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E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Pichler Gegenwart der Vergangenheit

Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-85869-547-5
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-85869-547-5
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Der franquistische Terror in Spanien während und nach dem Bürgerkrieg ist erst in den letzten Jahren in seinem ganzen Ausmaß bekannt geworden. Die Gräben, die in der Vergangenheit aufgerissen wurden, entzweien bis heute die
Gesellschaft und spiegeln sich in vielen aktuellen politischen Debatten wider.

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In Würde begraben
Joarilla de las Matas
Die nordkastilische Hochebene liegt still in der Vormittagshitze. Auf den lang gestreckten, bereits abgeernteten Getreidefeldern stehen die letzten Stoppelhalme, weiter vorn verdorren Sonnenblumen auf kilometergroßen Anbauflächen. Vereinzelt ragen Steineichen auf, dunkle Flecken in einer bräunlich gelb glänzenden Landschaft unter einem ruhigen blauen Himmel. Das Dorf Joarilla de las Matas kennen nicht einmal ortskundige Kastilier. Abseits der Haupt- und Nebenstraßen liegt es im Südosten der Provinz León, ein Ort, an den man nicht zufällig kommt. Bei der Volkszählung 2009 hatte Joarilla 378 Einwohner, 2011 waren es nur noch 361, Tendenz seit Jahrzehnten sinkend. Heute hat es zwei Bars, die am Vormittag noch geschlossen sind, eine Kirche, einen Park an einem Flüsschen und einen frontón, eine hohe, grün gestrichene Wand, gegen die beim pelota-Spiel die Bälle geschlagen werden. Beim frontón solle ich ihn anrufen, hatte Marco González, Vizepräsident der Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica (ARMH) und Leiter der Exhumierung, gemeint, er würde mir dann den Weg erklären, von dort sei es nicht mehr weit. Nach vier oder fünf Kilometern erst auf einer staubigen Schotterstraße, später auf einem schmalen Weg mit manchmal tiefen Fahrrinnen, sieht man zwischen Gestrüpp Autos aufblitzen, dann das Blau eines Zeltdachs, das über die Ausgrabung gespannt ist. Mitten in den Feldern hat man fast zwei Meter in die Tiefe gegraben und einen dünnen Wasserlauf durch ein Plastikrohr umgeleitet, die Stelle, an der die Leichen verscharrt wurden, liegt nun leicht erhöht unter der Abdeckung. Joarilla de las Matas Stimmengewirr, einzelne Rufe, das Klicken von Fotoapparaten, es herrscht rege, aber gedämpfte Geschäftigkeit. Unter den beiden Zeltdächern arbeitet ein gutes Dutzend Menschen mit Sorgfalt daran, Skelette freizulegen. Auf den ersten Blick sieht es erschreckend und verwirrend aus: Alle möglichen Arten von Knochen liegen über- und durcheinander, die Beinknochen erkennt man schnell, Becken- und Schulterknochen auch, bald nimmt man Unterarme mit Elle, Speiche und den abstehenden Hand- und Fingerknöchelchen wahr, dazwischen leicht gekrümmt eine Wirbelsäule und halb zertrümmerte oder eingedrückte Schädel mit ihren riesigen Augenhöhlen und zahnbesetzten Oberkiefern. Mit der Zeit lernt man die Skelette als Ganzes zu erkennen, kann sie zusammensetzen, sieht die kleinen farbigen Fähnchen, die gelben Schilder mit Nummern von 1 bis 14, die die einzelnen Opfer bezeichnen, identifiziert die seltsam verdrehten, aufklaffenden Objekte als Schuhsohlen, unterscheidet Kleiderreste und beginnt zu verstehen, was die Menschen hier mit kleinen Handschaufeln oder Esslöffeln wegkratzen, mit Malerpinseln wegwischen, warum eine Handvoll Erde in einem Sieb durchgeschüttelt wird, bis ein paar kleine Steine und Knochenreste übrig bleiben, die in hermetisch zu verschließende Säckchen kommen, auf denen »misceláneas« oder die Nummer des Skeletts steht. Knochenreste werden auf Zeitungspapier gelegt, eingewickelt und in Kartons verwahrt, auf denen der Ort und die Nummer des »Individuums« geschrieben ist. Über jeden Fund wird Buch geführt, bevor etwas in die Kartons wandert, werden Fotos von der betreffenden Stelle gemacht. Alles geschieht unaufgeregt, professionell, immer wieder wird gescherzt und gelacht, bei allem Ernst der Arbeit. Während einige Personen mit dem Freilegen der Überreste beschäftigt sind, nehmen andere Daten auf, notieren, helfen aus, sieben und entsorgen, transportieren Geräte, bringen Wasser gegen die Hitze, rücken das Zeltdach und die Absperrungen zurecht, erklären den Besuchern, die sich zögerlich einfinden, die Details der Ausgrabung. In dem regen Treiben wird einem erst nach und nach bewusst, was man hier eigentlich sieht: die Spuren eines kaltblütigen Mordes an vierzehn Personen. Und es fällt einem auf, dass keine Angehörigen anwesend sind. Dies hat, so erklärt Marco González, mit der Geschichte des Ortes zu tun. Zurück geht alles auf den 5. November 1937, fast sechzehn Monate nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs. Die Ortschaften Sabero, Sahelices und Ollero liegen am Fuß des Kantabrischen Gebirges im Norden der Provinz León, rund sechzig Kilometer nördlich von Joarilla. Wie in anderen Orten in diesem langen Gebirgszug war hier der Bergbau von großer Bedeutung. Viele Arbeiter waren politisch engagiert, meist waren sie Sozialisten oder Anarchisten, Kommunisten gab es wenige. Aufgrund der miserablen sozialen Zustände organisierten im Jahr 1934 die Bergbauarbeiter aus Asturien einen Aufstand, der von der konservativen Regierung blutig niedergeschlagen wurde. Dieser Revolution schlossen sich zahlreiche Berufsgenossen aus der Provinz León an, auch in Sabero. Nach dem Ende des Aufstandes kamen viele Arbeiter ins Gefängnis, aus dem sie erst im Frühjahr 1936, nach dem Wahlsieg der Volksfront und einer Generalamnestie, wieder freigelassen wurden. Als am 19. Juli dieses Jahres die Generäle um Franco sich gegen die Zweite Republik erhoben und sich die Region Kastilien und León auf ihre Seite schlug, mussten die politisch aktiven Bergbauarbeiter in das republikanisch gebliebene Asturien fliehen, wo sie gegen Franco und seine Helfershelfer kämpften. Fünfzehn Monate später, Mitte Oktober 1937, eroberte die franquistische Armee Asturien, und so kehrten viele Bergbauarbeiter in ihre Dörfer zurück, wo die meisten von ihnen festgenommen wurden. Im Gefängnis der nahen Ortschaft Cistierna wurden sie gemeinsam mit anderen Verteidigern der Republik eingesperrt und von ihren Anklägern und Richtern, in Umkehrung der historischen Tatsachen, zu Aufständischen erklärt. Nach einem kurzen juicio sumarísimo, einem Schnellgerichtsverfahren, oder auch ganz ohne Verhandlung und Urteil wurden sie meist nachts in Lastwagen verladen, in abgelegene Gegenden gebracht und dort erschossen, einfach am Straßenrand liegen gelassen oder ohne viel Aufheben begraben. Weder still noch heimlich, aber sang- und klanglos. So auch hier. Am 4. November führte man an die zwanzig Bergarbeiter ab, die in der finca La Cenia erschossen wurden. Am nächsten Tag waren es wieder an die zwanzig, die man dorthin brachte. Stundenlang mussten sie in der Herbstkälte auf der Ladefläche eines Lastwagens sitzen, der über die schlechten Nebenstraßen rumpelte, einem nur allzu gewissen Schicksal entgegen. Doch hatte, wie Marco González erzählt, der Verwalter des Grundstücks von La Cenia genug, denn dort waren bereits an die 200 oder 300 Personen hingerichtet und in Massengräbern verscharrt worden. Immer wieder kamen Mütter, Frauen, Töchter mit Fotos zum Gutsbesitzer, um nach ihren Angehörigen zu fragen. So wies der Verwalter die Männer auf dem camión ab, sie sollten sich ihrer Ladung anderswo entledigen. Die Leichen, die damals in La Cenia begraben worden waren, liegen immer noch dort, da sich die Besitzer – Menschen mit Macht, die der Kirche nahestehen, ist die verhaltene Auskunft – weigern, die Erlaubnis für eine Exhumierung zu erteilen. Dafür kann man heute auf dem 200 Hektar großen Besitz Urlaub machen, heiraten oder Feste feiern: »Die ›Dehesa La Cenia‹ ist ein sorgsam gepflegtes Projekt, das sich der integrativen Organisation von Feiern und Veranstaltungen für Privatpersonen und Firmen widmet«, heißt es gespreizt auf der Website. Aber weiter in der Geschichte: Ein Zivilgardist meldete sich zu Wort: Er kenne in der Nähe seines Dorfes eine Stelle, wo man sie nicht störe. Also ging es weiter über Nebenstraßen und Feldwege, bis die Gefangenen schließlich ein paar Kilometer außerhalb von Joarilla de las Matas absteigen mussten. Zwei konnten fliehen, einer von ihnen wurde ein paar Tage später niedergeschossen und nicht weit entfernt begraben. Angeblich, in den nächsten Tagen wolle man sich auf die Suche nach seinen Überresten machen. Wie üblich nahmen die Henker den Leichen die wenigen ihnen noch verbliebenen Habseligkeiten ab, übersahen dabei aber ein paar Bleistifte, zwei Kämme und eine Streichholzschachtel aus Plastik, wie sie von Bergarbeitern verwendet wurde. Heute tauchen diese Objekte aus anderen Zeiten zwischen den Skeletten auf, die Streichhölzer sind zu einer festen Masse verschmolzen, die sich in ihrer Plastikhülle wölbt. Die Exekutierten mussten ihre Gräber nicht selbst ausheben, bevor sie erschossen wurden. Es war der Schafhirt des Dorfes, der vom Bürgermeister den Auftrag bekam, die Leichen zu begraben. Dessen Sohn, Abilio Mata Álvarez, war es denn auch, der den Mitgliedern der ARMH den Platz zeigte. 1937 war er gerade fünf Jahre alt, aber seine Eltern und ältere Dorfbewohner hörte er immer wieder von diesen Männern erzählen. Es war nicht leicht, den Platz zu finden, da sich das Terrain in der Zwischenzeit stark verändert hat. Damals gab es hier zumeist Minifundien, heute sind es weite Felder. Abilio bezeichnete der ARMH einen Platz am Rande eines riesigen Sonnenblumenfeldes, und der...


Georg Pichler, geboren 1961 in Graz, lebt in Madrid. Er ist Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universidad de Alcalá (Madrid). Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind u.a. das antifaschistische Exil und die literarische Verarbeitung des Spanischen Bürgerkrieges in der deutschsprachigen und internationalen Literatur.



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