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E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Platzgumer / Just / Moser-Sollmann BRANNTWEINER, BLUE BOX UND BERMUDA DREIECK
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-903460-41-6
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Unterwegs im Wien der 80er und 90er
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-903460-41-6
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wien in den 80er und 90er Jahren. Wer damals nach Wien zum Studieren oder Arbeiten kam oder ohnehin in der Stadt geboren ward, kann ein Lied erzählen … von einer grauen Stadt voller Hundstrümmerl, als man noch in Schilling bezahlte und erstmals coole Lokale aus dem Asphalt wuchsen.
Dieser humorvolle und historisch-persönliche Sammelband soll vielfältige Eindrücke des damaligen Nachtlebens vermitteln. Als die heute Über-Fünfzigjährigen jung und hungrig (durstig) waren nach Nachtleben, Gleichaltrigen und einer guten Zeit. Welche Lokale waren angesagt, wer hing dort ab, wo konnte man um 4 Uhr früh noch nachglühen, wie war denn so allgemein die Stimmung?
Lokalmatadore von damals berichten über ihre persönlichen Kultlokale wie das U4, Europa, Blue Box, Nachtasyl, Chelsea, Pandoras Box … berichten, aber auch über grindige Branntweiner und abgeranzte Gasthäuser – wo man im letzten Jahrtausend halt so die Nacht verbrachte.
Texte und Fotos von Ela Angerer, Robert Buchschwenter, Christian Fuchs, Max Freudenschuß, Katja Gasser, Walter Gröbchen, Amina Handke, Christopher Just, Rainer Krispel, Hans Platzgumer, Christian Schachinger, Götz Schrage, Christian Sollmann-Moser, Peter Zimmermann u. a.
Und einem ausführlichen Interview mit dem Szene-Zeitzeugen Herbert Molin, Erfinder und Inhaber der Kultlokale Blue Box und RHIZ.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1987. Die graue Zeitlupenstadt
Hans Platzgumer
Der Ich-Erzähler dieses Berichts bin nicht ich, sondern war ich. Ich bin nicht mehr derselbe wie damals. Und auch die Stadt ist es nicht. Dieser Text ist die Erinnerung an ein Leben und eine Welt im vorigen Jahrhundert. Manches verschwimmt dabei, anderes bleibt glasklar erhalten. Es gibt keine Hierarchie in diesen Bruchstücken, und auch gibt es wenig Verlässlichkeit. Alles liegt wild herum irgendwo in meinem Wien des Jahres 1987. Alles damals war ein Rausch, in mir und um mich herum. Alles war analog, ausschließlich, war in eine Dreidimensionalität hineingestellt, hatte einen Geruch, Gestank, Geschmack, ich konnte es angreifen, davor davonlaufen, mich davor verstecken oder es in meine Hosentasche oder meinen Mund stecken – das ist wohl der bedeutendste Unterschied zur Jetztzeit, in der die Dinge zu weiten Teilen abstrahiert, in die Ferne gerückt sind. 1987 stand hinter jedem Tag, den ich erlebte, die Vermutung, er könnte der letzte sein. Nie aber war er es. Es kam immer noch einer und noch einer. Bis heute, 37 Jahre später.
Im Frühjahr 1987 hatte ich die Matura und damit die letzte Hürde hinter mich gebracht, die mich in meiner Geburtsstadt Innsbruck hielt. 17 Jahre lang hatte ich darauf gewartet, aus der Enge meiner Heimat auszubrechen. Nun war es so weit. Am Tag nach der Reifeprüfung setzten ein etwas älterer Freund und ich uns auf mein Moped, eine KTM Quattro, packten so viel Gepäck darauf, wie Platz fand, und machten uns auf den Weg. Drei Tage würden wir für die 500 Kilometer letztendlich brauchen. Nahe Rosenheim platzte bereits der erste Reifen. Gegen Ende der Reise verirrten wir uns im Wienerwald auf eine Autobahn, aber davon ließen wir uns nicht abbringen. Mit unseren höchstens 40 km/h blieben wir stur darauf, bis wir die Stadtgrenze erreichten.
Diese »Wien ist anders«-Schilder auf der A1-Einfahrt in die Stadt gab es schon damals. Ich weiß noch, wie mir das gefiel. Das Anderssein hatte für mich oberste Priorität. Ich wollte hinaus aus dem konservativ-reaktionären Mief, in dem mich meine Heimat hatte ersticken wollen. Nun war es gelungen, die Schilder bewiesen es. Alles würde ich von nun an anders machen, als es bislang gewesen war, egal ob besser oder schlechter, Hauptsache anders. Wir mussten nur mehr ein paar, vielleicht zehn, fünfzehn Kilometer geradeaus weiterfahren Richtung Osten. Der Wien, diesem Rinnsal, entlang. Und dann tauchte der Karlsplatz vor uns auf.
Bis zum Karlsplatz schafften wir es, keinen Meter weiter. Auch die Wiener Giftlerszene hatte es dorthin und nicht weiter geschafft. Um genau zu sein, schafften wir es nur bis zum Würstelstand am Eck zur Operngasse. Dort stellten wir das Moped ab, und dort blieb es dann auch stehen, bis es von irgendjemandem entfernt wurde, denn es sprang nicht mehr an und ich gab es auf. Unsere Hintern schmerzten und wir waren froh, uns nicht länger darauf setzen zu müssen. Den Umstand, dass wir es tatsächlich bis ins innere Wien geschafft hatten, feierten wir mit Schwechater und Käsekrainer. Vielleicht war es das letzte Schwechater, das ich bis heute getrunken, und die letzte Eitrige mit Buckel, die ich gegessen habe. Es war ein Hochgenuss. Wien war erobert. Jetzt konnte alles losgehen, am besten sofort. Alles musste ja immer sofort geschehen. Geschah es nicht augenblicklich, bestand die Gefahr, dass es nie geschah. Und das wäre jammerschade gewesen, egal, um was es sich handelte. Alles barg die Möglichkeit eines neuen Abenteuers in sich, eines neuen Durchbruchs. So sah ich zumindest damals die Welt.
Mit solcher Unrast aber, das merkte ich bald, war ich in Wien am falschen Ort. Diese Stadt hatte ein anderes Tempo. Sie verweigerte sich der Zeit und folgte ihrem eigenen Rhythmus. Die Uhren in Wien tickten langsamer, so wie die Menschen hier langsamer redeten und agierten als im Westen. In dieser Mentalität lag ein großer Vorteil, das erkenne ich heute, Wien konnte durch das Einstreuen von Zeitlöchern länger als andere Städte so manche Perversitäten der Moderne von sich fernhalten. Vieles in Wien ist bis heute altmodischer als anderswo. So sympathisch ich dies inzwischen finde, als getriebener 17-jähriger Tiroler (einer, dem heute ADHS diagnostiziert und der mit Ritalin ruhiggestellt werden würde) stand mir damals nicht der Sinn nach Abbremsung. Ich wollte nicht aufgehalten werden und kannte nur eines: Vollgas. Das stoische Wien aber ließ sich von meinem Ungestüm nicht beeindrucken. Ich hatte mich seinem Tempo anzupassen, nicht umgekehrt.
Im ersten Eindruck kam mir Wien 1987 vor wie eine untergegangene Welt. Tatsächlich war die Stadt zu diesem Zeitpunkt hoffnungslos überaltert und am Aussterben. Seit Jahrzehnten sank die Einwohnerzahl. Wien war keine blühende Metropole mehr wie noch zu Beginn des Jahrhunderts. Das Weltgeschehen spielte sich jetzt woanders ab. Wien war vom Zentrum der Welt in die Peripherie gerückt, es war die letzte Station vor dem Eisernen Vorhang. Weder Westen noch Osten war Wien, sondern irgendwo dazwischen in einen Dornröschenschlaf gefallen. Der Geburtenknick und die unvorteilhafte geografische Lage hatten die Stadt schrumpfen lassen. 1987, just mit meinem Auftauchen beim Würstelstand in der Operngasse, hatte Wien sein historisches Allzeittief erreicht und zählte nicht einmal mehr anderthalb Millionen Einwohner – ein Viertel weniger als heute oder auch als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und genauso präsentierte sich mir die schöne Stadt an der Donau: graue, leere Gassen, die den Anschluss zur Welt verloren hatten. Zahllose Fenster in den Häusern waren dunkel. Wenn Licht brannte, weil hier noch Menschen lebten, waren muffige, schwarzgraue Gardinen zu sehen. Durch die Straßen fegte ein bitterkalter kontinentaler Wind. Niemand außer missmutigen Pensionistinnen und Pensionisten, die sich bei ihren Alltagserledigungen nicht rasch genug fortbewegen konnten, hielt sich unter diesen Bedingungen lange im Freien auf. Die meisten Wiener Damen führten ein Schoßhündchen an der Leine, das, sobald es den Drang danach verspürte, ein Trümmerl fallen ließ. Die Gehsteige Wiens waren von diesen Hinterlassenschaften übersät, es gab noch kein gesellschaftliches Abkommen, dass Hundebesitzerinnen die Rückstände ihrer Lieblinge zu entsorgen hatten. Ich weiß nicht, wie oft ich, der ich ständig in Eile war und durch die Straßen hetzte, in Hundekot trat und lauthals fluchte.
Passanten, die keinen Hund an der Leine führten, zogen meist einen Einkaufstrolley hinter sich her oder schoben einen Rollator. Oder sie trugen, wie auch ich häufig, einen Ölkanister mit sich herum. Fast alle Wohnungen, in denen ich unterkam, waren mit einer Ölheizung ausgestattet. Der penetrante Ölgeruch, der sich im Zimmer breitmachte, sobald ich einheizte, machte jegliche Freude über die entstehende Wärme zunichte. Meist half nichts gegen das Frieren, als möglichst viel in Bewegung zu bleiben.
Ich rannte also zumeist durch die toten Wiener Straßenzüge und suchte lebenshungrig jene Orte auf, in der sich die Underground-Szene traf. Denn trotz aller Morbidität gab es Leben in der Stadt, trotz (nein: wegen) all des Leerstands gab es Freiraum für Subkultur. In Wien hatte sich, weil es sich hier billiger und unkomplizierter als anderswo leben ließ, ein großer Haufen schräger Vögel aus allen Bundesländern eingefunden. Wenn ich schon den kosmopolitischen Geist vermisste, den ich erhofft hatte, so lernte ich dennoch schrullige Persönlichkeiten kennen, grindige Punks, verschrobene Intellektuelle, exaltierte, selbst ernannte Künstlergestalten, ambitionierte Radiomacher, Fanzine-Betreiber, Althippies, die sich in ihren Batikwelten verloren hatten, oder konspirative Autonome, die in einen Agitationsrausch strudelten. Inmitten dieses Klüngels fühlte ich mich gut aufgehoben. In der Blue Box oder im Terrassenheurigen, im alten Chelsea, im Alt Wien oder im Anzengruber, im Beisl des besetzten Hauses in der Ägidigasse oder im WUK besprachen wir uns. Die GaGa (Kultur- und Kommunikationszentrum Gassergasse, das erste autonome alternative Jugendzentrum in Wien) gab es nicht mehr, das Flex in der Arndtstraße oder das EKH in Favoriten noch nicht, aber es mangelte trotzdem weder an Orten noch Gleichgesinnten, mit denen sich Pläne schmieden ließen. Wenn uns die leidige Sperrstunde in die Quere kam, zogen wir in Spelunken am Naschmarkt weiter, damals die einzige Gegend der Stadt, wo bis ins Morgengrauen getrunken werden konnte.
Auf seine Weise hatte Wien, das damals so wenig zu bieten hatte, viel zu bieten. Ich erlebte in jenen Tagen unter anderem zwei der besten Konzerte meines Lebens. Der Auftritt von The Jesus & Mary Chain im Wiener Metropol dauerte höchstens 15 Minuten. Nach wenigen Songs stellten die schottischen Musiker ihre Instrumente auf der Bühne ab und verschwanden wortlos. Ein ohrenbetäubender Lärm aus Feedbacks, Krachen und Rauschen machte sich aus den voll aufgedrehten Gitarrenverstärkern breit. Klirrende Soundwände überschlugen sich, es war schier unerträglich, was da aus den Lautsprechern dröhnte. Das meiste Publikum aber blieb wie ich noch lange im zur Lärmhölle gewordenen Saal stehen. Ich lächelte beglückt, als ich später auf die Hernalser Hauptstraße hinaustrat. So stellte ich mir ein gutes Musikerlebnis vor: ein kurzweiliges Hören mit Schmerzen.
Auch der Auftritt der Henry Rollins Band im U4 dauerte nicht viel länger. Der amerikanische Straight-Edge-Hardcore-Poet war von oben bis unten tätowiert und durchtrainiert – heute...