Platzgumer Expedition
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7099-3560-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Reise eines Underground-Musikers in 540 KB
E-Book, Deutsch, 334 Seiten
ISBN: 978-3-7099-3560-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ich möchte die wattierte Weite des hohen Nordens hören, meine Musik in ihren stummen Schneefall kleiden. Ihre mich umschließende, unendliche Leere soll das Gegenstück bilden zu den komprimierten 540 kb, die mein Leben jetzt gerade einmal misst - diese minimale Datenmenge eines Audiofiles, das nur etwa dreieinhalb Sekunden digitaler Musik entspricht. Hans Platzgumer
Eine Expedition durch das Leben des Musikers Hans Platzgumer, der mit seinen musikalischen Projekten wie HP Zinker, hp.stonji oder Queen of Japan die internationale Independent-Musikszene belebt und mitgeprägt hat. In der Grauzone zwischen Erinnern und Vergessen besucht Platzgumer nochmals die Schauplätze seines bisherigen musikalischen Lebens, erzählt von absurden Tour- und Studio-Episoden zwischen New York, Berlin, Tokyo, München und London, von Begegnungen und privaten Reminiszenzen, von den Paradigmenwechseln zwischen Independent Rock, Grunge und Electronica, von künstlerischen Schaffenskrisen und der Inspirationskraft der Leere.
Eine rasante Fahrt durch die Biografie eines klangbesessenen Kosmopoliten entlang der Grenzlinie zwischen innerer Getriebenheit und äußerer Reflexion.
Mit einem Nachwort von Thomas Ballhausen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Wien – Berlin
Hungrig nach größeren Taten zog ich am ersten Tag nach dem Schulabschluss nach Berlin, wohin mich Peter Hollinger, ein renommierter deutscher Free Jazz-Schlagzeuger, eingeladen hatte. Ich hatte ihn kurz zuvor bei einem Konzert seines Avantgarde-Trios um Alfred Harth im Innsbrucker „Bogen 13“ kennen gelernt, wo sich unser beider Energien sofort gegenseitig angezogen hatten. Er war wie ich besessen von seiner Musik und unterstellte ihr kompromisslos sein gesamtes Leben und alle sozialen Beziehungen. Ich war wie er im Sternzeichen des Skorpion geboren – ein Umstand, den ich bis dato nicht bemerkt hatte, der ihm lustigerweise jedoch besonders wichtig war und durch welchen er unsere Ähnlichkeiten zu erklären pflegte. Hollinger war zu diesem Zeitpunkt genau doppelt so alt wie ich, nämlich 34. Diese Tatsache faszinierte uns wohl beide. Ich gab ihm frische Energie und riss ihn mit meiner geradlinigen Zielstrebigkeit in die Zukunft mit, während er mir mit seiner Erfahrung und seinen Kontakten imponierte. Er lebte in einer schmutzigen Großstadt, wo es eine Graffiti-besprühte U-Bahn gab (das deutlichste Symbol für mein damaliges Verlangen nach urbaner Freiheit und Anonymität) und jeden Abend verschiedene subkulturelle Konzerte zu sehen waren, und reiste mit seiner Musik durch die halbe Welt. Er stellte also genau das dar, wonach ich strebte, und wurde nicht nur zu meinem Partner, sondern zugleich auch zu meinem Idol. Hollinger war nicht nur ein äußerst charismatischer Mensch – ein großgewachsener, gutaussehender, dunkelhaariger Narziss, den das Leben offensichtlich mit genügend Schicksalsschlägen gezeichnet hatte, um in ihm dunkle Geheimnisse und eine stille Weisheit vermuten zu können –, sondern auch ein außerordentlicher Schlagzeuger, der in der Berliner Tradition der frühen 80er Jahre sein Schlagzeug mit allen möglichen Eisenstangen, Schrott und Sperrmüll frisiert hatte, um ihm eine unverkennbare, persönliche Note zu geben. Hineingeboren ins westdeutsche Provinzstädtchen Zweibrücken war er als Einzelkind – wohl bei weitem noch rebellischer als ich – im Dunstkreis der dort stationierten amerikanischen Besatzungssoldaten, die seinen schweren Groove mit amerikanischer Soulmusik geprägt hatten, und des brodelnden RAF-Konfliktes aufgewachsen. Schon früh verübte er Sabotage-Aktionen und Anschläge, zog sich in Hippie-Kommunen zurück und setzte sich schließlich nach Westberlin ab, diese damalige Insel aller deutschen Aussteiger. Dort wohnte er im kargen Luxus besetzter Häuser, fand zu seinem einzigartigen Schlagzeug-Stil und wurde zu einer bekannten Figur der gerade in Mode gekommenen Avantgarde-Szene um Musiker wie Fred Frith oder John Zorn. Nun platzte ich, frech und jung und ungehobelt, in sein Leben, entsprang einer anderen Generation und verfolgte trotzdem die gleichen Ideale. Ich konnte und wollte von ihm lernen, doch so ähnlich wir uns in vielen Beziehungen auch waren, so offenbarte sich auch unser Generationenunterschied in vielerlei Hinsicht. Während ich in meiner Ungeduld keine wertvolle Zeit durch bewusstseinsbeeinträchtigende Mittel verlieren wollte, stimulierte er seine Inspiration mit täglichen Joints und saß stundenlang in Kreuzberger Szene-Cafés. Während ich ständig Neues kennen lernen und erleben wollte, zog er sich gerne tagelang in seine dunkle Behausung zurück und mied den Kontakt mit anderen Menschen. Ich war immer in Bewegung, während er sein Bedürfnis nach Einsamkeit auslebte. Unsere gegenseitige musikalische und menschliche Faszination, genährt durch die Diskrepanz seiner starren Ernsthaftigkeit und meiner energischen Leichtfüßigkeit, währte dennoch viele Jahre, bevor sie im Laufe der 90er zusehends zerbröckelte. Mein ungetrübter Drang nach Neuem ließ sich auf Dauer mit seinem, immer mehr in zynische Selbstzerstörung und Feindseligkeit abdriftenden, abgebrühten Starrsinn nicht mehr vereinen. Ich wurde mit den Jahren immer gesünder und er immer kranker, so schien es, bis wir schließlich unsere Sturköpfe gegeneinander prallen ließen und uns kurz nach dem 10-jährigen Jubiläum unseres frei improvisierenden Duos Platzlinger aus dem Weg zu gehen begannen. In Berlin lebte ich in Peter Hollingers Wohnung in Kreuzberg, in einem ehemalig besetzten Haus in der Adalbertstraße – heute eine normale Durchfahrtsstraße der Stadt, damals eine Sackgasse, die wenige Meter nach unserer Eingangstür direkt in der Berliner Mauer endete. Besetzte Häuser hatte es Anfang der 80er Jahre noch Hunderte in dieser Stadt gegeben, und, auch wenn sie inzwischen alle geräumt oder legalisiert worden waren, strahlte Kreuzberg für mich 1987 immer noch den Geist der Selbstbestimmung, dieses befreiende Gefühl von Autonomie aus. Es war eine Insel der Freiheit, in der das Gefühl der gegenseitigen Solidarität gerade deshalb so spürbar wurde, weil man überall an die, als bunte Mauer sichtbare Abgrenzung nach außen stieß. Sie sperrte gleichermaßen den fremden Osten wie den langweiligen, spießigen Westen aus. So paradox es auch klingen mag, durch die Mauer schien alles, was man in seiner künstlerischen Entfaltung als hinderlich empfand, Welten entfernt zu sein. Hier war man jemand, oder wurde zumindest schnell als jemand akzeptiert. Hier trafen sich alle, die woanders keinen Platz und keine Berechtigung gefunden hatten. Für mich war es der ideale Ort und gleichzeitig die perfekte Kur nach meinen ersten 17 Jahren im katholisch-konservativen Tirol. Zwar inskribierte ich mich im gleichen Herbst für ein Philosophie- und Logistikstudium in Wien, doch besuchte ich diese Universität kein einziges Mal und verbrachte den Großteil meiner Zeit in Berlin. Dort traf ich in den Straßen nur auf Punks, Künstler und Türken – ein erfrischendes Bild im Gegensatz zu den griesgrämig durchs graue Wien schleichenden Pensionisten. Wir probten im Tresorraum einer ehemaligen Bank und konzertierten bei jeder Gelegenheit in linken Kulturzentren und schmuddeligen Clubs der Stadt. Ich lebte fast ausschließlich in der Nacht und ernährte mich von nichts anderem als Kebab und einem gelegentlichen Börek, falls mir einmal nicht nach Hammelfleisch zumute war. Ich klinkte mich in die aufstrebende Berliner Musikszene um die Dreadlock-Rocker Jingo De Lunch und die Lolitas ein, die inzwischen als Stereo Total ihren französischen Charme versprühen. Einen der schönsten und wohl auch bezeichnendsten Momente meiner Berliner Zeit erlebte ich, als mir kurz vor der Abfahrt zu einem Auftritt in „Westdeutschland“, wie der Rest der BRD von Neu-Berlinern damals abfällig genannt wurde, sämtliche Papiere und alles Geld aus dem Auto gestohlen wurden. Nun war ich absolut frei. Ich konnte mich nicht einmal mehr ausweisen, hatte keine Identität mehr. Es kam mir vor, als ob ich endgültig aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgebrochen wäre. Es dauerte lange, wunderbare Wochen, bis ich umständlich auf dem österreichischen Konsulat wieder eingebürgert wurde. Warum und wann genau meine Faszination für Westberlin nach nur wenigen Jahren abklang, ist mir nie ganz bewusst geworden. Mir fiel nur allmählich immer deutlicher auf, dass ich eigentlich mehr erreichen wollte. Auf Dauer war mir das gegenseitige Aufdie-Schultern-Klopfen mit gleichgesinnten Kollegen nicht genug und konnte meinen Durst nach Neuem nicht stillen. Mir fehlte die Reibung, der Druck, die Konfrontation mit einer realen Welt. Ich erkannte, dass ich lieber ein Außenseiter blieb, als zum völlig integrierten Bestandteil einer kleinen Alternativ-Szene zu werden, die sich ihre eigenen Regeln auferlegte. In diese Zeit fielen auch die ersten desillusionierenden Erfahrungen mit professionellen Tonstudios, egal ob sie in Westberlin oder sonst wo waren. Bei Aufnahmen meiner Indie-Pop-Band The Capers in Innsbruck und etwas später auch meines Duos mit Peter Hollinger Platzlinger in Berlin und Frankfurt lernte ich die rauschfreie Welt außerhalb meiner vier vertrauten Tonbandspuren kennen und sah mich mit einer unüberschaubaren und von den Verantwortlichen geheimnisvoll gehüteten Technik konfrontiert, die ich selber nicht mehr beherrschen konnte. Wir hatten von unseren Plattenfirmen Zensor (Berlin) und Extraplatte (Wien) den Auftrag und ein kleines Budget erhalten, um in möglichst makelloser Qualität neue Platten zu produzieren. Also musste ich ins kalte Wasser springen und mein Schicksal in die Hände zufällig anwesender Toningenieure legen. Es waren Menschen und nicht willenlose Maschinen, die die Technik bedienten, daher musste man mit ihnen ebenso feinfühlig wie diplomatisch umgehen und Umwege um ihre Eitelkeiten finden, um halbwegs zu dem zu gelangen, was man sich vorstellte. Das verlangte viel Zurückhaltung und Geduld – Tugenden, die ich damals keinesfalls besaß. Der durchschnittliche Studiotechniker sieht seinen Job als Schichtarbeit, trägt die Verantwortung für ihre professionelle Ausführung und steckt sein Hoheitsgebiet möglichst klar ab, sobald ihm unerfahrene Musiker ausgeliefert sind. Er weiß, dass ohne...