E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Piñeiro Wer nicht?
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-293-31048-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-293-31048-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein einsamer Vater rollt seit der Scheidung seinen Schlafsack jede Nacht in einer anderen Wohnung aus. Eine Witwe findet mit einem zweiten Koffer auch das zweite Leben ihres verstorbenen Mannes. Eine Ehefrau spürt das beruhigende Gewicht des Revolvers in ihrer Handtasche. Eine Mutter schleicht mit ihren Kindern zum Lachen auf den Dachboden.
Was tun wir, wenn wir vor einem Abgrund stehen? Wann verlieren wir die Kontrolle? Sind wir wirklich die, die wir glauben zu sein? Geschichten über Beziehungen, Geheimnisse und unwiderrufliche Entscheidungen, über gewöhnlich seltsame Menschen, denen das Leben eine Falle stellt.
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Bei Papa
Wäre heute kein besonderer Tag, würde Julián einfach einen Schlüsselbund aus dem Kasten im Maklerbüro nehmen, den Kasten abschließen, das Rollo runterlassen, das Licht ausschalten und rausgehen. So wie jeden Abend, seit er sich vor fünf Monaten von Silvia getrennt hat. Bei sich hätte er bloß die Sporttasche von dem Verein Estudiantes de La Plata, angeblich, um zum Training zu gehen – in Wirklichkeit stecken seine nötigsten paar Sachen darin. Aber heute hat sein Sohn Tomás Geburtstag, und Silvia hat verfügt, dass sein Großer aus diesem Anlass zum ersten Mal seit der Trennung bei ihm übernachten soll. Genauer gesagt werden beide Kinder bei ihm übernachten, Tomás und Anita. Da hat Silvia nicht mit sich reden lassen. Und ihm ist anders als sonst keine Ausrede eingefallen, um das Thema seiner neuen Adresse zu umschiffen. Selbst die Tatsache, dass Silvia, und nicht er, die Ehe seinerzeit für beendet erklärt hatte – bislang bei allen Auseinandersetzungen ein argumentativer Vorteil –, schien auf einmal bedeutungslos. Seit sie eines Tages zu ihm gesagt hatte, »ich möchte, dass du gehst«, drehte er sich orientierungslos im Kreis, unfähig zu begreifen, warum auf einmal aufgelöst werden sollte, was sie fünfzehn Jahre lang gemeinsam aufgebaut hatten. Hatten sie es gemeinsam aufgebaut? Und was genau hatten sie aufgebaut? Er wusste keine Antwort. Er begreift es bis heute nicht, dafür hat er die Hoffnung nicht aufgegeben, Silvias Gründe für den Hinauswurf könnten sich irgendwann von selbst erledigen. Egal was, selbst wenn ein anderer Mann der Grund war. Eben deshalb hat Julián die Wohnungsfrage bis heute nicht gelöst. Auch fünf Monate nach ihrer Trennung hat er nicht das Gefühl, getrennt zu sein. Ja, er war sogar davon ausgegangen, dass sie Tomás’ Geburtstag zusammen feiern würden, er, Silvia und die Kinder, zu Hause, in ihrem gemeinsamen Zuhause. Er hatte sich gesagt, dass das die ideale Gelegenheit sein würde, um wieder zusammenzufinden. Silvia schien sich jedoch genau das Gegenteil gesagt zu haben. Was sie auch unmissverständlich zum Ausdruck brachte, in Anwesenheit der Kinder und bevor er sich selbst dazu äußern konnte. Wahrscheinlich wollte sie ihm keine andere Wahl lassen: »Heute schlaft ihr bei Papa.« Sie wusste ja nicht, dass es so was wie »bei Papa« nicht gibt. Dass er vielmehr Abend für Abend einen Schlüsselbund aus dem Kasten im Maklerbüro nimmt, um anschließend in ständig wechselnden Wohnungen seinen Schlafsack auszurollen. Den Schlüsselkasten hat er vor Jahren selbst eingeführt, kurz nachdem er im Maklerbüro Rosetti zu arbeiten angefangen hatte. Damals hatte es bloß zwei Schachteln gegeben, eine für die Schlüssel von Mietwohnungen, die andere für die von Wohnungen, die zu verkaufen waren. Jeder Schlüsselbund war mit einem durchsichtigen Plastikanhänger mit dem Logo des Maklerbüros versehen. Durch einen kleinen Schlitz konnte man einen Zettel mit der Adresse der dazugehörigen Wohnung in den Anhänger schieben. Julián fand das nicht nur unpraktisch, sondern auch riskant. Wie unpraktisch es war, zeigte sich, wenn ein Mitarbeiter wieder einmal eine halbe Ewigkeit brauchte, bis er, oft unter den erstaunten und genervten Blicken der Kundschaft, den gesuchten Schlüssel in dem Durcheinander der jeweiligen Schachtel gefunden hatte. Endgültig überzeugte Julián den Besitzer des Maklerbüros aber, indem er ihm ausmalte, was alles passieren konnte, falls ein so ausgestatteter Schlüsselbund verloren ging und in falsche Hände geriet. »Herr Rosetti, heutzutage kann man doch nicht mehr mit einem Schlüsselbund mit der Adresse dran auf der Straße rumlaufen, die Zeiten sind vorbei«, hatte er mit seinen gerade fünfundzwanzig Jahren verkündet. Um einiges anmaßender und selbstbewusster als der unsichere Mann, der er heute, zwanzig Jahre danach, ist, obwohl der Besitzer sich inzwischen zurückgezogen und die Leitung des Familienunternehmens – »ich vertraue Ihnen blind« – in seine Hände gelegt hat. Rosetti hatte seinerzeit den Vorschlag des vom altgedienten Rest der Angestellten argwöhnisch und eifersüchtig beäugten jungen Neuankömmlings angenommen und die angestammte Aufbewahrungsmethode aufgegeben, weil Julián einfach recht hatte. Die Anfertigung folgte Juliáns Entwurf – ein Hängeschrank mit Glastür, der im Inneren mit Haken ausgestattet war. Verkaufsobjekte bekamen rote, Mietobjekte blaue Anhänger. Außerdem wurden die Schlüsselbünde mit wasserfestem Marker nummeriert. Zu jeder Nummer existierte eine Akte mit Adresse und Details der dazugehörigen Immobilie. Mithilfe dieses Kastens hat Julián in den vergangenen fünf Monaten seine Schlafplätze ausgewählt. Dabei hat er sich bemüht, nie zweimal nacheinander denselben Ort und möglichst auch nicht dasselbe Viertel aufzusuchen. Um sich gar nicht erst mit einem davon anzufreunden, schließlich ist er nur auf Durchreise, auf dem Weg zurück nach Hause. Vorläufig wird daraus aber offenbar nichts. Und auch wenn sich das später noch ändern könnte – heute ist erst einmal Tomás’ Geburtstag, und seine beiden Kinder werden bei ihm übernachten. Darum kann er jetzt beim Verlassen des Büros nicht irgendeinen Schlüsselbund auswählen. Er kann durchaus auf dem Boden eines völlig leeren Zimmers schlafen, aber nicht die Kinder. Die zur Verfügung stehenden möblierten Wohnungen hat man in aller Eile hergerichtet, um eine unangemessen hohe Miete kassieren zu können. Sie wirken alles andere als gemütlich. Die zum Verkauf stehenden Wohnungen sind dagegen zum größten Teil leer. Einzig die Wohnung in der Calle República de la India entspricht halbwegs dem, was Julián heute Nacht braucht, also entscheidet er sich für sie. Diese Wohnung wird schon seit drei Jahren angeboten, allerdings zu einem überdurchschnittlich hohen Preis, als wollten die Besitzer gar nicht verkaufen. Sie enthält ein paar wenige durchaus geschmackvolle Möbel, die abgeholt werden sollen, sobald ein konkretes Kaufangebot vorliegt. Von dem, was diesen Ort einst zu einem »Heim« gemacht hat, ist zwar nicht viel übrig, aber doch immerhin genug, um als »bei Papa« durchgehen zu können. Wäre heute kein besonderer Tag, würde George Mac Laughlin seinen möglicherweise letzten Aufenthalt in Buenos Aires nutzen, um in der Bar in der Calle San Martín einen Whisky zu trinken, so wie früher immer, aber das ist schon sehr lange her. Abend für Abend ließ er sich dort, bevor er vom Büro nach Hause zurückkehrte, auf einem Hocker an der Theke nieder. Und ohne dass er ein Wort zu sagen brauchte, stellte der Kellner ein Glas schottischen Whisky mit Eis vor ihm ab. Dieses Ritual hatte er sich angewöhnt, als er noch Junior-Finanzmanager bei dem Getreidekonzern war, und es nach seinem Aufstieg zum Generaldirektor beibehalten. Später kam die Versetzung nach London. Sonia, seine Frau, konnte sich mit der Idee nicht anfreunden. Also lebten er und seine Familie fortan immer wieder monatelang voneinander getrennt, er in London, die anderen in Buenos Aires. Eine Geliebte. Zwei, drei. Schließlich lernte er Barbra kennen, verliebte sich in sie, und als sie schwanger war, beschloss er, in England eine neue Familie zu gründen und seine argentinische Familie hinter sich zu lassen – seine Frau, von der er sich längst entfremdet hatte, und seinen Sohn Charlie, der sich alle Mühe gab, jedes Mal gerade dann nicht in Buenos Aires zu sein, wenn er zu Besuch kam. Barbra hatte nach fünf Monaten eine Fehlgeburt. Noch einmal ein Kind zu bekommen, versuchten sie nicht, trotzdem hatte ihre Beziehung Bestand. Jahrelang versuchte George, den Kontakt zu Charlie aufrechtzuerhalten, anfangs flog er jeden Monat nach Argentinien, dann alle drei Monate, später einmal im Halbjahr. Er nahm ihn nach London mit, damit er die Ferien bei ihnen verbrachte. Oder hätte ihn gerne mitgenommen. Natürlich überwies er auch stets pünktlich die vereinbarten Unterhaltszahlungen, oder auch mehr, wenn Charlie oder seine Mutter darum baten. Darum fällt es ihm auch immer noch schwer, zu begreifen, was er so falsch gemacht haben soll, dass die Beziehung zu seinem Sohn nie funktioniert hat. »Was? Du hast einfach alles falsch gemacht, Papa«, hat sein Sohn gesagt, als sie sich vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen haben. »Außerdem heiße ich nicht Charlie, nur du nennst mich so, ich heiße Carlos.« Anschließend trafen noch mehrere E-Mails voller Vorwürfe ein, danach Schweigen. Bis er plötzlich mit der Post die Hochzeitsankündigung seines Sohnes erhielt, knapp einen Monat vor dem Termin. Carlos Mac Laughlin würde eine Frau heiraten, deren Namen er nie gehört hatte, in einer katholischen Kirche, obwohl sie keine Katholiken sind. Oder es jedenfalls nicht waren. Er zumindest ist bis heute kein Katholik. Was Charlie – oder Carlos – angeht, kann er dazu nichts sagen, er weiß zum jetzigen Zeitpunkt ja weder, welchem Glauben sein Sohn anhängt noch wer die Frau ist, in die er sich verliebt hat. Auf seine schüchterne Anfrage, ob es ein Fest geben werde und ob er einen Beitrag dazu leisten könne, hieß es bloß: »Es gibt ein Fest, aber du bist nicht eingeladen. Du kannst aber meinetwegen zur kirchlichen Trauung kommen.« Dazu eine Kontonummer, für »Hochzeitsgeschenke«. Er ist also gekommen und war gerade in der Kirche. Von einer der hintersten Bänke aus hat er beobachtet, wie sein Sohn in Erwartung der Braut am Altar stand. Ein paar wenige Leute haben ihn erkannt. Sie haben ihn zurückhaltend begrüßt, als wüssten sie Dinge, die er nicht weiß. Den Großteil der Menschen um sich herum kannte er nicht. Sonia hat kaum Verwandte, und von den wenigen Verwandten, die ihm hier geblieben sind, war offenbar...