E-Book, Deutsch, Band 6446, 253 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Unsere Antwort auf die Klimakrise
E-Book, Deutsch, Band 6446, 253 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-77538-3
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist tatsächlich so, wie Greta Thunberg es hinausschreit: unser Haus Erde steht in Flammen. Aber noch ist es nicht zu spät, noch können wir etwas gegen die Klimakatastrophe tun. Dafür müssen wir nicht einmal neue Technologien erfinden. Alles, was wir brauchen, haben wir schon längst: Wind- und Solaranlagen, Stromspeicher, Elektrolyseure für Wasserstoff, Übertragungsleitungen, Elektroautos, Wärmepumpen, digitale Vernetzung – überall auf der Welt liegen die Puzzleteile für den Kampf gegen die Klimakatastrophe bereit. Dieses Buch zeigt, wie man sie zusammensetzt zu einer überzeugenden politischen Agenda für den Klimaschutz.
Die Bundesregierungen seit den 1990er-Jahren haben sich lange verhalten wie unmotivierte Schüler. Sie haben Vokabeln gepaukt, aber sie haben nicht gelernt, daraus Sätze und Texte – eine glaubwürdige Klimaschutzpolitik – zu bilden. Christoph Podewils benennt die Versäumnisse, formuliert konkrete Erwartungen an die nächste Regierung, betont aber auch die Gunst der Stunde. Durch den Lockdown haben wir Dinge entdeckt, die wir gut finden und weiterpflegen: Videokonferenzen statt Dienstreisen, Homeoffice statt Stau im Berufsverkehr, mehr Zeit für die Familie und weniger Konsum. Ähnliche Nebeneffekte wird es auch beim Kampf gegen die Klimakatastrophe geben – weniger Lärm in den Städten, weil Elektroautos leiser sind, oder auch eine Revitalisierung der ländlichen Gegenden, weil dort die Energie der Zukunft geerntet wird.
- Eine politische Agenda für den Klimaschutz
- Die technologischen Voraussetzungen für die Klimawende gibt es längst - ihre Anwendung ist eine Frage des politischen Willens
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Energiewende Made in Germany
Vorwort von Eckart von Hirschhausen Wo würden Sie lieber einatmen: hundert Meter neben einer Solaranlage oder hundert Meter neben einem Kohlekraftwerk? Und wo würden Sie lieber stehen, wenn die Technik versagt: hundert Meter neben einem Windrad oder hundert Meter neben einem Atomkraftwerk? Zwei provokative Fragen zu einem Thema, das unsere Gemüter erhitzt, aber eben im Fall vom Kohlekraftwerk auch die Atmosphäre. Allein aus der Perspektive der Medizin wundere ich mich, warum die Energiewende immer noch vorrangig als ein technisches Problem diskutiert wird, statt, wie mir das angemessener erscheint, auch darüber zu reden, wie viel gesünder hundert Prozent erneuerbare Stromerzeugung für uns alle wäre. Stromerzeugung hat sehr viele politische und gesellschaftliche Dimensionen, und weil sie so zentral für die Treibhausgasbilanz ist und damit für die Frage, wie stark uns all die negativen Folgen in diesem Jahrhundert treffen, möchte ich ein paar Dinge zu dem Thema teilen, die mich überrascht haben. Braunkohleverstromung ist extrem ungesund. Für die Menschen, die im Kohleabbau arbeiten, und für alle, die später die Drecksluft einatmen müssen. Ein weniger bekanntes Risiko sind weitere Gifte, die aus den Schornsteinen kommen. Quecksilber kennen die meisten noch als die Silbersäule in den alten Thermometern. Weil es so giftig ist für unser Nervensystem, wurde es im medizinischen Kontext verboten: Thermometer enthalten heute kein Quecksilber mehr. Auch Impfstoffe sind seit 2002 frei von Quecksilberverbindungen. Braunkohle leider nicht. Weil Quecksilber in dem Gesteinsgemisch drinsteckt, wird es automatisch auch mitverbrannt und freigesetzt. Damit sind Deutschlands Kohlekraftwerke nicht nur Klimasünder, sondern auch Giftschleudern. Sie stoßen jährlich rund sieben Tonnen Quecksilber aus. Ausnahmsweise sind da die US-Grenzwerte strenger. Wenn man die für Quecksilber anwenden würde, müssten alle deutschen Braunkohlekraftwerke sofort vom Netz. Nirgendwo in Europa wird von dem insbesondere für das Nervensystem giftigen Schwermetall mehr emittiert als in Deutschland. Und wie ungesund ist es für die Arbeiter? Immer wieder wird über Arbeitsplätze in der Braunkohleindustrie gesprochen, die man aus historischer Verantwortung doch zu schützen habe. Für viele Menschen ist der Beruf ein großer Teil ihrer Identität, manchmal sogar über Generationen hinweg. Im Ruhrgebiet oder in der Lausitz war man stolz auf die «Malocher». Gerade weil alle wussten, wie sehr die harte Arbeit auf die Knochen ging, wurden die Arbeiter wie Helden verehrt. Es ist wichtig, diese Menschen für ihre Rolle beim Wiederaufbau und beim Wirtschaftswunder anzuerkennen. Auf der anderen Seite ist es auch wichtig, diesen Mythos zu hinterfragen, wenn heute viel klarer als damals ist, dass es erstens günstigere und gesündere alternative Energiequellen gibt. Und der Preis heute auf der persönlichen wie auf der gesellschaftlichen Ebene zu hoch ist. So neu ist das Thema nicht. Am 28. April 1961 versprach Willy Brandt in seinem Wahlprogramm: «Erschreckende Untersuchungsergebnisse zeigen, dass im Zusammenhang mit der Verschmutzung von Luft und Wasser eine Zunahme von Leukämie, Krebs, Rachitis und Blutbildveränderungen sogar schon bei Kindern festzustellen ist. Es ist bestürzend, dass diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen geht, bisher fast völlig vernachlässigt wurde. Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!» Damit rückte Brandt ein vernachlässigtes Problem ins Blickfeld, die Schattenseiten des deutschen Wirtschaftswunders, und er forderte «Soziale Gerechtigkeit durch mehr Umweltschutz». Jochen Flasbarth, heute Staatssekretär im Umweltbundesamt, erinnert sich an seine Kindheit in Duisburg. «Wir konnten die Wäsche zum Lüften nicht raushängen, weil wir sie sonst dreckiger wieder reingezogen hätten. Das war vor allem der rote Staub der Kupferhütte.» Atemwegserkrankungen und Asthma bei den Kindern war damals entsprechend häufig. Der «blaue Himmel» ist wahr geworden, der Umweltschutz hat im Ruhrgebiet eine unglaubliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Als ich mit Bernd Ulrich, dem Politik-Chefredakteur der Zeit darüber sprach, warum sich die Politik mit dem Klimaschutz so schwer tut, erzählte er mir von seinem Patenonkel, der noch im Kohlebergbau als Steiger gearbeitet hat. «Ich kenne den Gestank von Schwefel und Kohlen, ich habe noch die Männer gesehen, wie sie ihre Lunge ins Taschentuch gehustet haben. Was mich als Kind schon gewundert hat: Diese Männer haben alle auch geraucht. Ich glaube, sie waren gezwungen, ihren Körper für den Bergbau hinzugeben. Das Rauchen war dann ein Akt der Autonomie. Bergbau war eine extrem anstrengende, eine sehr traurige Arbeit. Diese Männer haben sich aufgeopfert für den Fortschritt, und irgendwann wurden sie aufs alte Eisen geschoben. Ich verstehe, dass das einen frustriert.» Von den Arbeitern erreichten viele nicht das Rentenalter. Die dritte Begegnung, die mich an der Glorifizierung der Kohlearbeitsplätze zweifeln ließ, war ein Gespräch mit Horst Lichter im Rahmen meiner WDR-Sendung Sprechstunde. Horst hatte als junger Mann bereits zwei Schlaganfälle, was sehr ungewöhnlich ist. Auf der Suche nach möglichen Gründen erzählte er, dass auch er im Bergwerk gearbeitet und dabei ständig diese Stäube eingeatmet habe, die, wie man heute weiß, über die Lunge auch im Kreislaufsystem und im Gehirn heftige Schäden hinterlassen können. Wieso denken wir beim Kohleausstieg so wenig an die Opfer? Wir nehmen es hin, dass tausende und abertausende Bergleute gestorben sind, viel zu früh, an Lungenkrebs und anderen Krankheiten. Wir nehmen es für die Autoindustrie hin, dass tausende Menschen jedes Jahr durch Verkehrsunfälle sterben. Und wir nehmen es hin, dass durch die Luftverschmutzung weitere zigtausend Menschen sterben. Wofür? Bernd Ulrich hinterfragt: «Die Opferbereitschaft der Gesellschaft ist ansonsten geringer geworden. Wir würden ja, von absoluten Extremfällen abgesehen, nicht mehr tausende Soldaten in irgendwelche Kriege schicken und da umkommen lassen. Aber auf dem Schlachtfeld der Industrie und Konsumgesellschaft akzeptieren wir es immer noch.» Man kann die Geschichte unserer Zivilisation nur verstehen, wenn man auch mitdenkt, welche Energiequellen den Menschen in welcher Zeit zur Verfügung standen. Die Klimakrise ist der Preis für die 200 Jahre Industrialisierung. Und wir haben, um diesen Teufelskreis umzudrehen, nicht weitere 200 Jahre Zeit, sondern müssen spätestens in 30 Jahren, also zur Mitte dieses Jahrhunderts, die komplette Trendwende geschafft haben: Energie ohne Treibhausgase erzeugen und langfristig die Kohle, die wir als Kohlendioxid in die Luft gepustet haben, wieder aus der Atmosphäre zurück auf die Erde holen und am besten wieder unter der Erde lagern – das ist die Mammutaufgabe, vor der wir gerade stehen. Transformation heißt auch, dass es manche Berufe nicht mehr braucht. So war das immer. Als das Rad erfunden wurde, mussten Sänftenträger besänftigt werden. Als das Auto erfunden wurde, die Kutscher. Deshalb wird es in diesem Prozess auch Menschen geben, die umdenken müssen, sich eventuell auch als «Verlierer» fühlen könnten. Aber gibt es nicht auch eine andere Sicht darauf? Als die Digitalisierung der Filmindustrie begann, konnten Menschen erstmalig Filme als VHS-Kassetten oder später DVD nach Hause nehmen und selbst etwas tun, wofür es bis dahin das Kino gab: einen Film einlegen. Damals eine Sensation. Die erste Welle des Kinosterbens begann, dafür entstanden Videotheken an jeder Straßenecke. Gibt es die noch? Nein – denn im nächsten Schritt wurde Streaming möglich, es brauchte keine DVD- oder VHS-Technik mehr. Haben die etwa 100.000 Videotheken-Besitzer ihren Arbeitsplatz bis 2038 gesichert und subventioniert bekommen? Nein. Die machen heute alle etwas anderes. Sie waren auch in keiner Gewerkschaft. Das nur als Vergleich zu dem Brimborium, das wir um 20.000 Arbeitsplätze in der Kohleindustrie machen, von denen die Hälfte der Mitarbeiter in den nächsten Jahren altersgemäß eh in Rente gehen. Die Energiewirtschaft produziert 312 Millionen Tonnen CO2, diese Menge entspricht 39 Prozent des gesamten deutschen CO2-Ausstoßes. Dabei sind die Kohlekraftwerke der größte Posten, vor Industrie und Verkehr, und vor allem der Posten, bei dem man am schnellsten umrüsten kann. Würde man alle Braunkohlekraftwerke abschalten, würde das mit einem Mal 150 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Und andere Schadstoffe wie Feinstaub, Blei oder Arsen auch. Es ist sehr...