Pierce | Die Leben danach | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Pierce Die Leben danach

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8321-8450-6
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8450-6
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jim Byrd lebt in Shula, einer vergreisten Kleinstadt in den Südstaaten. Er ist Kreditberater, ein absoluter Durchschnittstyp. Bis eines Tages sein Herz stehen bleibt. Er ist tot – wenn auch nur für ein paar Minuten. Das ist allemal Grund zur Beunruhigung. Was Jim aber vor allem beschäftigt, ist, dass er in diesen wenigen Momenten keinerlei Nahtoderfahrung gemacht hat. Er erinnert sich nur an eines: das totale Nichts. So wird ihm ein Gerät, das ihm zur Überwachung seiner Herzaktivität implantiert wird, zur Obsession. Und er kann nicht aufhören sich zu fragen: Was ist es, was uns nach dem Tod erwartet? Die Suche nach Antworten erschüttert seinen Glauben an alles, was ihn umgibt: die Realität selbst.

Doch als Annie, seine alte Highschool-Liebe, wieder in sein Leben tritt, muss Jim sich ganz anderen Herausforderungen stellen. Jenseits hin oder her, wenn er mit Annie zusammen sein will, muss er das Leben im Hier und Jetzt bei den Hörnern packen.
Thomas Pierce legt mit ›Die Leben danach‹ eine berührende Liebesgeschichte und gleichzeitig einen klugen, philosophischen Roman vor: ein Buch, das vom Tod handelt und voller Wärme und Humor vom Leben erzählt.

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  Ein paar Kilometer außerhalb Shulas an einem Berg-Highway mit Blick auf unsere Stadt befindet sich der schönste Aussichtspunkt in den Blue Ridge Mountains, und das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die diverser Aussichtspunkt-Websites und von der Handelskammer finanzierter Hochglanzmagazine. Dieser Ort mit Panoramablick ist ein beliebtes Ausflugsziel, vor allem im Herbst, wenn die Blätter der Bäume sich verfärben, und es kann schwierig werden, einen Parkplatz zu finden. Aus einer Laune heraus hatten Annie und ich eines Samstagmorgens einen halben Liter Orangensaft und eine billige Flasche Champagner im Supermarkt gekauft und waren da hochgefahren, um unser Einjähriges zu feiern. Erst als wir aus dem Auto stiegen, bemerkten wir, dass wir die Gläser vergessen hatten. Ich schlug vor, zurück zur Tankstelle zu fahren, also den Highway wieder hinunter, aber Annie ließ den Champagnerkorken knallen, trank einen Schluck aus der Flasche und spülte mit O-Saft nach. »Geht doch auch«, sagte sie. Wir ließen den Schampus und den O-Saft hin- und hergehen und widmeten uns der Aussicht. Ein paar Weißhaarige, die mit ihren Kamerahandys neben ihren Autos standen, warfen uns missbilligende Blicke zu. Die Männer trugen knielange Shorts und pastellfarbene Polohemden. Die Frauen waren in Sweatshirts und Trekkinghosen gekleidet, und ihre getönten Haare strahlten beinahe so stark wie die Blätter der Bäume in glänzendem Braun, gebranntem Siena, Kirschrot und Platinblond. »Wir feiern«, rief ich ihnen zu. Sie taten, als würden sie mich nicht hören. »Dir ist aber schon egal, was die denken, oder?«, fragte mich Annie. »Na ja, ich glaube nicht, dass wir hier oben trinken dürfen.« Annie lachte. »Du machst Witze, oder? Oh mein Gott, du meinst es ernst.« Sie hakte sich bei mir unter. »Süßer, du musst dich mal locker machen.« Wir hatten nur ein paar Monate nach unserer Wiederbegegnung im Restaurant geheiratet. Einige Leute sagten, dass wir die Dinge überstürzen würden, aber das kümmerte uns nicht. Wir wollten zusammen sein. Wir mussten. Wenn ich nicht in ihrer Nähe war, fühlte ich mich halbiert, unvollständig. Erst jetzt, da wir ein Paar waren, begriff ich wirklich, wie einsam ich zuvor gewesen war. Die Einsamkeit war wie ein großes schwarzes Loch, das mich zu verschlingen drohte, und es war Annies Hand – schlank und sanft –, die mich daran hinderte, wieder darin zu verschwinden. Statt eine große traditionelle Hochzeitszeremonie zu veranstalten – schließlich war es ihre zweite –, hatten wir uns das Jawort im Büro des Sheriffs gegeben, das sich im Gerichtsgebäude befand. Neben dem Sheriff waren lediglich Fisher und unsere Eltern anwesend. Zur Feier unserer Hochzeit waren wir für ein langes Wochenende in die Dominikanische Republik geflogen, in ein Strand-Resort, wo sie uns jeden Morgen das Frühstück auf einem Tablett an unseren Bungalow gebracht hatten. Ich verscherbelte meine baufällige Hütte auf dem Land, und wir kauften uns ein zweistöckiges Haus im Kolonialstil, das fußläufig zu dem ihrer Eltern lag. Das Viertel war relativ neu – zwei Häuserreihen auf der nach Südosten gerichteten Seite des Hügels. Unser Garten war teilweise überwuchert, voller Rhododendron und Berglorbeer, der Boden steinig und von Wurzeln durchzogen. Am Fuß unserer Auffahrt befand sich ein kleiner, steinerner Zierteich, allerdings hatten nach unserem dritten Monat hier die Falken alle Fische aufgefressen, und ich hatte mich noch nicht darum gekümmert, den Bestand wieder zu erneuern. Wir hatten uns für dieses Viertel entschieden, damit Fisher nach der Schule ihre Großeltern besuchen konnte, auch wenn sie diese Möglichkeit so gut wie nie wahrnahm. Sie bevorzugte die Einsamkeit ihres Zimmers – ihre postapokalyptischen Teenagerromane, ihre Kristallzucht-Sets, ihren neuen E-Bass. Natürlich hatten wir ihr dieses Instrument nicht empfohlen, denn welche Eltern würden ihrem Kind schon einen E-Bass empfehlen statt einer Gitarre oder Geige? Anfangs befürchtete ich, dass ihre Instrumentenwahl auf ein Charakterdefizit hindeuten würde – einen Mangel an Selbstbewusstsein, einen Minderwertigkeitskomplex –, aber als wir sie fragten, warum sie sich ausgerechnet für den Bass entschieden hatte, erklärte sie, dass ihre neue beste Freundin, ein Mädchen namens C-Mac (das Annie und ich nicht sonderlich mochten), schon Gitarre spielte und sie eine Girlband gründen würden, was mir plausibel erschien. Ich kaufte ihr eine Fender. Annie hatte sich in ihrem neuen Job als PR-Beauftragte – und Interims-Regisseurin – im Thrill Arts! eingewöhnt, einem kleinen, aber ambitionierten Theater in Shula. Für sechs Wochen im Jahr drehte sich ihr Leben um nichts als Proben, und für den Rest der Zeit brütete sie (ihre Worte) Kunst-Programme für Obdachlosenheime und Gefängnisse aus. Ihr erster Kurs war ein Drehbuch-Workshop für sich größtenteils gut benehmende Insassen einer Strafvollzugsanstalt fünfundvierzig Minuten außerhalb der Stadt. Annie war für einen solchen Job in vielerlei Hinsicht perfekt geeignet. Sie war alles andere als eine zurückhaltende oder unterwürfige Frau. Ihre Mutter bezeichnete sie oft als »unverfroren« und meinte das nicht immer liebevoll. Es stimmte, zuweilen konnte Annie laut und herrschsüchtig sein. Und auch brutal ehrlich. Ich habe mal mitbekommen, wie sie einer Freundin am Telefon geraten hat, einen Typen zu verlassen, weil der sich, wenn er eine Trivial-Pursuit-Frage nicht beantworten konnte, auf eine Art aufführte, die ihrer Ansicht nach stark darauf hindeutete, dass er nicht nur ein Idiot, sondern auch ein schlechter Verlierer war. Wenn Annie sich über irgendwas eine Meinung gebildet hatte, wich sie selten davon ab. Aber sie war auch aufmerksam und geduldig und lebte nach einer sehr einfachen Maxime – allen Menschen fair und mit Mitgefühl zu begegnen. Und so fuhr sie zweimal die Woche ins Gefängnis und half Gefangenen durch ihre Schreibkrisen und organisierte Gruppenlesungen von Einaktern. Die Weißhaarigen waren grundsätzlich große Unterstützer der Künste, aber wenn es ums Theater ging, gelüstete es sie nach der üblichen Kost – irgendwie schalen, aber ambitionierten Aufführungen von Unsere kleine Stadt, Rent, My Fair Lady und Oklahoma! (oder jedem anderen Stück, dessen Titel mit einem Ausrufezeichen endet) –, aber Annie war wild entschlossen, diesen Trend zu bekämpfen und herausforderndere und kontroversere Werke aufzuführen. Das erste Stück, bei dem sie Regie führte, wählte sie aus als Reaktion auf das, was in den Nachrichten gemeldet wurde. Als das Parlament des Bundesstaates ein neues Anti-Abtreibungsgesetz vorstellte, beschloss Annie ein Stück namens Himmelsschreiber zu machen, bei dem es sich trotz seines kitschigen Titels um ein mutiges Drama über ein Mädchen handelt, das von einem Cousin zweiten Grades vergewaltigt worden ist und nun entscheiden muss, ob es eine Abtreibung machen soll oder nicht. Das Mädchen durchlebt beide Szenarien, die abwechselnd dargestellt werden, und natürlich ist das Leben, in dem sie das Kind behält, sehr viel schwieriger und erniedrigender für alle Beteiligten, inklusive des Babys. Die politische Position des Stücks war klar erkennbar, auch wenn es für sehr viel weniger Kontroversen sorgte, als Annie gehofft hatte. Der Zuspruch war gering, und die Lokalzeitung ging nicht mal auf die Tatsache ein, dass Annie das Stück als direkte Provokation gegen den Gesetzgeber gewählt hatte. Annie war enttäuscht. Kurz davor, die Bühne zu stürmen und sich selbst anzuzünden, fragte sie sich, wie sie die Leute dazu animieren konnte, sich für Theater und Politik zu interessieren. So wie sie es sah, bestand ihr Job darin, eine Welt zu verbessern, die nicht unbedingt verbessert werden wollte. Das erste Jahr unserer Ehe war ein fröhliches Chaos: neues Bettzeug, Malertruppen, Bass-Stunden, gemeinsame Terminpläne. Es galt auf Meetings zu erscheinen, Lebensmitteleinkäufe zu erledigen, E-Mails zu beantworten, E-Mails zu ignorieren. Es gab eine Reise nach Atlanta zur Hochzeit eines Freundes, einen Tag auf dem See in einem Motorboot mit Freunden, einen Nachmittag im Krankenhaus mit meiner Mutter, als sie auf ihre Biopsie wartete, einen Ausflug ins Outlet-Center, um drei Paar Khakihosen in leicht variierenden Farbtönen zu kaufen. Es gab Bronchitis, dann eine Magen-Darm-Grippe, einen Termin beim Arzt, ein Wochenende Bettruhe, eine Runde Probiotika, Aufs und Abs. Es galt verschiedene Aspekte der Körperpflege zu berücksichtigen: Nägel zu schneiden, Zähne zu putzen, Gewicht zu verlieren, Bauchmuskeln zu definieren, hinzu kamen neue Vorsätze, Diäten, Tabletten mit merkwürdigen Nebenwirkungen, Shampoos, die dichteres und glänzenderes Haar versprachen. Es gab einige Premieren: die erste Nutella-Bananen-Waffel (Fishers Lieblingsessen), das erste Mal Traktorschleppen, Cocktails mit getwisteter Orangenschale und holografisch wirbelnde Derwische, die durch einen alten, zur Kirche umfunktionierten Freimaurertempel wirbelten. Der Alltag war der Besen, der alle Bedenken oder Fragen wegfegte, die zu groß oder zu beunruhigend waren. Ich vergrub mich in der Routine unseres gemeinsamen Lebens, in ihre zahlreichen wundervollen und dummen Pflichten und Ablenkungen. Wir waren dankbar, einander gefunden zu haben. Wir sagten uns das immer wieder aufs Neue. Wieder mit Annie zusammenzukommen hatte meinem Leben – also der Geschichte meines Lebens – eine angenehme Symmetrie gegeben. Mir ist jedoch bewusst, dass das Leben diese Art von Geradlinigkeit weder braucht noch begünstigt, dass es in...


Hanekamp, Tino
Tino Hanekamp ist Autor und Übersetzer. Er arbeitete jahrelang als Musikjournalist und ist Mitbegründer des Hamburger Musikclubs Uebel & Gefährlich. 2011 erschien sein Roman ›So was von da‹. Aus dem Englischen übersetzte er u.a. Texte von Eve Babitz und Bobette Buster.

Pierce, Thomas
Thomas Pierce veröffentlichte 2016 mit dem Erzählband ›Hall of Small Mammals‹ sein Debüt und wurde dafür im selben Jahr von der National Book Foundation in die Liste der »5 under 35« aufgenommen. Seine Texte erschienen u. a. in The New Yorker, The Atlantic und dem National Geographic Magazine. Er wuchs in South Carolina auf und lebt mit seiner Familie in Charlottesville, Virginia.



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