E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Piñeiro Der Riss
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30270-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-293-30270-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was kostet es, das Ruder noch einmal herumreißen und die eigenen Träume leben zu wollen? Seit zwanzig Jahren sitzt Pablo Simó im selben Architekturbüro und schafft den Absprung nicht. Ebenfalls zwanzig Jahre dauert seine Ehe mit Laura, mit der ihn nurmehr die Gewohnheit und die gemeinsame, pubertierende Tochter verbindet. Als unerwartet eine junge Frau ins Büro kommt und nach Nelson Jara fragt, enthüllt sich allmählich ein Geheimnis, in das Simó ebenso verwickelt ist wie sein Chef und eine Arbeitskollegin. Das aufgetauchte Mädchen bringt das prekäre Gleichgewicht von Simós Leben ins Schwanken. Und eine nach der anderen entgleiten ihm die Gewissheiten, die ihn bis zu diesem Augenblick getragen haben.
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1
Pablo Simó sitzt am Tisch und zeichnet den Entwurf eines Gebäudes, das es nie geben wird. Wie jemand, der, ob er will oder nicht, Nacht für Nacht den gleichen Traum durchlebt, wiederholt er seit Jahren die immer gleiche Skizze: ein elfstöckiges Hochhaus, nach Norden gewandt. Er hat eine ganze Aktenmappe voll solcher Zeichnungen, wie viele es sind, weiß er nicht, er hat schon lange aufgehört, sie zu zählen – über hundert, noch keine tausend. Sie sind nicht nummeriert, tragen aber seine Signatur – Architekt Pablo Simó; außerdem datiert er sie. Um herauszufinden, wann er die erste Skizze angefertigt hat, müsste er ganz unten im Stapel nachsehen, das macht er aber nicht; auf der letzten steht das Datum dieses Tages: 15. März 2007. Irgendwann wird er den Stapel einmal durchzählen, ganz bestimmt, sagt er sich – lauter Zeichnungen desselben Hochhauses, auf dem immer gleichen Grundstück, immer dieselbe Anzahl von Fenstern und Balkons in immer demselben Abstand, unabänderlich die gleiche Fassade, der gleiche Garten vor dem beziehungsweise rings um das Gebäude, die gleichen Bäume, auf jeder Seite der Eingangstür einer. Würde er nachzählen, wie viele Ziegelsteine er jedes Mal auf der Fassade andeutet, käme er höchstwahrscheinlich stets auf dieselbe Anzahl, vermutet Pablo. Deshalb zählt er sie auch nicht, er hat Angst, seine Vermutung könnte sich bestätigen, was bedeuten würde, dass nicht er es ist, der immer wieder den gleichen Entwurf zeichnet, sondern dass der Entwurf sich gewissermaßen immer wieder von ihm zeichnen lässt. Während sein drei Millimeter starker Caran-d’Ache-Bleistift über das Papier wandert, hier etwas schraffiert, da etwas nachbessert, redet Simó sich zum x-ten Mal ein, dass er dieses Hochhaus tatsächlich eines Tages bauen wird – sobald er sich endlich dazu durchringt, aus dem Architekturbüro Borla & Compagnons auszusteigen. Heute ist allerdings nicht der richtige Tag für solche Entschlüsse, sagt Pablo sich zumindest, um nicht daran denken zu müssen, dass er inzwischen fünfundvierzig Jahre alt ist, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass das Hochhaus jemals etwas anderes sein wird als eine Handvoll Bleistiftstriche auf einem weißen Blatt Papier und dass Marta Horvat zwei Meter von ihm entfernt nachlässig die Beine übereinanderschlägt, so als säße da gar niemand ihr gegenüber. Auch wenn Marta Pablo Simós Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt, ist es inzwischen nicht mehr so wie früher: Nicht dass Pablo nicht wollte, aber seit einiger Zeit – wie lange schon, sagt er sich lieber nicht – findet das Vergnügen, sich vorzustellen, sie gebe sich ihm hin, jedes Mal mittendrin ein jähes, ja gewaltsames Ende. Früher war das nicht so, da träumte er den ganzen Tag von Marta, und bei diesen Träumereien bestimmte er über sie, er zog sie aus, küsste sie, streichelte sie. Da er allerdings keinen Grund ausfindig machen konnte, weshalb er sich jemals von Laura trennen sollte, stellte er sich stattdessen einfach vor, Laura stürbe – schließlich sterben wir alle irgendwann einmal. Marta sitzt zwei Meter von dem Tisch entfernt, an dem Pablo ebenso selbstverständlich den Bleistift über das Papier gleiten lässt, wie er geht spricht oder ein- und ausatmet. Marta diskutiert am Telefon lautstark mit einem Bauunternehmer. Sie schimpft, weil ein Fundament nicht rechtzeitig fertig geworden ist; dass es geregnet hat, interessiert sie nicht, sagt sie, auch nicht, dass in dem Monat zwei Feiertage waren, und der Streik der LKW-Fahrer schon gar nicht. Nachdrücklich wie immer, Pablo kennt das genau, erklärt sie, dass sie keinerlei Verständnis dafür hat, wenn Absprachen nicht eingehalten werden. Dann legt sie auf. Pablo sieht den Mann am anderen Ende der Leitung natürlich nicht, kann sich aber gut vorstellen, wie der sich fühlen muss, nachdem man ihm auf diese Weise das Wort abgeschnitten hat. Ohne hochzuschauen, weiß er, dass Marta inzwischen aufgestanden ist und im Zimmer hin und her geht, er hört jeden ihrer Schritte, hört, wie sie sich eine Zigarette anzündet, hört, wie sie das Feuerzeug wieder in die Handtasche wirft und die Handtasche auf ihren Stuhl, er hört, dass sie wieder losmarschiert – aber jetzt kommt sie zu ihm. Pablo schiebt seine Zeichnung unter ein paar Blätter, Marta soll nicht sehen, was er macht, es wäre zwar nicht das erste Mal, dass sie ihn beim Skizzieren seines nach Norden ausgerichteten elfstöckigen Hochhauses ertappt, aber er hat keine Lust auf ihre Kommentare über ihn und seine Obsessionen, »die nirgendwo hinführen«. So würde Marta Horvat sich allerdings niemals ausdrücken, sie würde stattdessen sagen: »Das haut so nicht hin, Pablo, mit der GFZ.« Und obwohl niemand Pablo das Wort GFZ zu erklären braucht, hat Marta das in all den Jahren immer wieder getan. Jedes Mal, wenn sie ihn beim Zeichnen seines geliebten Hochhauses überrascht hat, ist sie ihm mit diesem Einwand gekommen, so als hielte sie Pablo schlichtweg für unfähig zu begreifen, dass die gemäß Grundstücksfläche zugelassene Stockwerkanzahl keinesfalls unterschritten werden darf, weshalb es auch in Buenos Aires niemandem einfallen würde, sich auf einem Grundstück von der Größe von Pablos Projekt ausgerechnet auf mickrige elf Stockwerke zu beschränken. Pablo ließ sie jedes Mal einfach reden, obwohl er ihr Argument mit einer simplen Erklärung hätte entkräften können: Sein Hochhaus soll gar nicht in Buenos Aires stehen. Sein erstes ganz und gar eigenständiges Projekt möchte er nicht in dieser Stadt verwirklichen. Und er weiß auch, warum. Er kennt diese Stadt besser, als ihm lieb ist, keine ihrer Straßen ist er nicht schon irgendwann einmal auf der Suche nach einem Baugrundstück für das Architekturbüro Borla & Compagnons entlanggegangen, und deshalb weiß er auch, dass, bevor in Buenos Aires auch nur ein einziger Ziegelstein verbaut werden kann, ein Gebäude dem Untergang geweiht werden muss: Sei es ein Parkhaus, eine Schule, ein Einfamilienhaus, ein Kino, eine Lagerhalle oder ein Sportstudio, Hauptsache, das dazugehörige Grundstück ist lang und breit genug, um darauf ordentlich in die Höhe gehen zu können. Pablo Simó möchte aber nicht, dass sein Hochhaus sich auf den Trümmern eines anderen Gebäudes erhebt. Deshalb wird er, sobald der große Tag gekommen ist, eine andere Stadt dafür auswählen, wovon Marta wiederum keine Ahnung hat. Welche Stadt genau, weiß Pablo nicht – vielleicht ist es eine Stadt, die er noch gar nicht kennt –, sehr wohl aber weiß er, dass es eine Stadt sein soll, in der die Fassade seines Hauses das volle Morgenlicht empfängt, und zwar auf einem Grundstück, auf dem es für niemanden etwas zu beweinen gibt. Marta Horvat bleibt hinter ihm stehen. Zuoberst auf dem Papierstapel, mit dem Pablo seine Skizze verdeckt, liegt ein Anzeigenentwurf, den er überprüfen muss, bevor er an die Werbeagentur zurückgeht. In ein paar Tagen beginnen sie wieder mit dem Verkauf schlüsselfertiger Wohnungen, innerhalb eines Gebäudes, von dem bislang bloß die Baugrube existiert. Die Anzeige muss unbedingt in der nächsten Wochenendausgabe erscheinen. »Wohnen Sie im Paradies auf Erden«, lautet die Überschrift, die in auffällig großen und bunten Buchstaben gesetzt ist, im Unterschied zu dem kleiner geschriebenen Text darunter, der allerdings in der Fußzeile noch einmal zu großer Form aufläuft, wo er – in Bordeauxrot – den Namen des Bauherrn verkündet: Architekturbüro Borla & Compagnons. Marta sieht Pablo über die Schulter und überfliegt den Anzeigentext. Sie weist ihn darauf hin, dass es nicht »Waschküche« heißen soll, sondern »Laundry«. Als Pablo zögert, macht sie ihm klar, dass die Agentur für diese Anzeige offensichtlich dieselbe Vorlage verwendet hat wie bei ihrem letzten Projekt, in der Avenida de La Plata; und in einem Stadtteil wie Boedo könne man durchaus von einer »Waschküche« sprechen, aber doch nicht in Palermo! Pablo gibt nach, streicht das Wort »Waschküche« durch und schreibt »Laundry« darüber. Als hätte sie mit diesem Hinweis für beide das Terrain abgesteckt, kehrt Marta zu ihrem Schreibtisch zurück und gibt zu verstehen, dass der Arbeitstag, wenigstens für sie, zu Ende ist. Der Arbeitstag ist aber noch nicht zu Ende. Das weiß allerdings auch Architekt Borla nicht, weshalb er in diesem Augenblick aus seinem Büro kommt, in der Hand die Aktenmappe und einen Regenschirm. Letzteren muss er bei anderer Gelegenheit hier vergessen haben, heute Morgen war der Himmel über Buenos Aires nämlich strahlend blau, und so blieb es auch, wenigstens bis zum späteren Nachmittag. Borla tritt an Martas Schreibtisch und stellt ihr eine Reihe von Routinefragen; dabei schielt er in ihren Ausschnitt. Sie antwortet lächelnd, woraufhin Borla die Stimme senkt, sodass Pablo nicht mehr hören kann, worüber die beiden sich unterhalten; dass Martas schlechte Laune, in der sie noch vor Kurzem den Bauunternehmer durchs Telefon beschimpft hat, verflogen ist, ist jedoch nicht zu verkennen. Marta unterstreicht jedes ihrer Worte mit einer Handbewegung. Pablo verfolgt dieses Hin und Her von seinem Zeichentisch aus und ist dabei besonders vom hypnotisierenden Rot von Martas Fingernägeln in den Bann gezogen. Die Hände vollführen alle möglichen Figuren, bald geht es aufwärts, bald abwärts, bald im Kreis herum, dann verharren sie für einen Augenblick reglos, so als dächte ihre Besitzerin nach, bis diese sich die Hände vors Gesicht schlägt und dahinter aus vollem Hals lacht. Borla nähert den Mund jetzt ihrem Ohr und sagt etwas hinein, nur ein Wort, das nicht länger dauert als sein Hinabbeugen. Dann tritt er einen Schritt zurück, fasst...