E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Piñeiro Ein wenig Glück
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30942-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-293-30942-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Bahnübergang, eine heruntergelassene Schranke, ein blinkendes rotes Licht und kein Zug. Drei, fünf, acht Minuten … und kein Zug. Mary Lohan hat ihren sechsjährigen Sohn, Federico, und Juan, seinen Schulfreund, im Auto. Sie wollen ins Kino. Ihr Auto ist das dritte in der Warteschlange. Der erste Wagen umfährt die Schranke und überquert die Gleise, der zweite ebenso. Die Kinder singen vergnügt, der Filmbeginn rückt näher, und kein Zug ist in Sicht. Also los, auch sie wird es wagen. Die Schranke ist schon lange ein Ärgernis. Ob ein Zug überhaupt kommt, ist ungewiss.
Zwanzig Jahre nach der Katastrophe kehrt Mary zurück in die Vergangenheit, aus der sie geflohen ist.
Zwischen herbeigesehnten Begegnungen und erschütternden Enthüllungen begreift sie endlich, dass ihre Rückkehr vielleicht so etwas wie ein wenig Glück bedeutet.
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Ich hätte Nein sagen sollen, dass es nicht geht, dass ich nicht wegkann. Irgendwas sagen, egal was. Aber das habe ich nicht getan. Immer wieder habe ich mir die Gründe aufgezählt, warum ich mich, anstatt Nein zu sagen, am Ende doch bereit erklärt habe. Der Abgrund zieht uns an. Manchmal ohne dass wir es merken. Wie ein Magnet. Dann treten wir an den Rand, blicken in die Tiefe – und könnten springen. Ich bin so jemand. Ich könnte vortreten, mich in die Tiefe stürzen, in die Leere, ins Nichts fallen lassen, nur um – endlich – frei zu sein. Obwohl diese Freiheit zu nichts gut ist, weil danach nichts kommt. Eine Freiheit nur für den Moment des Fallens. Es fällt mir schwer, Nein zu sagen, aber womöglich habe ich mich nicht nur deshalb bereit erklärt. Womöglich habe ich auch deshalb zugesagt, weil ich es im Grunde wollte. In meinem tiefsten Inneren, in das ich selbst nicht hineinblicken kann, wollte ich es. Vielleicht habe ich sogar die ganze Zeit darauf gewartet. Der Abgrund in mir. Neunzehn Jahre. Fast zwanzig. Die ganzen Jahre habe ich darauf gewartet, dass etwas, jemand, eine unwiderstehliche Kraft, ein unausweichlicher Umstand mich zwingen würde, zurückzukehren. Denn die Entscheidung selbst treffen, das hätte ich nicht gekonnt. Das Schicksal oder der Zufall ja, ich nicht. Zurückkehren. Aber nicht nur in mein Land zurückkehren, nach Argentinien, nicht nur in die Stadt, in der ich gelebt habe, Temperley, sondern auch ins St. Peter’s College. Als würde ich ins Innere einer Matroschka vordringen, zu der darin verborgenen kleinen Welt: in ein englisches College im Süden von Buenos Aires, das ich gleichermaßen geliebt und gehasst habe. Das St. Peter’s College. Noch immer kostet es mich Überwindung, den Namen auszusprechen, selbst in Gedanken. Ich weiß, dass der, um den es geht, nicht mehr dort sein wird. Aber dafür vielleicht jemand, den ich kenne oder der mich kennt. Oder ihn. Der uns kannte, als ich noch dort gelebt habe. Ein wenig beruhigt es mich, dass ich dank einiger Eingriffe anders aussehe als damals. Ich werde mich unerkannt bewegen können. Vor ein paar Jahren traf ich zufällig Carla Zabala – eine Mutter aus der Schule, die damals zu meinem Freundeskreis gehörte –, und sie erkannte mich nicht wieder. Wir waren in einem großen Bekleidungshaus und standen, jede in einer anderen Schlange, an den Kassen an. Sie sprach mich in miserablem Englisch an und fragte etwas über den Preis des Kleidungsstücks, das sie über dem Arm trug. Mir verschlug es die Sprache, ich brachte kein Wort heraus. Carla wartete kurz ab, wurde aber nicht stutzig, dann stellte sie ihre Frage der Frau hinter mir. Damit hatte ich die Bestätigung für etwas, was ich schon wusste: Ich war nicht mehr die Frau, die ich einmal gewesen war. Die Frau, die in Boston in einem Bekleidungshaus an der Kasse anstand, war eine andere als die, die in Temperley gelebt hatte, sie kannte das St. Peter’s College nicht, keine Carla Zabala noch sonst wer würde sie erkennen. Einfach, weil sie das nicht mehr war. Wenn ich mich auf Fotos von damals suche, erkenne ich mich selbst nicht wieder. Ich habe nur drei Fotos behalten, drei Fotos von ihm, zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Keines von Mariano. Ich sehe sie mir fast nie an, irgendwann habe ich es mir abgewöhnt. Robert bat mich darum, er sagte, wenn ich mir immer wieder die Fotos ansehen würde, würde ich nie darüber hinwegkommen. Womit er recht hatte. Eine Weile tat ich es noch heimlich. Aber als ich eines Abends schlafen ging, fiel mir auf, dass ich mir den ganzen Tag die Fotos nicht angesehen hatte. Zwei weitere Tage vergingen. Eine Woche, ein Monat. Irgendwann dachte ich nicht mehr an die Fotos. Trotzdem habe ich sie aufbewahrt. Heute, während das Flugzeug mich an den Ort zurückbringt, den ich damals verlassen habe, habe ich vier Fotos dabei: die drei und eines mit Robert und mir vor unserem Haus. Aber ich sehe sie mir auch jetzt nicht an. Ich habe sie einfach mitgenommen, ich weiß noch nicht einmal, warum. Ich bin nicht mehr blond wie die Mehrzahl der Frauen, die ihre Kinder aufs St. Peter’s schickten. Seit einiger Zeit trage ich meine Haare rötlich, fast rot. Ich habe zehn Kilo abgenommen, vielleicht noch mehr. Dick war ich nie, aber nach meinem Weggehen – eigentlich war es eine Flucht – wurde ich mager, durchscheinend, und ich habe die Kilos nie wieder aufgeholt. Ich kleide mich nicht mehr so wie die Frauen von dort, wie wir alle uns damals kleideten; ich kehre als typische Amerikanerin zurück, als eine Frau aus Boston. An kühlen Tagen trage ich einen Hut, was in Temperley undenkbar ist. Selbst meine frühere Stimme wird unter dem Klang der anderen Sprache verborgen bleiben. Solange ich mich in der Gefahrenzone aufhalte, werde ich sorgfältig auf meine Aussprache achten. Außerdem ist meine Stimme heiser geworden, zum ersten Mal bemerkte ich meine Heiserkeit an dem Tag, als ich das Land verließ. »Traumatisch bedingte Dysphonie«, diagnostizierte der Arzt, den ich ein paar Wochen später in Boston aufsuchte. Mit den Jahren wurde daraus eine chronische Dysphonie, denn mehrere Stunden am Tag unterrichten geht auf die Stimmbänder. Selbst meine Augen sind nicht mehr dieselben. Und nicht allein deshalb, weil sie andere Dinge gesehen haben, andere Welten. Auch nicht, weil sie den Ort, an den ich heute zurückkehre, nie wiedergesehen haben. All das würde man ihnen nicht anmerken. Und falls doch irgendetwas davon sie verändert haben sollte, hätten nur ich und vielleicht Robert es bemerkt, eine gewisse Traurigkeit, der matter gewordene Glanz und dass sie nicht mehr so flink von einem Ding zum nächsten huschen. Etwas anderes ist es, wohin man schaut, wenn man im Gespräch nach einem Wort sucht. Ich zum Beispiel richte den Blick zur Zimmerdecke, lasse ihn dort ruhen, bis ich das Wort gefunden habe. Robert hat geradeaus geschaut, wo das passende Wort schon irgendwo in der Ferne für ihn bereitlag; meine Mutter – heute weiß ich das – schloss die Lider. Und er? Wie ist es bei ihm? Ich weiß es nicht mehr. Aber um so subtile Veränderungen, die bestenfalls sehr aufmerksamen Beobachtern auffallen, geht es mir gar nicht. Ich meine äußerliche Veränderungen, die jeder auf den ersten Blick bemerkt. Als mein Augenarzt mir farbige Kontaktlinsen vorschlug, sagte ich sofort Ja. Robert war entgeistert. Aber solange es mir nicht schadete, hätte er mir niemals etwas ausgeredet. Wenn ich braune Augen wollte, sollte ich sie seinetwegen haben. Robert. Er liebte meine blauen Augen. Ich nicht mehr. »Braun sieht bestimmt sehr gut aus«, sagte er, auch wenn er eigentlich anderer Meinung war. Dass ich Robert begegnet bin, war meine Rettung. Ich weiß nicht, wo ich ohne ihn gelandet wäre. Als ich mich schon aufgeben wollte, war er auf einmal da und nahm mich mit nach Boston. In Boston arbeite ich als Spanischlehrerin. Soll ich in der ersten Person oder in der dritten Person schreiben? Warum muss ich mich für eine Erzählperspektive entscheiden? Solche und ähnliche Fragen stellen mir meine Schüler, sobald sie die ersten Schwierigkeiten überwunden haben und »echte Texte« schreiben wollen. Jedes Jahr aufs Neue stellen sie mir solche Fragen. Es sind formale Fragen, die ich auch so beantworte – ich unterrichte schließlich Grammatik, nicht Literatur –, und trotzdem beschäftigen sie mich. Die Schüler lernen bei mir eine Fremdsprache, es geht nicht darum, dass sie auf Spanisch einen Roman oder eine Erzählung schreiben sollen. Dafür haben sie ihre Muttersprache, man soll in der Sprache schreiben, in der man denkt und träumt. In der Sprache, in der man schweigt. Aber auch wenn solche Fragen über den Lernstoff hinausgehen, finde ich die Antworten, die ich meinen Schülern gebe, manchmal selbst zu theoretisch: »Die grammatische Person (erste, zweite, dritte Person) wird durch das Personalpronomen ausgedrückt. Das Personalpronomen sorgt für die deiktische Zuordnung, die notwendig ist für die Definition des Sprechakts, also um die Rolle des Senders, des Empfängers und gegebenenfalls einer dritten deiktischen Instanz festzulegen.« Sprechakt, Sender, Empfänger, deiktische Instanz – Bullshit, würde Robert sagen. Ich kann die Definition auswendig, meine Schüler müssen sie aus dem Kopf aufsagen. By heart, sagt man auf Englisch. Was alles andere als eine wörtliche Übersetzung ist. Kopf versus Herz. An manchen Tagen habe ich Erbarmen mit meinen Schülern und gebe ihnen eine freundlichere Antwort: »Die erste Person ist generell die, die spricht – ich und wir. Die zweite Person ist die, zu der gesprochen wird oder die zuhört – du und ihr. Die dritte Person ist die, über die gesprochen wird – er, sie, es und das Sie des Plurals.« Doch während ich jetzt hier am Flughafen sitze und warte, frage auch ich mich angesichts des weißen Blatts vor mir, ob ich meine Geschichte in der ersten oder in der dritten Person Singular schreiben soll. Als »ich« oder als »sie«. Ich probiere beides aus. Die dritte Person rückt mich weg, sorgt für Abstand. Die erste lockt mich an den Rand des Abgrunds – ›Spring doch!‹ Die dritte erlaubt es mir, mich verborgen zu halten, nicht an den Rand zu treten, nicht in die Tiefe zu schauen, selbst beim Erzählen nicht. Aber versteckt habe ich mich schon die ganze Zeit, mit dem Ergebnis, dass ich nie ein Wort über diesen Tag und über die Tage und Jahre danach habe schreiben können. Darum zwinge ich mich, diesen Text – dieses Logbuch meiner Rückreise – in der ersten Person zu schreiben. Nur so lässt sich der Schmerz erzählen. Der Schmerz, der Bruch, die Flucht – danach war die Welt in tausend Stücke zersprungen,...