E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Piglia Munk
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8031-4178-1
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4178-1
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ricardo Piglia wurde 1940 in Adrogué nahe Buenos Aires geboren. In Argentinien gilt er längst als moderner Klassiker - seine Romane erscheinen auf Deutsch bei Wagenbach: Künstliche Atmung, Falscher Name, Brennender Zaster, Ins Weiße zielen, außerdem die Erzählsammlung Der Goldschmied. 2011 erhielt Piglia den Premio Rómulo Gallegos, einen der höchstdotierten Literaturpreise der spanischsprachigen Welt.
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I. Der Unfall
Erstes Kapitel
1
Damals lebte ich mehr als ein Leben, bewegte mich in parallelen Welten: Es gab die Freunde, die Liebe, den Alkohol, die Politik, die Hunde, die Bars, die nächtlichen Spaziergänge. Ich schrieb Drehbücher, die keiner verfilmte, übersetzte die immer gleichen Kriminalromane, bearbeitete trockene philosophische (oder psychoanalytische!) Werke, unter die andere ihren Namen setzten. Ich fühlte mich verloren, vereinsamt, bis ich plötzlich an einer nordamerikanischen Universität landete und in eine Geschichte hineingezogen wurde, von der ich hier erzählen möchte.
Ich erhielt das Angebot, ein Semester als visiting professor an der elitären Taylor University zu unterrichten; ein Kandidat war abgesprungen, und weil sie mich von früher kannten und sich an mich erinnerten, schrieben sie mir. Wir einigten uns, machten einen Termin aus, aber mir kamen Zweifel, und ich schob meine Abreise immer wieder hinaus. Ich hatte keine Lust, ein halbes Jahr am Ende der Welt zu vergeuden. Etwas später, Mitte Dezember, erhielt ich eine Mail von Ida Brown, verfasst in der Syntax alter Telegramme: Alles geregelt. Bitte senden Sie den Seminarplan. Erwarten Ihre Ankunft. An dem Abend herrschte eine fürchterliche Hitze, ich nahm eine kalte Dusche, holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und machte es mir im Sessel vor dem Fenster bequem; die Stadt glich einer opaken Masse aus fernen Lichtern und disharmonischen Klängen.
Ich lebte getrennt von meiner zweiten Frau und wohnte in einer Wohnung in Almagro, die mir ein Freund für eine Weile überlassen hatte. Ich hatte derart lange nichts veröffentlicht, dass eine blonde Frau, die ich eines Abends am Ausgang eines Kinos unter irgendeinem Vorwand ansprach, völlig verblüfft reagierte, als sie erfuhr, wer ich war. Sie hatte geglaubt, ich sei tot. (»Oh, man hat mir erzählt, Sie wären in Barcelona gestorben.«)
Eine Zeitlang hielt ich mich mit der Arbeit an einem Buch über W. H. Hudsons Zeit in Argentinien über Wasser, aber das Projekt kam nicht voran; ich war erschöpft, lustlos, und ein paar Wochen tat ich überhaupt nichts, bis mich eines Morgens Ida Brown anrief. Wo ich steckte? In einem Monat begännen die Vorlesungen, ich müsse sofort aufbrechen. Alle warteten auf mich, übertrieb sie.
Ich gab dem Freund die Wohnungsschlüssel zurück, verstaute meine Sachen in einem Möbellager und reiste ab. Nach einer Woche in New York fuhr ich Mitte Januar mit einem Zug der New Jersey Transit in den ruhigen Vorort mit der Universität. Natürlich suchte ich Ida bei meiner Ankunft vergebens, aber immerhin hatte sie zwei Studenten geschickt, die mich auf dem Bahnsteig erwarteten, mit einem Schild, auf dem in roten Buchstaben mein falsch geschriebener Name stand.
Es hatte geschneit, und der Parkplatz glich einer weißen Wüste, mit Autos, die im eisigen Nebel versunken waren. Ich stieg in den Wagen, und im Schritttempo bewegten wir uns mitten am Nachmittag durch das gelbliche Licht der hohen Laternen. Wir hielten vor einem Haus in der Markham Road, unweit des Campus. Die Universität hatte es von einem Philosophieprofessor für mich gemietet, der gerade sein sabbatical in Deutschland verbrachte. Die beiden Studenten, Mike und John III. (ich sollte ihnen später in meinem Seminar wiederbegegnen), halfen mir still und fleißig beim Ausladen des Gepäcks, gaben mir ein paar praktische Tipps und zeigten mir, nachdem sie das Garagentor geöffnet hatten, den in der Miete enthaltenen Toyota von Professor Hubert. Zum Schluss erklärten sie mir noch, wie die Heizung funktionierte, und notierten mir eine Telefonnummer für den Fall, dass ich erfrieren sollte (»Zur Not rufen Sie einfach Public Safety an«).
Der Ort war herrlich und schien, obwohl New York gerade einmal sechzig Kilometer entfernt lag, nicht von dieser Welt zu sein. Villen mit riesigen Fenstern und großzügigen offenen Vorgärten, baumgesäumte Straßen, absolute Stille. Wie eine luxuriöse Nervenklinik, genau das, was ich im Moment brauchte. Nirgends ein Zaun, ein Wachhäuschen oder eine Mauer. Die Verteidigungsanlagen waren anderer Art. Die Gefahren des Lebens schienen weit entfernt, hinter den Wäldern und Seen, in Trenton, in New Brunswick, in den ausgebrannten Häusern und Ghettos von New Jersey.
Am ersten Abend blieb ich lange wach, besichtigte die Zimmer und betrachtete die Gärten im Mondlicht. Das Haus war gemütlich, aber dass ich wieder einmal in den Räumen eines anderen wohnte, rief erneut dieses seltsame Gefühl von Verlorenheit in mir hervor. Die Bilder an den Wänden, der Nippes auf dem Kaminsims, die akkurat in Plastikbeuteln verstaute Kleidung, all das gab mir das Gefühl, weniger ein Eindringling als ein Voyeur zu sein. Die Wände des Arbeitszimmers in der oberen Etage waren von oben bis unten mit Philosophiebüchern bedeckt, und als ich die Bibliothek betrachtete, kam mir der Gedanke, die Bände könnten aus demselben dichten Stoff gemacht sein, der mir stets erlaubt hat, mich von der Gegenwart abzuschotten und vor der Wirklichkeit zu fliehen.
In den Küchenschränken fand ich mexikanische Soßen, exotische Gewürze, Gläser mit getrockneten Pilzen und Tomaten, Büchsen mit Speiseöl und Marmeladengläser, als hätte sich jemand auf eine lange Belagerung vorbereitet. Konservendosen und Philosophiebücher, was konnte man sich mehr wünschen? Ich machte mir eine Campbell-Tomatensuppe warm, öffnete eine Büchse Sardinen, toastete ein paar Scheiben tiefgefrorenes Brot und entkorkte eine Flasche Chenin Blanc. Später kochte ich mir einen Kaffee, machte es mir auf dem Wohnzimmersofa bequem und schaltete den Fernseher ein. Wie immer, wenn ich an einem neuen Ort bin. Fernsehen ist überall gleich, die einzige Realität, die alle Veränderungen überdauert. Auf ESPN schlugen die Lakers die Celtics, in den News stellte Bill Clinton sein freundliches Lächeln zur Schau, in einer Honda-Werbung versank ein Auto im Meer, und auf HBQ lief Possessed von Curtis Bernhardt, einer meiner Lieblingsfilme. Joan Crawford lief mitten in der Nacht durch einen Stadtteil von Los Angeles. Ohne eine Vorstellung, wer sie war, ohne eine Erinnerung an ihr früheres Leben, irrte sie durch die seltsam beleuchteten Straßen wie durch ein leeres Aquarium.
Ich musste eingeschlafen sein, denn das Läuten des Telefons weckte mich. Es war kurz vor Mitternacht. Jemand, der meinen Namen kannte und mich beharrlich mit Professor anredete, bot mir Kokain an. Das alles war so ungewöhnlich, dass es wahr sein musste. Verwirrt legte ich auf. Entweder war es ein Witzbold, ein Spinner oder ein DEAAgent, der das Privatleben der Ivy-League-Akademiker überprüfte. Woher kannte er meinen Namen?
Ehrlich gesagt, machte mich der Anruf ziemlich nervös. Ich leide unter leichten Panikattacken. Nicht mehr als jeder andere. Ich stellte mir vor, von draußen beobachtet zu werden, und löschte das Licht. Garten und Straße lagen im Dunkeln, die Blätter der Bäume bewegten sich im Wind; nebenan, hinter dem Holzzaun, sah man das hellerleuchtete Nachbarhaus und im Wohnzimmer eine schmächtige Frau im Jogginganzug, die mit langsamen, harmonischen Bewegungen, als schwebte sie durch die Nacht, Tai-ChiÜbungen machte.
2
Am nächsten Morgen fuhr ich zur Universität, stellte mich den Sekretärinnen und einigen Kollegen vor, erwähnte jedoch mit keinem Wort den seltsamen nächtlichen Anruf. Ich ließ Passfotos von mir machen, unterschrieb Formulare, erhielt einen Bibliotheksausweis und bezog ein sonniges Büro im dritten Stock des Fachbereichs, das auf die Kieswege und gotischen Gebäude des Campus hinausging. Das Semester begann, die Studenten trafen mit ihren Rucksäcken und Rollkoffern ein. Auf dem eisigen Weiß der breiten, von der Januarsonne beschienenen Wege herrschte reges Treiben.
Ich traf Ida Brown in der Professorenlounge, und wir gingen gemeinsam im Ferry House essen. Wir kannten uns von meinem ersten Aufenthalt vor drei Jahren, aber während es mit mir beständig bergab gegangen war, hatte sich ihre Situation deutlich verbessert. Sie wirkte vornehm in ihrem eleganten Cordblazer, mit ihren karmesinrot geschminkten Lippen, dem schlanken Körper und dieser leicht bissigen, sarkastischen Art. (»Willkommen auf dem Friedhof der sterbenden Schriftsteller.«)
Ida war eine Art Star der akademischen Welt, ihre Dissertation über Dickens hatte die Forschung über den Autor von Oliver Twist über zwanzig Jahre lang zum Erliegen gebracht. Ihr Gehalt glich einem Staatsgeheimnis, man munkelte, es würde alle sechs Monate angehoben, und ihre einzige Bedingung sei, dass sie hundert Dollar mehr verdiente als der bestbezahlte männliche Kollege (sie benutzte ein anderes Wort). Sie lebte allein, hatte nie geheiratet, wollte keine Kinder und war stets von einer Schar Studenten umringt. Nachts konnte man zu jeder Uhrzeit Licht in ihrem Büro brennen sehen und sich das leise Brummen ihres Computers vorstellen, auf dem sie ihre explosiven Thesen zu Politik und Kultur verfasste. Und auch ihr verstohlenes Lächeln bei dem Gedanken, welchen Skandal ihre neuesten Thesen unter den Kollegen hervorrufen würden, konnte man erahnen. Es hieß, sie sei ein Snob, der alle fünf Jahre eine neue Theorie vertrete, und jedes Buch von ihr sei anders, weil es...