E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Plath Türwächter:innen der Freiheit
2. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7557-2252-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-7557-2252-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses Buch beruht auf einer wahren Geschichte. Sie beginnt in einer Schulaula in Berlin-Neukölln und endet im Berghain. Oder auf dem Zauberberg. Je nachdem. Vor allem aber ist das Buch eine Antwort auf die Frage: Wie sind wir als Gesellschaft eigentlich dahin gekommen, wo wir jetzt sind und was können wir tun? Maike Plath berichtet vom Scheitern, Aufstehen und Weitermachen. Von großem Schmerz und Lieblingsmomenten. Mitreißend, authentisch und mitten aus dem Leben.
Maike Plath ist Autorin, Dozentin, ehemalige Lehrerin und Teil des Leitungsteams von AC T e.V. - Führe Regie über dein Leben! Sie ist Begründerin des Veto-Prinzips (»Mischpult«). Ihr umfangreiches Konzept zu gleichwürdiger (Selbst-) Führung, das in bisher zehn Publikationen vorliegt, entwickelte sie aus der jahrelangen Praxis an einer Berliner Brennpunktschule. Rosa von Praunheim porträtierte ihre Arbeit 2017 im Kinofilm Act! Wer bin ich?.
Autoren/Hrsg.
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Lehrjahre sind keine Herrenjahre KIEL, 1997. Am Anfang dachte ich, es wäre so eine Art Pubertät. Dieses ständige Gefühl eines inneren Widerstandes und der Drang zu widersprechen. Ich war 27 Jahre alt und steckte in der Höllenmaschinerie Referendariat auf Lehramt. Das Thema Motivation hatte sich bereits nach wenigen Wochen erledigt. Ich kam mir vor wie eine 15-Jährige, die ununterbrochen mit vorwurfsvoll dreinschauenden Erwachsenen konfrontiert ist. Doofen Erwachsenen, die mit humorloser Stimme die Befolgung von völlig schwachsinnigen Regeln einfordern. So albern hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt und es war irgendwie erschütternd, mich selbst dabei zu beobachten, wie ich die ganze Zeit dachte: ›Im Ernst? IM ERNST?‹ und Mühe damit hatte, diese zwei Wörter nicht ständig laut auszusprechen. »Sie müssen sich eine formalere Sprache angewöhnen, Frau Plath …« Im Ernst? »Sie dürfen im Unterricht nicht so viel lachen.« Im Ernst? »Sie dürfen die Schüler während des Unterrichts nicht zur Toilette lassen.« Im Ernst? »Sie müssen in jeder Stunde, die Sie geben, Ihr vorformuliertes Unterrichtsziel erreichen — und zwar in genau der Minute, die Sie vorher in Ihrer schriftlichen Unterrichtsplanung dafür angegeben haben.« Im Ernst? Nach den Lehrproben sollte ich dem Gremium aus Studienleitern, Mitreferendar:innen, Schulleiter und Mentorin immer minutiös meine »Fehler« aufzählen, die mir während der Stunde unterlaufen waren. Mit dieser Selbstgeißelung sollte ich unter Beweis stellen, dass ich all meine Fehler selbst erkennen konnte und somit in der Lage war, zu reflektieren. Während alle anderen im Raum mit gerunzelter Stirn und beflissen Notizen dazu machten, um im Anschluss dann all die vielen Fehler zu ergänzen, die ich übersehen hatte. Wenn andere nach solchen Tribunalen weinend aufs Klo rannten, seufzte der Seminarleiter mit einer gewissen Zufriedenheit und wiederholte das Mantra, das offenbar die geistige Grundlage für das Referendariat darstellte: »Lehrjahre sind keine Herrenjahre«. IM ERNST?? Geradezu komische Züge nahmen die Auswertungsrunden in der Seminargruppe mit den anderen Lehramtsanwärter:innen an: Die gesamte Gruppe der Referendar:innen reiste zu einem Unterrichtsbesuch an, währenddessen sie hinten, in einer Reihe nebeneinander saßen und emsig jedes Wort mitschrieben. Hinterher saßen wir alle mit ernsten Gesichtern im Kreis und die Mitreferendar:innen wurden vom Seminarleiter aufgefordert, alle Fehler zu benennen, die ihnen aufgefallen waren. Man konnte seinen eigenen Ruf nur dadurch retten, dass man vorher bereits selbst alle Fehler aufzählte, die man in seiner Vorführstunde gemacht hatte. Je mehr Fehler ich selbst benennen konnte, desto besser — denn dadurch konnte ich unter Beweis stellen, dass ich zwar noch nicht unterrichten, aber zumindest selbstkritisch reflektieren konnte. Dieses Prozedere führte zu immer hysterischeren Verhaltensweisen der Lehramtsanwärter:innen — und Schüler:innen — vor jedem Unterrichtsbesuch. Die »Vorführstunden« wurden zu genau abgezirkelten Theaterkunststückchen, bei denen in Minute 3 der visuelle Impuls erfolgen musste, in Minute 7 die hinführende Frage ins Thema, in Minute 10 die Ausgabe der Arbeitsbögen und so weiter. Die Schülerreaktionen wurden zu einem Schreckensszenario, denn was machte mensch, wenn ein Schüler zu früh eine Frage stellte, die erst für Minute 36 vorgesehen war? Da die Jugendlichen den ungeheuren Druck spürten, der auf den Referendar:innen lastete, begannen sie, die seltsamsten Verhaltensweisen an den Tag zu legen: In der Absicht, der armen Lehramtsanwärterin zu »helfen«, saßen sie wie abgerichtete Zirkusäffchen auf ihren Plätzen und versuchten, zu erraten, was von ihnen verlangt wurde. Kein:e Schüler:in verhielt sich so, wie die Referendarin sie in der schriftlichen Vorbereitung beschrieben hatte, alle meldeten sich ununterbrochen und spielten Streber. Wenn ich zuvor einen halbwegs realistischen »Erwartungshorizont« beschrieben hatte, wurde ich hinterher erstaunt darauf hingewiesen, dass die Klasse ja keineswegs so problematisch sei, wie ich es beschrieben hatte. Da hatte ich mich wohl grob verschätzt ... Als ich meine Mentorin halb im Scherz fragte, ob es nicht vielleicht sinnvoller wäre, die »idealen« Gesprächsbeiträge der gesamten Stunde vorher auswendig lernen zu lassen und mehrmals mit den Schüler:innen zu proben, zuckte sie seufzend mit den Schultern und antwortete: »Ja, vielleicht sollte man das machen …« So ging das weiter. Und meine Fassungslosigkeit steigerte sich ins Unermessliche, zumal ich mit meinem Staunen über diese perfekt organisierte Lernbehinderungsmaschinerie offenbar völlig allein war. Um mich herum nur diese betretenen, ängstlichen, selbstgerechten oder empörten Gesichter. Graue Flure, graue Seminarräume, unendliche Langeweile und gleichzeitig unerträglicher, ganz und gar künstlich erzeugter Stress und eine vollkommen aufgebauschte Wichtigkeit von völlig unwichtigen Dingen. Alle schienen sich in geduckter Haltung und nur auf Zehenspitzen zu bewegen — nur darauf bedacht, nicht aufzufallen, keinen FEHLER zu machen, sich zu verstecken und möglichst ungeschoren davon zu kommen. Ich fand mich in einem Reich wieder, in dem die Opportunisten und Schleimer:innen die Königinnen und Könige waren. Mir wurde klar: Hier bin ich falsch. Meine Mentorin Frau Thiele, die sich offenbar in den Kopf gesetzt hatte, mich heil durch diese zwei Jahre zu bringen, hatte mir vor meiner letzten Lehrprobe geraten, in der anschließenden Auswertungsrunde vor dem Gremium untertänig und sehr höflich aufzutreten. »Wissen Sie, Sie dürfen nicht immer alles infrage stellen, Frau Plath …« IM ERNST?? Frau Thiele hatte mir vorsorglich auf einem Zettel Formulierungen notiert, an denen ich mich in meinem Selbstgeißelungsgespräch orientieren konnte, »falls mit mir wieder die Pferde durchgehen sollten«. »Ich kann Sie ja verstehen«, erklärte Frau Thiele, »aber Sie müssen sich an die Vorgaben halten und dem Seminarleiter das Gefühl geben, dass Sie hier wirklich was lernen wollen.« ›Aber genau das ist ja der Witz! Ich WILL ja was lernen, aber ich DARF ja nicht!‹, dachte ich genervt. Das mit den vorgegebenen Formulierungen war natürlich gut gemeint. Es klappte aber nicht. Nach der Stunde dauerte es im Nachgespräch genau zwei Minuten, bis ich mich wieder — mit vor Aufregung rasendem Herzklopfen — in einem hitzigen Streitgespräch mit dem Seminarleiter befand, der kurz darauf türenknallend den Raum verließ, nicht ohne der betretenen Frau Thiele ein, wie ich fand, affig empörtes »Das lasse ich mir nicht bieten!« vor die Füße zu werfen, als wäre sie an allem Schuld, weil sie mich »krassen Punk« nicht unter Kontrolle bekam. Dabei war von »krassem Punk« wirklich nicht mal ansatzweise eine Spur. Ich war damals angepasst bis zur Schmerzgrenze. Das, was man »wohlerzogen« nennt und was in Wahrheit nur bedeutete, dass ich mich exzellent an die Erwartungen anderer anpassen konnte, ohne auch nur einen Schimmer davon zu haben, was ich selbst wollen oder brauchen könnte. Meine Erziehung in einem konservativ-protestantischen Elternhaus hatte ganze Arbeit geleistet. Überall konnte ich in Windeseile die Erwartungen meines Umfeldes erspüren und mich dann entsprechend benehmen. Meine Mutter sah in diesem Verhalten die Schlüsselkompetenz für ein erfolgreiches Leben. Und meine eigene Schulzeit gab ihr recht: Als Schülerin kam ich mit dieser Haltung bestens durch. Was meine eigenen Bedürfnisse anging, hatte ich nicht die geringste Ahnung. Wie auch? Sobald ich irgendeinen eigenen Wunsch durchzusetzen versuchte oder mich gegen eine Erwartung stellte, wurde dieses Verhalten mit dem Satz »Sei nicht hysterisch!« abgestraft. Die mildere Form des Tadels lautete: »Sei doch nicht so ichbezogen, es gibt auch noch andere Menschen auf der Welt!« Warum ich also im Referendariat ganz plötzlich diesen riesigen inneren Widerstand entwickelte, war, glaube ich, der Ungeheuerlichkeit dieser ständigen Grenzüberschreitungen geschuldet. Das Erste, was mir gesagt wurde, war, dass ich zu viel lachte. Ich müsse mich von den Schüler:innen deutlicher abgrenzen, was Sprache und Habitus betreffe. Das zweite Unglück des Referendariats lag in der Fokussierung auf die »Fehler«. Ich hatte Lust, Stunden vorzubereiten und erst recht, anschließend akribisch zu reflektieren, was in der Stunde passiert war. Aber das, was unter »Reflektieren« verstanden und von mir erwartet wurde, war eine demütige Aufzählung aller Kleinigkeiten, die mir »misslungen« waren. Es ging um Unterwerfung, nicht um Dialog. Und es schien die perfekte Unterrichtsstunde zu geben — nur leider sah ich eine solche nie und zweifelte auch stark daran, dass es sie überhaupt gab. Stattdessen wurde ich ängstlich und fühlte mich vor jedem Unterrichtsbesuch wie damals als Kind vor der Klavierstunde. Die hatte ich als Kind jeden Donnerstag um 17...