Pine | Botschaften an mich selbst | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Pine Botschaften an mich selbst


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-25240-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-641-25240-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein radikal aufrichtiges Debüt. Der Nummer-1-Bestseller aus Irland: Emilie Pine spricht wie niemand sonst darüber, was es heißt, im 21. Jahrhundert eine Frau zu sein. Es ist das Buch einer ganzen Generation. Ein Buch über Geburt und Tod, sexuelle Gewalt und Gewalt gegen sich selbst, weiblichen Schmerz, Trauer und Infertilität. Es ist ein Buch über den alkoholkranken Vater, über Tabus des weiblichen Körpers. Und es ist trotz allem ein Buch über Freude, Befriedigung und Glück – unbändig, mutig, und absolut außergewöhnlich erzählt.

Emilie Pine ist Professorin für Modernes Drama an der School of English, Drama and Film am University College Dublin. Ihre zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen wurden vielfach ausgezeichnet. »Botschaften an mich selbst« ist ihre erste Sammlung persönlicher Essays, die international euphorisch gefeiert und unter anderem mit dem »Irish Book of the Year«-Award ausgezeichnet wurden.
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Über Unmäßigkeit


Als wir ihn finden, liegt er schon seit Stunden in seinem Kot.

Das Allgemeine Krankenhaus Korfu ist verwirrend. Im Foyer stehen lauter Patienten und rauchen, aber eine Information oder Anmeldung gibt es nirgends. Ich frage ihn per SMS, wo er ist, bekomme aber keine Antwort. Wir spüren ihn auf wie Bluthunde und finden ihn im fünften Stock, wo er entkräftet im Bett liegt. Es ist Abend, und er sagt, er habe seit mittags keine Pflegekraft und keinen Arzt oder Ärztin mehr gesehen. Er sagt, er brauche eine Bettpfanne. Meine Schwester und ich sind seit über vierundzwanzig Stunden unterwegs und haben nicht geschlafen. »Ruf eine Krankenschwester«, sage ich. Er sagt, das habe er schon, aber es sei nichts passiert. »Versuch es noch mal.« Er nimmt den Rufknopf und drückt ihn mehrmals. Nach einer Weile kommt eine gestresst aussehende Schwester, die erst ihn anschreit und dann uns. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich kein Griechisch kann. Mit sinnlosen Gesten deute ich auf den Mann im Bett. Ich versuche, ihr klarzumachen, dass er eine Bettpfanne und frische Laken braucht und gewaschen werden muss. Nichts davon scheint bei ihr anzukommen. Die Schwester sagt noch irgendetwas, wirft die Hände in die Luft und geht. Mein Vater sieht uns verzweifelt an. Ich bitte meine Schwester, bei ihm zu bleiben, und gehe hinaus in den Flur, wo ich jedoch nur andere Patientinnen, Patienten und deren Familien antreffe. Ich gehe zur Schwesternstation, aber da ist niemand. Als ich wieder umkehre, ohne die leiseste Ahnung, was ich jetzt tun soll, spricht mich eine Frau auf Englisch an. Sie fragt, ob alles in Ordnung sei, und ich ergreife die Chance und frage, ob sie wisse, wo die Krankenschwestern wären. »Krankenschwestern gibt es hier nicht«, sagt sie. Ein älterer Mann beugt sich zu mir: »Wenn man hier keine Familie hat, stirbt man.«

Das soll in den folgenden Wochen in Griechenland eine Art Mantra für uns werden, während wir versuchen, unseren Vater wieder auf die Beine zu bringen. Schon sehr bald erfahren wir, wie unterbesetzt das Krankenhaus wirklich ist: Nach vierzehn Uhr ist kein Arzt mehr im Haus und nach siebzehn Uhr nur noch eine Pflegekraft pro Station. Ich zähle sechs Zimmer auf diesem Flur, jedes mit bis zu sechs Patientinnen und Patienten. Für so viele Menschen kann eine Pflegekraft allein kaum die medizinische Grundversorgung leisten, um sich um Inkontinenz zu kümmern, fehlt ihr die Zeit. Außerdem erfahren wir, dass dieser Flur – offiziell die »Innere Medizin« – hier »Sterbetrakt« genannt wird.

Die englischsprechende Einheimische teilt mir mit, dass ich mich selbst um meinen Vater kümmern muss. Freundlich erklärt sie mir, wo ich Inkontinenzeinlagen, Feuchttücher und Papierhandtücher kaufen kann. Kaum fähig, das alles zu verarbeiten, gehe ich zurück in das Einzelzimmer, das mein Vater seinem ernsten Zustand verdankt, und erkläre meiner Schwester unsere Lage. Sie sieht mich ungläubig an. Sie steht am Kopfende von Dads Bett und schüttelt sein Kissen auf. Mir wird bewusst, dass ich bisher kaum mit ihm gesprochen habe, obwohl ich seinetwegen quer durch Europa angereist bin. »Immerhin bist du am Leben«, sage ich. Er nickt. Er sieht sehr klein aus in diesem Bett. Klein und verloren. Ich beschließe, dass das so nicht bleiben kann – irgendwo in diesem Krankenhaus muss doch jemand zuständig sein. Ich gehe wieder hinaus auf den Flur und frage die nette Frau, ob sie mir helfen würde, einen Arzt zu suchen. Sie spricht kurz mit ihrer Familie und geht dann los, den Flur hinunter. Ich folge ihr. Mit dem Aufzug fahren wir auf eine andere Etage, aber auch dort ist nirgendwo ein Arzt oder eine Ärztin. Wir steigen wieder in den Aufzug und versuchen es noch einmal. Das wiederholen wir so lange, bis wir im Keller landen und dort die Flure absuchen. Schließlich finden wir die Blutspendestation mit dem betreuenden Arzt. Meine neue Freundin schiebt mich durch die Tür und winkt mir zum Abschied.

Auf einem Sofa in einer Ecke des Raums liegt ein Mann, den Ärmel hochgekrempelt und über einen intravenösen Zugang an einen Transfusionsbeutel angeschlossen. Er spendet Blut, und der Arzt scheint zu glauben, ich wäre ebenfalls zum Spenden hier. Als er meine Überraschung bemerkt, erklärt er mir, dass in Griechenland landesweite Blutknappheit herrsche und Angehörige von Patienten gesetzlich zum Blutspenden verpflichtet seien. Ich denke an meine Schwester, die sich fünf Stockwerke über uns vermutlich schon fragt, wo ich bleibe. Ich schüttle den Kopf, finde aber keine Worte. Ich bin nicht in der Lage, ihm zu erklären, dass wir beide unter Anämie leiden und nicht spenden können. Ich ergreife seine Hand und bitte ihn, nach meinem Vater zu sehen. Ich sage ihm, dass ich nicht verstehe, was los ist, dass mein Vater allein in einem Zimmer liegt und kein Arzt da ist. Ich sage ihm, wir wollen nur jemanden, der uns alles erklärt – obwohl ich eigentlich jemanden will, der mir sagt, was ich tun soll. Der Adrenalinschub, der mich wie auf einer Welle bis hierher getragen hat, ebbt plötzlich ab, und ich fühle mich nur noch leer. Ich stehe einfach nur da und bitte den Arzt, nach meinem Vater zu sehen. Äußerst widerstrebend sagt er etwas zu der Frau an der Anmeldung und verlässt die Station. Wir fahren hinauf in den fünften Stock und gehen den Weg zurück, den ich gekommen bin, vorbei an den traurigen Patienten im Flur und in Dads Zimmer.

»Hier ist ein Arzt«, sage ich mit mehr Hoffnung als Überzeugung in der Stimme. Er nimmt Dads Krankenblatt, überfliegt es, nickt und sagt: »Ihr Vater hat viel Blut verloren. Er wird Transfusionen brauchen. Sie müssen Blut spenden.« Es erscheint mir einfacher, ihm zuzustimmen, obwohl ich mir eine gründlichere Untersuchung erhofft hatte. Die folgenden Wochen werden nach genau demselben Muster ablaufen: stundenlanges Warten gefolgt von einem Ringen um Aufmerksamkeit, nur um dann etwas zu erfahren, das wir bereits wissen. Jahrelang habe ich Beckett-Stücke unterrichtet, jetzt lebe ich in einem.

Nach seiner Verkündung nickt der Arzt noch einmal und geht. Als er fort ist, suche ich im Blick meines Vaters nach Rat, doch er sucht in meinem nach Halt, den ich nicht geben kann. Ich probiere ein Lächeln. Wir sind jetzt über eine Stunde hier, und ich weiß zwar, dass er erleichtert ist, uns zu sehen, und meine Schwester hat seine Hand gestreichelt, damit er sich nicht mehr so allein fühlt, aber er liegt immer noch in dem schmutzigen Bett. Da uns sonst niemand helfen wird, bitte ich meine Schwester mitzukommen. »Wir sind gleich wieder da.« Unten finden wir den Krankenhauskiosk, in dem es neben einer praktischen Auswahl an Snacks und Heißgetränken auch all jene Produkte zu kaufen gibt, die man zur Versorgung von Patienten braucht. Wir kaufen Feuchttücher und Einlagen. Einer nachträglichen Eingebung folgend, legt meine Schwester eine Packung OP-Handschuhe dazu, die sich noch als unbezahlbar erweisen werden.

Als wir Dad erklären, was wir vorhaben, reagiert er verstört und beschämt. Aber der Gestank im Zimmer ist inzwischen schlimm geworden, was uns so effizient und sachlich wie irgend möglich vorgehen lässt. Wir waschen ihn. Die schmutzigen Laken knülle ich zusammen, bringe sie in einen Raum, den ich für eine Wäschekammer halte, und lasse sie mit schlechtem Gewissen dort liegen. Auf einer offenbar nicht genutzten Station nehme ich mir das Laken von einem und die Decken von einem anderen Bett, denn mir ist klargeworden, dass man hier nichts bekommt, wenn man es sich nicht holt. Als ich wieder ins Zimmer komme, hat meine Schwester es geschafft, Dad zum Lachen zu bringen. Wir stecken die frischen Laken um ihn herum fest, und mir wird bewusst, wie sehr unser Empfinden von Menschlichkeit von solchen einfachen Dingen abhängt. Im Grunde hat sich nichts verändert, und ich weiß kein bisschen mehr über Dads Gesundheitszustand, aber ich habe das Gefühl, wir haben etwas Gewaltiges geschafft.

Es wird spät. Wir einigen uns darauf, dass ich die Nacht über im Krankenhaus bleibe und meine Schwester sich ein Hotel in der Stadt nimmt. Ich würde sie gern begleiten, aber von jetzt an werden wir immer abwechselnd bei Dad bleiben. Sie kommt gerade noch rechtzeitig von der Station – um dreiundzwanzig Uhr werden die Türen abgeschlossen. Es wird geduldet, dass Familienangehörige über Nacht bleiben, aber die Tür verhindert, dass sie kommen und gehen können. Ich umarme meine Schwester zum Abschied und gehe wieder ins Krankenzimmer. Um die einsame Suche nach einer Unterkunft beneide ich sie nicht, aber ich habe auch keine Ahnung, wie ich die Nacht hier im Krankenhaus durchstehen soll. Dad hat das Bewusstsein verloren. Ich lausche auf seinen Atem und lege die Hand auf seine Brust, um sein Herz zu spüren; es schlägt gleichmäßig, auch wenn es sich sehr schwach anfühlt. Skeptisch beäuge ich den Blutbeutel neben seinem Kopf, der beinahe leer ist. Ich glaube nicht, dass ich die Kraft habe herauszufinden, was zu tun ist, wenn er leer ist. Ich wähle die Nummer seiner Versicherung, erreiche aber nur eine Bandansage. Dann fällt mir ein, dass das Ladegerät noch in der Tasche meiner Schwester steckt, und ich verwerfe den Gedanken, noch jemanden anzurufen.

Ich schalte das Licht aus, schaue aus dem Fenster über die Hügel im Norden und lausche auf die Nachtruhe, die sich in der Station ausbreitet. Es wird so kalt, dass ich mehrere Decken über Dad breite. Ich selbst sitze im Mantel da und warte. Nach einiger Zeit geht die Tür auf, und die gestresste Schwester kommt herein. Stumm sehe ich zu, wie sie den leeren Blutbeutel abnimmt, einen frischen anhängt und ihn drückt, um sicherzugehen, dass das Blut einläuft. Sie trägt eine...


Röser, Cornelia
Cornelia Röser, geboren 1978, lebt als Übersetzerin und Illustratorin in Berlin. Sie übersetzt Autor:innen wie Dylan Farrow, Emily Segal und Emilie Pine aus dem Englischen.

Pine, Emilie
Emilie Pine ist Professorin für Modernes Drama an der School of English, Drama and Film am University College Dublin. Ihre zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen wurden vielfach ausgezeichnet. »Botschaften an mich selbst« ist ihre erste Sammlung persönlicher Essays, die international euphorisch gefeiert und unter anderem mit dem »Irish Book of the Year«-Award ausgezeichnet wurden.



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