Plum Vom Mondlicht berührt
2. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7320-0092-0
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 416 Seiten
Reihe: Revenant-Trilogie
ISBN: 978-3-7320-0092-0
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geboren wurde Amy Plum in Birmingham, Alabama. Schon bald lockten sie große Städte wie Paris oder London hinaus in die Welt. Eine Zeit lang arbeitete sie als Kunsthistorikerin in New York, bevor sie schließlich mit ihrem Ehemann ein großes Bauernhaus in der französischen Provinz bezog. Wann immer es die turbulenten Tage mit ihren beiden Kindern und ihrem Hund Ella erlauben, sitzt Amy Plum in dem kleinen alten Steinhäuschen in ihrem Garten und schreibt an ihren Romanen.
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»Ich geh nach oben«, rief ich.
»Komme gleich nach«, antwortete Vincent und schielte blitzschnell zu mir Richtung Treppe. Gaspard nutzte die Gelegenheit und schlug ihm das Schwert aus den Händen, das scheppernd über den Boden flog. Vincent hob ergeben die Arme.
»Lass niemals …«
»… deinen Gegner aus den Augen«, beendete Vincent den Satz für Gaspard. »Ich weiß, ich weiß. Aber du musst doch zugeben, dass Kate eine nicht zu verachtende Ablenkung ist.«
Gaspard grinste schief.
»Für mich zumindest«, fügte Vincent hinzu.
»Solange sie dich nicht davon ablenkt, ihr Leben zu retten«, sagte Gaspard. Er schob seinen großen Zeh unter den Griff des am Boden liegenden Schwerts und beförderte es mit einer schnellen Bewegung durch die Luft zu Vincent.
»Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, Gaspard«, erwiderte Vincent amüsiert und pflückte elegant das fliegende Schwert mit der rechten Hand aus der Luft. »Dank deines Unterrichts ist Kate bald imstande, auch meins zu retten.« Er grinste mich an und hob vielsagend eine Augenbraue. Ich lachte.
»Da stimme ich dir zu«, räumte Gaspard ein, »aber nur, wenn sie deinen Trainingsvorsprung von einem halben Jahrhundert aufholen kann.«
»Das habe ich fest vor«, rief ich noch vom oberen Treppenabsatz und schloss dann die Tür hinter mir, froh darüber, damit auch das ohrenbetäubende Klirren auszusperren, das erklang, als die beiden ihren Kampf wieder aufnahmen.
Ich trat durch eine Schwingtür in eine große, geräumige Küche, wo mir der Geruch von frischem Backwerk entgegenschlug. Jeanne stand über eine der schiefergrauen Granitarbeitsflächen gebeugt. Eigentlich als Köchin und Haushälterin angestellt, erfüllte sie doch mehr die Rolle der Mutter des Hauses. Sie war in die Fußstapfen ihrer Mutter und Großmutter getreten, die ebenfalls über Jahrzehnte hinweg für die Revenants in diesem Haus gesorgt hatten. Während sie gerade die letzte Verzierung auf eine Schokotorte setzte, bebten ihre Schultern leicht. Ich legte ihr eine Hand auf den Arm, woraufhin sie sich mir zuwandte. In ihren Augen schimmerten Tränen, die sie erfolglos wegzublinzeln versuchte.
»Stimmt irgendwas nicht, Jeanne?«, flüsterte ich, obwohl ich ganz genau wusste, was los war.
»Charlotte und Charles sind wie meine eigenen Kinder.« Ihre Stimme brach.
»Ich weiß«, murmelte ich, legte ihr einen Arm um die üppige Taille und meinen Kopf an ihre Schulter. »Aber sie ziehen ja nicht für immer weg. Jean-Baptiste hat doch gesagt, dass sie zurückkommen können, sobald Charles wieder einen klaren Kopf hat. Wie lang kann das schon dauern?«
Nun richtete Jeanne sich auf und wir sahen uns schweigend an. Offensichtlich dachten wir dasselbe. Sehr lange, wenn es überhaupt je geschieht. Der Junge hatte ernsthafte Probleme.
Meine Gefühle Charles gegenüber waren gemischt. Er hatte sich mir gegenüber eher immer feindlich verhalten, aber seit Charlotte mir den Grund dafür erklärt hatte, tat er mir aufrichtig leid.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, verteidigte Jeanne ihn. »Es war ja nicht seine Schuld. Er wollte niemanden gefährden.«
»Ich weiß.«
»Er ist einfach sensibler als die anderen«, sagte sie, bevor sie sich wieder der Torte widmete, um eine Zuckerblume darauf zu platzieren. »Das liegt an ihrer Bestimmung. Dass sie wieder und wieder für uns Menschen sterben und uns dann doch unserem Schicksal überlassen müssen, fordert eben seinen Tribut. Und Charles ist schließlich erst fünfzehn!«
Ich lächelte traurig. »Jeanne, er ist achtzig.«
»Peu importe«, sagte sie und machte mit der Hand eine Bewegung, als würde sie sich einen Ball über die Schulter werfen. »Ich glaube, die Revenants, die jung sterben, haben es schwerer. Meine Großmutter hat mir mal erzählt, dass ein Angehöriger der spanischen Anverwandten das Gleiche getan hat. Er war auch nicht älter als fünfzehn geworden. Er bat die Numa, ihn auszulöschen, genau wie Charles es getan hat. Mit dem Unterschied allerdings, dass es dem armen Kerl damals geglückt ist.«
Jeanne bemerkte, wie ich erschauderte, als sie den Namen aussprach. Numa, die Erzfeinde aller Revenants. Und obwohl sich niemand außer uns in der Küche befand, senkte sie die Stimme: »Wobei das immer noch besser ist als das andere Extrem. Manche – aber nur wenige – stumpfen trotz ihrer wichtigen Aufgabe im Leben der Menschen so sehr ab, dass sie nur noch retten, um zu überleben. Ihnen sind die Menschen, die sie retten, egal, sie dienen ihnen nur dazu, ihren Drang zum Sterben zu befriedigen. Da ist es mir doch lieber, Charles ist extrem sensibel, anstatt so wahnsinnig kaltherzig zu sein.«
»Deshalb wird es ihm auch guttun, erst mal von hier fortzukommen«, versicherte ich ihr, »und ein bisschen Abstand zwischen sich, Paris und die Menschen zu bringen, die er gerettet hat.« Oder nicht retten konnte, fügte ich gedanklich hinzu, weil mir plötzlich das tödliche Bootsunglück wieder vor Augen stand, das Charles so richtig runtergerissen hatte. Nachdem er das Mädchen, das ins Wasser gefallen war, nicht hatte retten können, war er sehr sonderbar geworden. Schlussendlich wollte er sein Revenantdasein beenden und ermöglichte so unbeabsichtigt einen Angriff auf seine Anverwandten. »Jean-Baptiste hat ihnen ausdrücklich erlaubt, zu Besuch zu kommen. Ich bin mir sicher, dass wir sie ganz bald wiedersehen werden.«
Jeanne nickte, doch sie schien meine Worte nur zögerlich zu akzeptieren.
»Die Torte sieht toll aus«, sagte ich, um das Thema zu wechseln. Ich kratzte mit dem Finger ein bisschen Glasur vom Servierteller und steckte ihn in meinen Mund. »Hmm … und lecker ist die!«
Jeanne verscheuchte mich mit ihrem Spachtel, ganz dankbar, dass sie nun ihre Rolle als Glucke wieder einnehmen konnte. »Und du machst mir alles kaputt, wenn du die Glasur abpulst«, lachte sie. »Los, geh zu Charlotte und frag, ob du ihr helfen kannst.«
»Das ist doch hier keine Beerdigung, Leute. Wir feiern Silvester und den Abschied von den Zwillingen. Let’s celebrate!« Ambroses sonore Baritonstimme hallte durch den mit perlgrauem Holz getäfelten Ballsaal und brachte die elegant gekleideten Gäste zum Kichern. Hunderte Kerzen funkelten zwischen den Kristallprismen des Kronleuchters und warfen kleine Lichtpunkte durch den ganzen Saal – besser als jede Discokugel es je gekonnt hätte.
Auf den Tischen an den Seiten des Salons häuften sich die Leckerbissen: winzige Eclairs mit Schokoladen- oder Kaffeecremefüllung, Makronen in mindestens sechs verschiedenen Pastellfarben, die einem auf der Zunge zergingen, Berge von Schokoladentrüffeln. Nach dem riesigen Festmahl, das ich gerade verdrückt hatte, war einfach kein Platz mehr in meinem Bauch. So ein Mist! Wenn ich gewusst hätte, was uns hier noch erwartete, hätte ich nicht so viel Brot gegessen und den Gang mit dem Käse ausgelassen.
Am anderen Ende des Saals machte Ambrose sich gerade an einem iPod zu schaffen, der an eine große Lautsprecheranlage angeschlossen war. Ich musste grinsen, als wenige Sekunden später Jazz der Goldenen Zwanziger aus den Boxen ertönte. Obwohl der in Mississippi geborene Ambrose sonst gerne populäre Hits hörte, hatte er immer noch eine Schwäche für die Musik seiner Jugend. Während die Tänzer sich von Louis Armstrongs rauer Stimme tragen ließen, schnappte Ambrose sich Charlotte und wirbelte mit ihr über die Tanzfläche. Ihr heller Teint und ihre kurzen blonden Haare wirkten dabei wie das gegensätzliche Spiegelbild zu seiner dunklen Haut und seinen kurzen schwarzen Haaren.
Sie waren ein beeindruckendes Paar – wenn sie nur ein Paar wären. Charlotte hatte mir kürzlich erst anvertraut, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte. Ambrose hingegen hegte diesen Wunsch nicht – aus für mich (und vielleicht auch für ihn selbst) unerfindlichen Gründen. Doch seine brüderliche Zuneigung zu ihr war so offensichtlich wie das verzückte Lächeln auf seinem Gesicht, während er sie herumschwang.
»Sieht aus, als würde das Spaß machen. Wollen wir?«, flüsterte eine Stimme unweit meines Ohrs. Ich drehte den Kopf und sah Jules hinter mir stehen. »Ist auf deiner Tanzkarte noch Platz für mich?«
»Überleg noch mal, in welchem Jahrhundert wir leben, Jules«, ermahnte ich ihn. »Es gibt keine Tanzkarten mehr.«
Jules zuckte mit den Schultern und schenkte mir sein verführerischstes Lächeln.
»Aber wenn ich eine hätte, stünde wohl mein Freund an erster Stelle«, zog ich ihn auf.
»Nicht, wenn ich mit ihm darum kämpfen würde«, witzelte er und warf Vincent einen Blick zu, der uns vom anderen Ende des Saals mit einem schiefen Lächeln beobachtete. Er zwinkerte mir zu und nahm dann seine Unterhaltung mit Geneviève wieder auf, einer auffallend schönen Revenantfrau, auf die ich eifersüchtig gewesen war, bis ich herausfand, dass sie glücklich verheiratet war.
Wenn man sie mitzählte, waren an diesem Abend ein paar Dutzend Revenants unter den Gästen, die nicht in La Maison residierten. (Niemand benutzte den offiziellen Namen Hôtel Grimod de la Reynière, wobei hôtel in diesem Fall für ein übertrieben riesiges, extravagantes Herrenhaus stand.) Jean-Baptistes Stadtschloss beherbergte außer ihn selbst Gaspard, Jules, Ambrose, Vincent und bis zum morgigen Tag noch Charles und Charlotte. Nach ihrem Umzug in Jean-Baptistes Haus in der Nähe von Nizza würden hier zwei andere Revenants ihre Plätze einnehmen.
»Na gut. Um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern, überlasse ich dir den ersten Tanz. Aber für den Fall, dass Vincent übernehmen will, solltest du dein Schwert griffbereit halten.«
Jules tätschelte ein unsichtbares Schwert...




