldig. Nicht mehr lange. Das Obligatorische war schnell skizziert: Ein brutaler Mord ohne großartige Anhaltspunkte, aber mit Finesse ausgeführt. Der Täter war natürlich ein geistesgestörter Psychopath, der gerne mit der Polizei Katz und Maus spielte und sich trotz seiner zahlreichen Verstecke am liebsten einem Publikum offenbarte, Bewunderung suchte. Mordwaffe und Motiv: unklar. Schwerdts private Probleme gefährdeten die Ermittlungen, sein Chef drohte mit Kündigung – dieses Mal endgültig, ganz sicher – und die hübsche Kollegin aus seinem Team hatte sich eben mit dem Staatsanwalt eingelassen. Das war immer so. Aber warum eigentlich? Frustriert warf Fedder seinen Stift auf den Block und grübelte über den Klischees des Kriminalromans. Was, wenn der Täter aber mal kein aufmerksamkeitsgeiler Irrer war, sondern einfach nur gerne Menschen umbrachte? Wie der Feuerwehrmann, der aufgrund seiner Faszination für Brennbares gerne Feuer legte? Zu langweilig, liest keiner, hörte er seinen Lektor sagen. Schon tausendmal gemacht. King kann das vielleicht, aber Horror wollen wir nicht. In ihren Gesprächen hatte sich Fedder immer höflich und kooperativ gezeigt, nur um zu Hause wütend in sein Sofakissen zu boxen und die abgelehnten Entwürfe in winzige Fetzen zu zerreißen. Papiergewordene Lebenszeit wanderte einfach in den Müll. Doch jetzt zupfte ein grimmiges Lächeln an seinen Mundwinkeln. Ein Plan reifte in ihm heran, der die Sache zu einem endgültigen Abschluss bringen würde. Er nahm den Stift wieder in die Hand und schrieb drauflos: Ich stehe am Schauplatz des absurdesten Verbrechens, das ich je gesehen habe. Und ich habe viel gesehen. So viel, dass mir die widerwärtige Szene vertraut erscheint: Die Blutlache, die bleiche Haut des Toten, das Klicken des Fotoapparats, mit dem Kunze den Tatort dokumentiert. Alles wie in einer Filmszene, wie sie in jedem schlechten Drehbuch steht. Nur, dass nichts auf den Hergang der Tat hindeutet. Das Opfer ist tot, definitiv, dafür sorgen schon die beiden Löcher in seiner Brust. Deren Ränder sind glatt, nicht ausgefranst oder versengt, wie es die meisten Stich- und Schusswaffen tun. Sie weisen keinerlei Unregelmäßigkeiten auf, vielmehr wurden sie mit einheitlichem Radius von den Rippen bis zum Rückgrat durchstochen oder durchbohrt. Und dann ist da noch das Wasser. Das Blut des Opfers hat durch die Vermischung mit einer großen Menge reinem Leitungswasser eine seltsame hellrote Farbe angenommen und sich überall im Raum verteilt. Nur so wurden wir auf den Tatort aufmerksam, denn die Mieter im übernächsten Stockwerk darunter hatten feuchte Wände mit roten Verfärbungen bekommen und schließlich den Hausmeister informiert, der schließlich die »grausige Entdeckung« gemacht hatte. So würden es später die Zeitungen schreiben, für sie war es immer eine »grausige Entdeckung«. Ein einziger Begriff für Unmengen von Todesfällen, die bei weitem nicht immer nur »grausig« waren. Mancher schlief eben friedlich ein, erstickte im Schlaf oder wurde mit Medikamenten getötet, während andere brutal erstochen, aufgeschlitzt oder in den Kopf geschossen wurden. Das ist grausig, denn diese Bilder lassen mich auch nach dem Feierabend nicht los, damit muss ich leben. Doch dieser Fall ist ein Rätsel. Wäre Mörder ein Beruf, dann müsste man von einem Vollprofi sprechen. Ertrunken ist unser Opfer in jedem Fall nicht. In der leerstehenden Wohnung ist das Wasser abgestellt, die Lungen und die Luftröhre sind Kunzes erster Analyse nach nicht nennenswert mit Wasser gefüllt. Und dann sind da noch diese Löcher. Kreisrunde Öffnungen im Brustkorb, die mit einer Regelmäßigkeit hineingefräst wurden, dass mir die bittere Galle im Hals hochsteigt. Augenscheinlich war das Opfer bei Bewusstsein, hatte aber aus irgendeinem Grund nicht geschrien. In irgendeinem Horrorfilm hatte mal jemand Leute mit einer Bohrmaschine umgebracht, im Mittelalter tötete man ungewollte oder angeblich vom Teufel besessene Babys zuweilen mit einem Nadelstich ins Gehirn. Ähnliche Fälle und doch nicht das selbe. Ein Fetisch, bei dem der Täter das Opfer wäscht? Die Brust ist sauber, aber die Schuhe sind dreckig. Wer Spaß an der Totenwäsche und ähnlichen Ritualen hat würde doch zumindest die Schuhe putzen, das lernt jeder Bestatter, der einen Verstorbenen für die Aufbahrung vorbereitet. Ich sehe mich nochmals im Raum um. Eine unspektakuläre Gründerzeitwohnung, ohne Möbel und mit schäbiger Tapete an den Wänden, dazu Blut und Wasser auf dem Boden. Sonst keinerlei Verwüstungen im Raum, selbst die Tür hat der Täter hinterher wieder anständig geschlossen und zuvor nicht aufgebrochen. Den Nachbarn ist außer den feuchten Wänden nichts weiter aufgefallen. Kein Wunder, denn in diesem Haus sind ohnehin nur drei von acht Wohnungen vermietet, der Rest steht leer. Perfekt, um sich so richtig auszutoben und doch nicht zu abgelegen, um ein typischer Tatort zu sein. »Bin dann soweit«, sagt Kunze und packt den Fotoapparat ein. Ich...