E-Book, Deutsch, 244 Seiten
Platzgumer Weiß
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7099-3549-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 244 Seiten
ISBN: 978-3-7099-3549-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die oberflächliche Betriebsamkeit einer deutschen Großstadt lässt in Sebastian Fehr die Sehnsucht nach einer elementaren Veränderung wachsen, die seinem Leben eine neue Richtung geben könnte. Zu finden hofft er diesen Neubeginn auf einer Reise in die Arktis. Doch im endlosen Weiß der Schneewüste, in der unendlichen Stille und Kälte des Nordens gerät Sebastian Fehr viel weiter an seine eigenen Grenzen, als er gewünscht hätte: Das gleißende Licht blendet ihn und raubt ihm seine Sinne, in der totalen Einsamkeit überkommen ihn Wahnvorstellungen, er läuft Gefahr, sich zu verlieren - der Selbstfindungstrip gerät zum elementaren Überlebenskampf. Hans Platzgumer gelingt in seinem neuen Roman ein grandioses Werk über die faszinierende, raue Schönheit der Arktis, über die unwiderstehliche Anziehungskraft ihrer abweisenden Natur und über die ungeahnten Möglichkeiten der Veränderung.
Autoren/Hrsg.
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SOL DAG
„Ja, klar. Auch ich bin ein Kind der Zivilisation. Daran kann ich nichts ändern. Man kann doch nicht für etwas verantwortlich gemacht werden, wo man ungefragt hineingesteckt wurde. Aber das heißt noch lange nicht, dass man nicht Wege heraus finden kann aus diesem Stadium. Ich fühle mich nicht mit dieser Welt verwandt. Ich musste bislang eben Teil von ihr sein. Ob ich wollte oder nicht. Aber ich fühle, dass eine Änderung kommen wird.“ Die Spaghetti Bolognese auf seinem Teller waren mittlerweile kalt geworden, so lange hatte er schon referiert. Sein Gegenüber hingegen saß nur da und aß. Schweinebraten mit Beilagen. 4 Euro 90. Unversehens war er in dieses Tischgespräch verwickelt worden. Egal. Das kannte man schon. Der Fehr, der sprach tagelang fast nichts und dann redete er sich plötzlich in einen Strudel hinein. Hörte nicht mehr auf. Pech zwar, wenn man gerade dann in seine Nähe geraten war. Aber eben auch egal. Man musste ja nicht teilnehmen daran. Der Fehr verlangte nie einen aktiven Gesprächspartner. Der redete von selbst. Und mit sich selbst. Nur Zuhören musste man. Oder zumindest so tun als ob. Mit einem Ohr hinhören. So lange, bis man fertig gegessen hatte. Bis man aufstand und wieder ging. Und vorher noch hin und wieder eine kleine Zwischenfrage. Damit machte man dem Mann eine Freude. „Aber du bist doch auch Teil der zivilisierten Menschheit. Du lebst doch auch hier, machst Schmutz und Lärm und Gestank, fährst Auto, schaust fern. Du kannst dich doch nicht ausnehmen.“ Das reichte als Anstoß. Möge es dem Kerl genug Futter geben um weiterzureden. Und ihm selbst genug Zeit, um in Ruhe aufessen zu können. „Ach, das brauche ich doch alles nicht. Fernseher, Auto, Computer. Pah! Gut, ich habe teilgenommen. Lange genug. Aber ich kann das auch wieder abschalten. Ich kann es und ich werde es. Nein, wirklich, ich fühle keine Mitschuld, wenn die Menschheit sich einem Ende im Überfluss entgegenschleudert. Das soll sie ohne mich tun. Ich glaube nicht an Kollektivschuld. Es gibt kein Kollektiv. Es gibt nichts großes Gemeinsames. Zumindest nicht mit mir. Du hast schon recht. In gewisser Weise bin auch ich ein Teil davon. Aber ich habe keinen Anteil daran. Ich merke zwar, wie ich in eine rasanten Abwärtsbewegung mitgerissen werde. Aber ich bin bloß ein Wasserstoffmolekül im diesem Strudel. Ich sehe ihn nach unten wirbeln. Wenn du so willst, dann bin somit auch ich ein Bestandteil wie die anderen Bestandteile auch. Ein mikroskopisch kleiner aber. Ich mache keinen Unterschied. Ich bin höchstens die miteinberechnete Fehlerquote. Wenn man alles dazu zählen will, auch alles, was nicht funktioniert, dann bin auch ich dabei. Dann ist alles dabei. Und alles in gewisser Weise verantwortlich. Ja, dann werde auch ich nicht nur mitgerissen, sondern reiße auch ich mit. Dann trage ich Schuld ohne Verschulden. Aber daran glaube ich nicht. Man kann das nicht so sehen. Nein, Peter. Ich gehöre nicht dazu. Jetzt schon nicht mehr. Aber irgendwann dann gar nicht mehr, selbst wenn man mich hineinnehmen will. Dann wird man mich nicht einmal finden können, um mich dazuzuzählen. Nein. Ich bin kein Teil und kein Fehler. Kein positives oder negatives Teilchen. Ich stehe neben diesem Kreislauf.“ Die Mittagspause würde bald vorüber sein. Und damit auch sein Geschwafel. Peter Daiml saß Sebastian still gegenüber. Er hatte seinen Hunger schon fast gestillt. Noch eine letzte Gabel, einen letzten Bissen. „Seit die Menschheit sich die Natur untertan gemacht hat, hat sie doch begonnen, sich aller Natur zu entledigen. Je größer ihre Gier wird, desto eiliger hat sie es. Je ausgefeilter ihre Hilfsmittel werden und je irrwitziger ihre Errungenschaften, desto schneller jagt sie voran. Und desto planloser. Ein gigantischer, wildgewordener Chaot ist sie, der sich selbst vorantreibt, ohne zu wissen wohin. Und auch ohne zu wissen warum. Es wird ja nichts mehr verbessert, der Fortschritt ist doch schon lange keine Weiterentwicklung mehr. Das ist kein Fortschritt und kein Rückschritt. Das sind nur Ausfallsschritte. Ein Wanken, ein Schleudern, ein Fallen. Ich will jedenfalls nicht mehr einfach so weitergetrieben werden in diesen freien Fall. Ich sehne mich nach einem Stillstand. Einem Ende der Zivilisation, wenn du so willst. Auch wenn das jetzt ziemlich düster klingt. So meine ich es gar nicht.“ Peter Daiml schob seinen Teller beiseite. „Wir sind doch inzwischen so weit entfernt von unserem Ursprung, dass wir uns dorthin nur mehr zurückheucheln können. Zurückschwindeln in mikroskopisch kleinen Dosen, in kleinsten, erzwungenen Einheiten, in Wellness-Momenten, in irgendwelchen esoterischen Nischen.“ „Wer war denn bei diesem Ursprung wo aufgesprungen, wer abgesprungen? Wer wohin gesprungen?“, hätte Peter Daiml fragen wollen, aber die Mühe einer solchen Diskussion wollte er nicht auf sich nehmen. Nicht jetzt, wo sich das letzte Stück Schweinebraten in seinem Magen zu zersetzen begann. Eine träge Ruhe überkam ihn. Doch Sebastian sponn weiter an seinen Gedanken. Höchstens eine Scheinwelt könne noch aufgebaut werden. Eine Lüge, die aus Partikeln biologisch abbaubarer, genmanipulationsfreier Zonen bestehe. Aus Restbeständen vergessenen Wissens. Eine Parallelwelt aus Staub vergangener Zeiten, der leise aufgewirbelt werde im ständigen Umbruch; Schmutz, der sich nicht ganz wegwaschen lasse. Mit diesem Dreck würde er nun jedoch alleine reisen müssen. Peter Daiml war aufgestanden und in Richtung Kaffeemaschine und Süßspeisentheke verschwunden. „Ja, vielleicht könnte ich tatsächlich alleine verreisen?“, überlegte Sebastian. „Allein, ich und der Schmutz …“ Schmutzflecken, Fehler, Verstecke, Ecken, Nischen, die in der künstlichen Hetze von der Zivilisation übersehen wurden, Versäumnisse des Menschen bei der Unterwerfung seiner eigenen Natur. Sie wurden für Sebastian zur stillen Hoffnung. Er hatte sich zwar auf keine Reise einlassen wollen. Doch nun erkannte er, dass er keine Wahl hatte. Er musste eine Reise machen. Eine Reise weg von den Menschen. Er wollte darauf vertrauen, dass der Mensch nicht allem und allen sein Imperium aufzwingen kann. Bei allen Operationen unterliefen den Menschen Fehler, und immer verabsäumten sie, aus Fehlern zu lernen. Der Fortschritt immer mit einem Rückschritt verbunden. Ständig übersahen sie Details. Vielleicht konnte auch er übersehen werden? Er und der Schmutz. Ein Detail, das man vergaß. Eine Kleinigkeit, so nichtig, dass niemand bemerkte, wenn sie fehlte. Er wollte nicht gänzlich desinfiziert werden, nicht ganz gesäubert. Selbst wenn er Teil der Maschine war, Teil des Auslaufmodells Mensch, der seine Koordinaten nicht mehr einzuschätzen wusste und nicht ernst nahm, dass die Zeit unaufhaltsam gegen ihn spielte. „Sie wollen die Uhr nicht ticken hören. Sie wollen nicht anerkennen, dass ihre Sonne bereits die Lebensmitte überschritten hat, dass ihre Sonne sich aufbläht, wächst und wächst und eines Tages explodieren und sterben wird. Und mit ihr alles, das wir kennen und begreifen können. Sie leben. als ob sie niemals sterben müssten, diese Menschen. Sie nehmen sich ernst trotz ihrer Lächerlichkeit.“ „Und du? Nimmst du dich etwa nicht ernst? Bist du etwa kein Mensch?“, dachte Peter Daiml. Er hatte das letzte Stückchen Käsekuchen mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült. Jetzt durfte er zurück ins Studio. „Ja, ja … so ist es wohl … So, ich muss jetzt los.“ Sebastian jedoch nahm sich weiter ernst. Jetzt, wo er endlich etwas gefunden hatte. Endlich einen Gedanken, der sich lohnte. „Wir beziehen die Welt auf uns. Wir haben Probleme, die keine sind. Wir erregen uns über Geringfügigkeiten. Auch ich bin etwas Kleines, das sich überschätzt, natürlich. Du hast schon recht. Auch ich kann wie sie nur etwas Unverständliches von meiner Position aus zu interpretieren versuchen. Aber das will ich wenigstens möglichst selten tun“, gab er Peter Daiml mit auf den Weg. Allein saß er an seinem Tisch in der Kantine. Alle Teller außer seinem waren abgeräumt. Nur wenige Essensreste klebten auf der Tischoberfläche. Überträgt man alle Evolutionsabschnitte der Erdgeschichte, diesen außergewöhnlichen, von Zufällen gepeitschten Prozess, in den Zeitraum eines Kalenderjahres, destilliert man also 12 Monate aus ungefähr 16 Milliarden Jahren, so tritt das erste menschenähnliche Wesen erst am 31. Dezember gegen 21:30 Uhr in Erscheinung. Zweieinviertel Stunden später betritt der Homo sapiens die Weltbühne. Und erst die letzten Sekunden des Jahres nützt er, um sich und seine Welt in die Zivilisation zu treiben. Irgendwann bald im neuen Jahr wird er wieder verschwunden sein. Wenige Sekunden sind vergangen in einem Jahr des Erdballs, der selbst nur ein unscheinbares Staubkorn ist, blind und unwissend durch ein großes Ganzes treibend. Sebastian Fehr betrachtete sich als eine...