E-Book, Deutsch, 230 Seiten
Reihe: Edition Periplaneta
Pikus / Uriona Lämmels Syndrom
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95996-046-5
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
oder Die fünf Dimensionen der Wahrheit
E-Book, Deutsch, 230 Seiten
Reihe: Edition Periplaneta
ISBN: 978-3-95996-046-5
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lämmel, Haushaltswarenvertreter mit Doktortitel, entdeckt an sich die Fähigkeit, durch Dinge hindurchzusehen. Als wäre das Leben mit geschärftem Blick nicht schon kompliziert genug, stellt ein seltsamer Anruf sein Leben endgültig auf den Kopf. Denn am anderen Ende ist Dom Alfonso. Der lebt hinter der Fußleiste in Lämmels Küche und ernährt sich von den herabfallenden Krümeln. Und er droht mit Krieg, sollte die reibungslose Krümelversorgung eingestellt werden. Lämmel will den ungebetenen Gast loswerden und schließt einen Pakt mit ihm. Fortan erzählt er ihm Geschichten, deren Wahrheitsgehalt der temperamentvolle Untermieter erraten muss. Sollte Dom Alfonso falsch liegen, so die Abmachung, muss er Lämmels Haus verlassen. Schon bald muss Lämmel jedoch feststellen, dass Wahrheit und Lüge gar nicht so leicht zu unterscheiden sind, besonders, wenn es um die eigene Vergangenheit geht. 'Lämmels Syndrom oder Die fünf Dimensionen der Wahrheit' ist ein surrealer Wahnsinnsroman über Realitäten und Ideale, über deren Vergänglichkeit und ein bisschen auch über den Samsa in uns allen.
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Freitag, 14. November
Zehn Minuten vor dem verabredeten Termin parkte Lämmel sein Fahrzeug vor dem Supermarkt an der Schlossstraße, zog die Handbremse an, stieg aus, schloss ab und fröstelte. Der frühe Nachmittag dieses Tages zeigte sich novemberbleich. Lämmel war immer pünktlich oder zu früh. Pünktlichkeit war die zweite seiner Tugenden. Beide hatte er wie zwei Koffer aus seinem alten Leben mitgebracht. Die Menge der Gepäckstücke für die Reise war streng limitiert gewesen. Vieles durfte ohnehin nicht eingeführt werden. Das Meiste musste er zurücklassen. Als er seine Koffer dann auf dieser Seite der Realität öffnete, fand er in einem von ihnen neben Pünktlichkeit und Höflichkeit auch etwas Gerechtigkeit. Die kleine Frau kletterte aus dem Koffer und strahlte ihn an. Sie hatte ihn nicht verlassen. Lämmel sah Gotthart aus einem schwarzen Auto steigen. Die Zentralverriegelung klackte. Mit ausholenden Schritten und rudernden Armen eilte er auf ihn zu. „Grüß Gott“, schnaufte er. „Wie lange warten Sie denn schon? Ist auch nicht wichtig. Sie sind ja da. Fangen wir an. Sie brauchen Adressen. Adressen sind Ihre Kunden von morgen, und Sie brauchen doch Kunden, oder? Ohne Kunden kein Verkauf und ohne Verkauf keine Provision, kein Geld. Geld ist zwar nicht alles im Leben, aber ohne Geld ist alles nichts.“ Lämmel nickte still. Gotthart bellte ein Lachen und klopfte Lämmel auf die Schulter. „Jetzt passen Sie mal auf! Ich habe alles vorbereitet. Hier ist eine Kladde. Hier haben Sie einen dezenten Kugelschreiber und ausreichend Fragebögen des Instituts für haushaltsnahe Dienstleistungen. Sie sind heute das Wichtigste für uns.“ Lämmel nahm den Kugelschreiber und die Kladde entgegen und klemmte die Fragebögen an ihr fest. Rechts oben auf dem grauen Umweltpapier sah er ein unbekanntes Logo und in geordneter Abfolge unter diesem einige Fragestellungen. ‚Wie viele Personen leben in Ihrem Haushalt? Wie viele Stunden verwenden Sie täglich auf die Hausarbeit? Zu beantworten in einer Skala von eins bis sechs.‘ Lämmel blickte in Gottharts erwartungsvolles Gesicht. Er wollte Zweifel äußern, unterließ es jedoch und fragte lediglich: „Was ist das für ein Institut, dieses Haushaltsinstitut?“ „Haushaltsnahe Dienstleistungen“, korrigierte Gotthart und lachte. „Nehmen Sie’s nicht zu wissenschaftlich. Es ist der Schimmel Schummel, den wir heute reiten. Auf geht’s! Kommen Sie mit, ich werde es Ihnen vormachen.“ Gotthart spähte über den Parkplatz und erblickte eine junge Frau, die soeben die Einkäufe im Kofferraum ihres Wagens verstaute. Er raddampfte ihr kraftvoll entgegen. Lämmel hörte verwundert, wie Gotthart in einen leichten Wiener Akzent glitt. „Küss die Hand, gnä‘ Frau, ich hätte da einige wenige Fragen im Interesse der Wissenschaft. Eine Umfrage des Instituts für haushaltsnahe Dienstleistungen. Darf ich fragen, für wie viele Personen Sie den Haushalt führen?“ Das Gespräch verlief blendend. Gotthart befragte, Lämmel schrieb, der Schimmel Schummel wieherte. Gotthart war bereits dabei, sich wieder zu verabschieden. Jetzt nickte er Lämmel bedeutungsvoll zu. „Und übrigens, gnä‘ Frau, als ein kleines Dankeschön für Ihre Unterstützung unserer Arbeit nehmen Sie an einer institutsinternen Verlosung des großen Ratgebers für den modernen Haushalt teil.“ Und ohne Unterbrechung, eine zustimmende Reaktion voraussetzend, fuhr er fort: „Wenn Sie, gnä‘ Frau, zu den glücklichen Gewinnern zählen sollten, wie kann ich Sie dann telefonisch benachrichtigen?“ Nach einem kurzen Zögern nannte ihnen die junge Frau ihre Mobilfunknummer. „Nein, warten Sie“, unterbrach sie sich, „da habe ich wieder diesen Zahlendreher. Am Schluss kommt erst die drei und dann die zwei.“ Gotthart strahlte verständnisvoll: „Ah, gut. Ja danke, ich habe es notiert, erst die drei und dann die zwei und nach wem darf ich dann fragen?“ „Hoffmann“, sagte die junge Frau und schloss den Kofferraum, „Mandy Hoffmann, das bin ich.“ Lämmel fand, dass Mandy Hoffmanns Nacktheit etwas Besonderes hatte. Er war enttäuscht, als sie einstieg und der Stahl der Karosserie ihm in Teilen den Blick verstellte. Als sie dann ihren PKW vom Parkplatz des Supermarktes steuerte, erläuterte Gotthart die Vorzüge dieser Kundenakquise. „Zum Ersten“, dozierte er dröhnend, „haben wir damit bereits einen persönlichen Kontakt geschaffen, der, wie Sie später noch sehen werden, die konkrete Terminvereinbarung erleichtert. Zum Zweiten besitzen wir jetzt erste Informationen über das Lebensumfeld des Kunden, wie da wären: Familiengröße, zeitlicher Umfang der Haushaltsaufwendungen und einiges mehr. Zum Dritten können wir aus dem Fahrzeug, das die Person fährt, gewisse Rückschlüsse auf das Familieneinkommen ziehen. Zum Vierten verrät uns das Kennzeichen des Wagens, ob wir vor Ort arbeiten können und nicht etwa in München oder Köln anlanden.“ Lämmel nickte und ergänzte: „Fünftens ist ein Mensch, der soeben seine Einkäufe im Kofferraum platziert, kaum fähig, sich wirksam einer schummelschimmelnden Befragung zu entziehen.“ „Das haben Sie sehr gut beobachtet“, lobte Gotthart mit schmalen Augen. „Und jetzt sind Sie auch gleich selbst dran. Zeigen Sie mal, was sie so drauf haben.“ Lämmel hatte diese Aufforderung bereits erwartet. Doch schien es ihm, als sei da noch etwas angehängt gewesen, das klang wie: ‚Hossd mi! Schleich di!‘ Lämmel zeigte, was in ihm steckte. Freundlich grüßte er die Insassen neu eintreffender Fahrzeuge, bevor er sie nach ihren Einkäufen mit seinem Fragebogen konfrontierte. Wer ihn dann floh, dem ging er nicht nach. Er wusste, dass dieses Verhalten seine Telefonliste kaum belastbarer machen würde. Als Gotthart ihn zufrieden verließ, hatte er bereits vierundfünfzig Kontaktdaten gesammelt. Lämmel fror. Er wartete ab, bis Gottharts Wagen nicht mehr zu sehen war. Dann startete er den Motor und entfloh der ungeliebten Stadt im Strom des sich ausdünnenden Verkehrs. Über einen sandigen Weg, entlang eines Waldes, fuhr er seinem Dorf entgegen. Es war ein mühsames Fahren. Bodenmulden, schräge Senken, der zersplitterte Ast einer Kiefer. Doch Lämmel liebte diesen Weg. Das Jahr verabschiedete sich wie die welken Blätter der Sommereichen. Der November brachte die kurzen grauen Tage. Ein trauriger Monat. Eine wunde Zeit, wenn schwarze Vögel krächzend über entleerte Felder ziehen. Lämmel nahm eine weitere Abkürzung, eine katzenköpfige Landstraße, gesäumt von knorrigen Apfelbäumen. Er sah die Fruchtmumien in den kahlen Ästen und ermahnte sich: ‚Ich muss heraus aus dieser winterblassen Traurigkeit.‘ Er schaltete den CD-Player des Autoradios ein und glitt hinein in die Rheinische Sinfonie. Als er den Ortsteil Neulangerwisch erreichte, überquerte er die Umgehungsstraße und folgte dem schmalen Weg, der von Holunder und Schlehen begrenzt wurde. Doch je näher er seinem Dorf kam, umso kantiger kroch der Gedanke an Dom Alfonso hervor. Wer war das? Was war er? Welches Monstrum drohte ihm im eigenen Haus mit Krieg? Guerra! Oder hatte der Feind bereits ein Verb benutzt? Guerrear, in den Krieg ziehen? „Ich werde ihn aushungern“, flüsterte er und stellte die Rheinische leiser. „Aushungern werde ich ihn und damit aus dem Haus treiben.“ Doch Lämmel verfügte auch über hinreichende soziologische Kenntnisse, die ihn lehrten, zu welchen Exzessen Hunger und Vertreibung führen konnten. Er musste behutsam vorgehen. Ein Krümelentzug war der richtige Schritt, doch nur, wenn er in kleinen Dosen daherkam. Er würde fortan achtsam krümeln, mit jedem Tag weniger Nahrung hinter die Leiste fegen. Denn ein plötzlicher Entzug der Nahrung versetzt den Hungernden in Wut. Der allmähliche Entzug jedoch schwächt ihn, nimmt ihm die Kraft zur Revolte und macht ein ausweichendes Verhalten wahrscheinlich. Die letzte Kraft, die der Hungerschwache findet, wird dann zur Flucht verwandt und nicht zum Aufstand. Doch was, wenn Dom Alfonso Vorräte angelegt hatte? Stille Reserven, die den Feind über Jahre nähren würden. Lämmels Denken schrie nach Information. Er musste hinter die Leiste blicken. Papier, Pappe, diverse Stoffe zu durchdringen, das beherrschte er. Selbst unter dem Papierstapel im Kassettendeck seines Druckers sah er stets das letzte, das unterste Blatt. Schlagartig kam ihm die Erkenntnis. Das war die Lösung, hier musste er ansetzen: am Druckerpapier! Er parkte sein Auto vor dem Tor, stürmte ins Haus, riss den Zollstock aus der Küchenschublade, hetzte die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu seinem Büro. Atemlos beugte er sich über den Drucker und legte an: Fünf komma drei Zentimeter maß er, Blatt auf Blatt, nicht mehr und nicht weniger, und darunter begann der graue glatte Grund des Kassettenbodens. Lämmels Atem ging schwer. Er lief die Treppe hinunter und in die Küche. Er kniete sich auf das sauber gefegte Linoleum und näherte vorsichtig die Hand mit dem Zollstock darin der Leiste. Wie oft hatte sein Besen achtlos hier angeschlagen? Wie viel Wischwasser mag dort versickert sein? Wie lange mochte der Andere da schon leben? Wie viele lebten dort noch? Lämmel ignorierte den einstechenden Schmerz im Kreuzband, schluckte und überwand sich: Er maß nach und zog die Hand schnell zurück. Seine Vermutung bestätigte sich. Die Leiste hatte eine Stärke von einem Zentimeter. Lämmel lehnte sich an den gegenüberliegenden Unterbaukühlschrank, atmete tief durch...