Piñeiro | Die Zeit der Fliegen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Piñeiro Die Zeit der Fliegen

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-293-31180-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-293-31180-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Inés ist frisch aus dem Gefängnis raus und bereit für ein neues Leben, fünfzehn Jahre, nachdem sie die Geliebte ihres Mannes umgebracht hat. Gemeinsam mit ihrer Knastkumpanin Manca gründet sie ein Unternehmen: FFF, Frauen, Fliegen, Finale - ökologische Schädlingsbekämpfung und Privatdetektei, von Frauen für Frauen. Doch Señora Bonar, eine ihrer Kundinnen, will mehr loswerden als nur Ungeziefer - könnte Inés nicht ihre Expertise einbringen, um auch die Geliebte ihres Mannes aus dem Weg zu räumen? Inés will sauber bleiben, aber als Manca eine teure Behandlung benötigt, gerät ihre moralische Standhaftigkeit ins Wanken. In einer bitterbösen Komödie erzählt Claudia Piñeiro von zwei Freundinnen auf der Suche nach Freiheit, in einer Gesellschaft, die Freiheit für Frauen nicht vorsieht.

Claudia Piñeiro (*1960 in Buenos Aires) ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Argentiniens. Nach dem Wirtschaftsstudium wandte sie sich dem Schreiben zu, arbeitete als Journalistin, schrieb Theaterstücke, Kinder- und Jugendbücher und führte Regie fürs Fernsehen. Für Die Donnerstagswitwen erhielt sie 2005 den Premio Clarín, 2010 wurde sie mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Für Kathedralen erhielt sie 2021 den Premio Hammett, mit Elena weiß Bescheid stand sie 2022 auf der Shortlist des International Booker Prize.
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3


Inés’ Ankunft kündigt sich mit stotternden Knallgeräuschen an. Minuten später parkt sie ihren klapprigen Kastenwagen vor dem Haus, das sie gegen Schädlinge behandeln soll. Ein Wohnhaus, zufällig und bedauerlicherweise nicht weit weg von dort, wo Inés aufgewachsen ist. Es sind nur rund fünfzehn Querstraßen bis zu dem Haus, das ihre Mutter Laura Pereyra hinterlassen hat, Lali, Inés’ Tochter, und wo diese vielleicht noch immer wohnt. Oder auch nicht, woher soll sie das wissen? Als sie die Mail mit der Anfrage bekam, checkte sie die Adresse und zögerte, ob sie zusagen sollte, ließ sich ein paar Tage Zeit mit der Antwort. Schließlich befand sie, dass das möglicherweise daraus entstehende Ungemach, in der Gegend ihrer Kindheit unterwegs zu sein, nicht gravierend genug war, um sich deswegen ein Monatsabo entgehen zu lassen, den Komplettservice, das teuerste Schädlingsbekämpfungspaket. Wenn, wie heute, der Termin ansteht, fährt sie aber trotzdem einen Umweg, um nicht an der Straße vorbeizukommen, wo sie bis zu ihrer Hochzeit mit Ernesto gelebt hat.

Der Auspuff des Lieferwagens ist kaputt und stößt in unregelmäßigen Abständen Rauch aus, als würde das Fahrzeug husten. Inés weiß, dass sie es so bald wie möglich in die Werkstatt bringen muss, aber wenn sie den Wagen für ein paar Tage aus dem Verkehr zieht, kann sie nicht arbeiten, und dann fließt weniger Geld in ihr ohnehin schon schmales Portemonnaie. Diesen Luxus kann sie sich momentan nicht leisten und lässt lieber ihren Wagen husten. Sie hat gelernt, mit dem Nötigsten auszukommen, sie, die früher immer ihr Erspartes gehabt hatte. »Mein Geheimversteck«, so nannte sie diesen kleinen abgezwackten Teil des Familieneinkommens, den sie vom gemeinsamen Konto mit Ernesto abhob und hinter einem losen Ziegelstein in der Garage versteckte. Sie ist nicht bereit, auch nur eine Stufe weiter abzusteigen, schon seit Langem lebt sie ihrem Empfinden nach unterhalb ihrer neuen Armutsgrenze.

Ihr Firmenwagen ist ein Renault Kangoo Baujahr 2007. Das Beste, was sie sich von dem Festgeld hatte kaufen können, das der Richter nach der Auflösung der Ehe für sie anlegen ließ. Auf Bitten des Anwalts ihres Ex-Mannes, der gewiefter war als der Pflichtverteidiger, den sie abbekommen hatte, verkauften sie das Haus, in dem sie so viele Jahre gemeinsam gelebt hatten, das Auto – zum Schrottwert, nachdem es als Beweisstück im Verfahren zum Mord an Charo freigegeben worden war – und einige wenige Möbel und Elektrogeräte, die ein bisschen was wert waren. Der Richter verteilte das Geld zu gleichen Teilen, wie vom Gesetz vorgesehen. Zum damaligen Zeitpunkt hatte Ernesto seine Schulden bei der Justiz schon in Ordnung gebracht: Es war bald klar gewesen, dass er niemanden getötet hatte, wenigstens nicht absichtlich; er wurde nur wegen fahrlässiger Tötung und Unterschlagen von Beweismitteln verurteilt. Eine geringfügige Strafe für das Ausmaß an Schaden, den er angerichtet hat, das glaubt Inés noch immer. Sie hingegen hat das Gefühl, mit der Justiz quitt zu sein: Sie hat getötet und den Preis dafür bezahlt. Da Inés, als das Geld aus der Auflösung der Ehe verteilt wurde, im Gefängnis saß – und dort noch etliche Jahre bleiben würde –, bat sie darum, die Mittel so einzusetzen, dass ihr Teil nicht an Wert verlor. Man sollte ihr eine winzige Wohnung kaufen, und sei es auch nur ein Zimmer, falls es für mehr nicht reichte. Sie brauchte die Gewissheit, ein Dach über dem Kopf zu haben, wenn sie ihre Freiheit zurückerlangte. Der – kleine – Rest des Geldes wurde als Festgeld angelegt. Und davon kaufte sie später den Kastenwagen. Was Ernesto mit seinem Anteil gemacht hat, weiß Inés nicht, und sie bemüht sich, dass es ihr egal ist. Es ist ihr aber nicht egal. Sie sind nicht mehr Mann und Frau, das hat nicht geklappt, es klappt nicht immer. Dazu waren sie aber bestimmt, glaubt sie. Oder glaubte sie. Oder glaubt sie ebenso stotternd wie ihr Auspuffrohr. »Manchmal funktionieren die Dinge nicht so, wie frau sich das gewünscht hätte, da kann der Wille noch so gut sein«, wiederholt sie von Zeit zu Zeit in Erinnerung an jene Jahre. Obwohl das immer seltener vorkommt.

FFF, UNBEDENKLICHE SCHÄDLINGSKONTROLLE, hat sie auf eine der Türen des Lieferwagens gepinselt, und auf die Windschutzscheibe hat sie selbst entworfene Abziehbilder geklebt. Ein Nachbar bemerkte ihr gegenüber: »Sie brüsten sich, den Planeten mit ungiftigen Insektiziden zu schützen, und währenddessen pusten Sie uns alle mit stinkenden Abgasen aus Ihrem Auto voll.« Sosehr sie den Mann auch für den unangenehmsten Kerl im Viertel hält, sie weiß, er hat recht: Der knallende Auspuff stellt einen Widerspruch dar, der ihr eigenes Geschäft anschwärzt. Zum Glück achtet nicht jeder so genau auf diese Ambivalenz wie ihr unangenehmer Nachbar. An Kundinnen mangelt es ihr nicht, bisher hat sich keine beschwert, und sobald sie kann, wird Inés den Schaden beheben. Bis dahin soll der Meckerer nicht zu viel meckern, denn FFF ist ein Unternehmen mit zwei Gesichtern: Einerseits bekämpft es Schädlinge; andererseits führt es Ermittlungen durch. »Irgendwas hat doch jeder im Keller«, wie die Manca sagt, und sie kann das nur unterschreiben, indem sie den Satz auf ihre Art abändert: »Man bekommt das Ungeziefer, das man verdient.« Inés kümmert sich nicht um den anderen Teil der Arbeit, zumindest nicht offiziell. Sie weiß, dass sie eine Gabe fürs Ermitteln hat, sie mag das, widersteht aber der Versuchung. Ab und an hilft sie der Manca bei einem Fall, wobei sie Abstand wahrt – so wie ein geheilter Suchtkranker sich von der Substanz fernhält, um deren Anziehungskraft er noch immer weiß, wie auch, dass ein Rückfall sein Verderben wäre. »Das Leben ist die Summe sich gegenseitig aufhebender Widersprüche«, hat Inés einmal irgendwo gelesen, und daran denkt sie, wenn sie sich an die Beschwerden ihres Nachbarn erinnert oder wenn die Manca sie fragt, warum sie nicht das macht, was sie gern tut. Oder wenn sie sich im Spiegel ansieht und sich »die Deine« nennt. Das, so ahnt sie, ist ihr größter Widerspruch.

Mit der Manca, ihrer Freundin aus der Zeit drinnen, teilt sich Inés das Büro, das Festnetztelefon, Kaffeemaschine, Schreibtisch und den Firmennamen. Ihr Spitzname, der »die Einarmige« oder »die Einhändige« bedeutet, passt nicht so ganz: Ihr fehlt keine Hand, eine ist aber abgestorben. Als sie ein Kind war, explodierte bei ihr zu Hause in der Küche ein Siphon mit Sprudelwasser. Sie spielte gerade in der Nähe und wurde verletzt. In der Notaufnahme wurden die Splitter entfernt, die Wunde gesäubert und genäht. Wieder zu Hause lebte sie ihr Mädchenleben weiter, bis sie ein paar Tage später vor Schmerz ohnmächtig wurde: Ein Stück Glas war in ihrem Körper verblieben und hatte seinen Weg fortgesetzt, bis es die Sehne durchschnitt, was diese Hand für immer unbrauchbar werden ließ und ihr den Spitznamen einbrachte. Die beiden Freundinnen und Geschäftspartnerinnen haben zwar eine strikte Arbeitsteilung, beraten sich aber, wenn die Fälle es erfordern, auch wenn Inés mehr über Autopsien, Forensik und Profiling weiß als die Manca über Kakerlaken. Durch die Zusammenlegung der Unternehmen konnten sie die Kosten senken, sich vor allem aber beistehen und gegenseitig unterstützen, als es galt, einen Weg zu finden, das Überleben draußen zu sichern.

Den Namen FFF haben sie zusammen ausgewählt. Von den drei Fs haben sie zwei gemeinsam. Das F für Finale, das endgültige: den Tod, denn Schädlingsbekämpfung und Ermittlungen führen zum Tod oder nehmen dort ihren Anfang; das für Frauen, weil sie das sind und es ihnen lieb ist, wenn auch ihre Kundschaft weiblich ist, obgleich gelegentlich ein Mann anfragt, den sie aus Sorge annehmen, dass man sie der umgekehrten Geschlechterdiskriminierung beschuldigen könnte. Das dritte F war ein Zugeständnis der Manca an Inés: Es ist der Anfangsbuchstabe ihres Lieblingsinsekts, F wie die Fliege, die Muse, die sie bei allem, was sie tut, inspiriert. Die sie vor ihrem linken Auge begleitet. Aber obwohl die beiden ganz genau wissen, woher ihr Unternehmen seinen Namen hat, geben sie niemandem so viele Erklärungen, das ist auch gar nicht nötig. Inés’ Karte ist weiß und darauf stehen in schwarzen Buchstaben der Firmenname, das Motto, ihr eigener Name – den sie für sich gewählt hat, Inés Experey – und ihre Position: stellvertretende Geschäftsführerin. Das »stellvertretend« hat sie hinzugefügt, obwohl es außer ihr keine weitere Geschäftsführung gibt; das erschien ihr besser, zur Sicherheit. Wer auch immer eine Beschwerde hat, soll denken, dass das Unternehmen noch eine hierarchische Struktur über ihr hat. Sie engagierte auch jemanden für das Design der Internetseite und eines Infoflyers – alles in denselben Farben und mit derselben Schriftart –, wo sie ein paar wesentliche Punkte aufzählt, das »Leitbild« ihres Unternehmens nennt sie das: 1. Nicht-toxische Insektenkontrolle, die wirksamste am Markt. 2. Besser vorbeugen als behandeln. 3. Schädlingsmanagement und -entfernung. 4. Völlige Vernichtung der Insekten und ihrer Nachkommen nur in Extremfällen. 5. Ganzheitliche und gewissenhafte Behandlung von synanthropen Plagen in urbanen Gebieten. 6. Der Planet gehört all seinen Bewohnern, schützen wir ihn. Die Manca wollte, dass sie »Bewohner:innen« oder »Bewohnern und Bewohnerinnen« schrieb, aber Inés ist nicht so angetan von diesem neuen Sprachgebrauch und außerdem sicher, dass ihre Kundschaft sich nicht wegen des generischen Maskulinums beschweren wird. Auch wenn sie nicht ganz ausschließt, beim nächsten Nachdrucken nur...


Piñeiro, Claudia
Claudia Piñeiro (*1960 in Buenos Aires) ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Argentiniens. Nach dem Wirtschaftsstudium wandte sie sich dem Schreiben zu, arbeitete als Journalistin, schrieb Theaterstücke, Kinder- und Jugendbücher und führte Regie fürs Fernsehen. Für Die Donnerstagswitwen erhielt sie 2005 den Premio Clarín, 2010 wurde sie mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Für Kathedralen erhielt sie 2021 den Premio Hammett, mit Elena weiß Bescheid stand sie 2022 auf der Shortlist des International Booker Prize.

Kleemann, Silke
Silke Kleemann, geboren 1976 in Köln, ist literarische Übersetzerin, Lektorin und Autorin. Sie studierte Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft in Mainz/Germersheim und übersetzt hauptsächlich Romane, Lyrik sowie Kinder- und Jugendliteratur aus dem Spanischen, u. a. Werke von Juan Filloy, Ariel Magnus und Marina Perezagua. Für ihre Übersetzungen wurde sie mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. Sie lebt in München.



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