E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Phillips Cascadia
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-446-28188-2
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-446-28188-2
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf einer Insel im Nordwesten der USA lebt Sam mit ihrer Schwester Elena und der schwerkranken Mutter in ärmlichen Verhältnissen. Sam arbeitet auf der Fähre, die die wohlhabenden Urlauber zu ihren Feriendomizilen bringt, während Elena im Golfclub kellnert. Sie beide träumen von einem besseren Leben, davon, woanders neu anzufangen.
Dann, eines Nachts, erblickt Sam einen Bären, der durch die dunklen Gewässer vor der Küste schwimmt. Noch kann sie nicht ahnen, dass das wilde Tier die Welt der beiden Schwestern aus den Angeln heben und ihren lang gehegten Traum in Gefahr bringen wird.
Julia Phillips, geboren 1988, lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York. Ihr gefeiertes Debüt Das Verschwinden der Erde (2021) war ein SPIEGEL-Bestseller. Die Autorin schreibt u.a. für die New York Times, The Atlantic und The Paris Review und unterrichtet am Randolph College.
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Vierzehn Mal täglich — fünfzehn Mal an Wochenenden — fuhr die Fähre von Friday Harbor die um den San Juan Channel verstreuten Inseln an. Jede Rundfahrt dauerte fünfundsechzig Minuten. Zu lang. Eine Touristensaison nach der anderen verbrachte Sam die gesamte Zeit, viele Stunden am Tag, im Bistro und machte Kaffee für Menschen, die sie wie ein Dienstmädchen behandelten.
Wie Aschenputtel, die Linsen aus der Asche lesen musste, verrichtete Sam eine unbedeutende Arbeit, doch kein Prinz würde sie je davon erlösen. Sie war ein Nobody. Sam sah sie jeden Tag auf dem Schiff, diese Königskinder: typische wohlhabende Snobs mit graumeliertem Haar und kieferorthopädisch begradigtem Lächeln. Unterdessen tankten Promis und Tech-Millionäre aus Seattle ihre Wagen auf, nachdem sie mit Privatjets auf die Insel eingeflogen waren. Sie sahen Sam nicht. Sie würden sie niemals sehen. Sam war noch jung, aber lange genug dabei, um zu wissen, auf wen sie sich verlassen konnte und auf wen nicht, wem sie trauen konnte und mit wem sie sich herumschlagen müsste, damit die Rechnungen beglichen wurden. Den ganzen Tag standen breitschultrige Männer bei ihr an; sie blieb unbeeindruckt. Elena war die Einzige, die sie vor diesem Ort retten würde. Sie würden sich gegenseitig retten müssen.
Sams Arbeitsplatz war ein kleiner Kasten innerhalb eines großen Kastens: ein von hohen Wänden umgebenes Bistro, mitten in einem großen Raum mit Leuchtstoffröhren und Fenstern aus bruchsicherem Glas. Draußen kräuselten sich die Wellen, Wolken zogen vorbei. Manchmal tauchte ein Kai auf. Passagiere schoben sich auf die Fähre oder wieder herunter. Der Kai entfernte sich. Im Schein der Lichter riefen Eltern nach ihren ungezogenen Kindern und prahlten mit ihren Urlaubsplänen: Kajakfahren? Strandgut sammeln? Die Lavendelfarmen besuchen? Sie starrten durch Sam hindurch auf die Auslage hinter ihr und fragten, ob die abgepackten Zimtschnecken schmeckten. Sie bejahte. Es war gelogen. Egal, ob sie ihnen das Gebäck oder eine Brezel empfahl oder sie bei starkem Wellengang vor schweren Suppen warnte — die Touristen nahmen die Trinkgeldbox, auf der ein Pappschild sie aufforderte, freundlich und großzügig zu sein, kaum zur Kenntnis.
Ein winziger Teil von ihr konnte es ihnen nicht verübeln. Nach so langer Zeit in der Gastronomie hatte auch Sam ihre Großzügigkeit verloren. Alles war bloße Routine. Kaffee aufbrühen. Müll entsorgen. Zuckertütchen auffüllen. Die Schicht hinter sich bringen.
Sam verdiente vierundzwanzig Dollar pro Stunde damit, über das graue Wasser zu fahren und in Plastik verpackte Kekse und Chipstüten zu verkaufen. Zehn Dollar über dem Mindestlohn — einen Dollar für jedes Jahr ihres Lebens, das sie der Willkür des Verkehrsministeriums von Washington ausgesetzt gewesen war. Gutes Geld, wenn sie verlässliche Schichten bekäme; doch bisher hatte es nie gereicht, um damit über die Runden zu kommen.
Zehn Jahre zuvor hatte Sam mit dem Highschool-Abschluss in der Tasche auf ein Gehalt gehofft, auf das sie zählen konnten. Mit dem sie vorankommen konnten. Elena hatte Sams Ausbildung in der Handelsmarine finanziert, damit sie auf den Fähren Arbeit fand — es gab gute Jobs im Staatsdienst, mit Sozialleistungen, einer Pension und einer Krankenversicherung, die alle Familienmitglieder einschloss. Doch der Staat hatte Sam nicht eingestellt. Er lud sie nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch ein. Nichts war so gekommen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Elena musste sich ein Bein ausreißen, um Sam eine Stelle im Golfclub zu besorgen, wo sie selbst arbeitete. Das Management kam mit Sam nicht klar, Sam kam mit dem Management nicht klar, und die Clubmitglieder erzählten endlose, langweilige Geschichten über ihre Abenteuer auf dem Rasen und beschwerten sich über die Drinks, die sie ihnen vorsetzte. Als dann die ersten Bistros auf den Fähren eröffneten, erschien es wie ein kleines Wunder: Sam war ausgebildet, qualifiziert und erfahren. Elena war erleichtert. Der Lebensmittellieferant stellte Sam ein. Sie wurde eingearbeitet, verdiente Geld. Und dann kam die Pandemie, der Fährbetrieb wurde eingestellt, die Bistros schlossen, und sie wurde für zwei Jahre entlassen.
Zwei Jahre zu Hause. Zwei Jahre Nichtstun. Der Golfclub wollte Sam nicht wiedereinstellen; sie könnten es sich kaum leisten, Elena weiterzubeschäftigen. Es kamen weniger Touristen. Auf der Insel selbst gab es nur kleine Coffee-Shops mit zunehmend eingeschränkten Öffnungszeiten, Ferienhäuser, die seltener geputzt werden mussten, und schicke Restaurants, die Sam nie eingestellt hätten, weil sie nicht gut im Smalltalk war und schlechte Zähne hatte. Als das Arbeitslosengeld auslief, begann sie, an bezahlten Online-Umfragen teilzunehmen, aber viel Geld war damit nicht zu machen, höchstens ein paar Dollar pro registrierter Stunde. Sie fuhr ihre Mutter zu Arztterminen, saß auf Parkplätzen herum, beantwortete Marktforschungsumfragen auf dem Handy und strich die miese Bezahlung ein.
In den letzten beiden Jahren hatten sie Elenas Kreditkarte enorm überziehen müssen. Um sechstausendfünfhundert Dollar, die, soweit Sam wusste, mittlerweile inklusive Zinsen auf fast elftausend angewachsen waren. Dann gab ihr Auto im Winter den Geist auf. Die Kosten für die Medikamente ihrer Mutter schnellten in die Höhe. Als im April der Staat ankündigte, die Gastronomie auf den Fähren wieder zuzulassen, legte Elena den Kopf auf den Küchentisch, und Sam sagte: »Weinst du?«
Elena sah sie mit trockenen Augen müde an. »Nein«, sagte sie. Und dann: »Aber Gott sei Dank.«
Sam hatte keinen Grund, dankbar zu sein. Mittlerweile stand sie seit mehr als einem Monat wieder hinter dem Tresen auf der Fähre, und sie waren genauso pleite wie zuvor. Sie nahm noch immer an Online-Umfragen teil, aber manchmal endete selbst das mit Frust, wenn gerade die Fähre aus dem Hafen auslief und der Empfang unterbrochen wurde, bevor sie die Fragen zu Ende beantwortet hatte. Touristen lenkten sie mit dämlichen Fragen über die Lummi Nation ab, als hätte Sam Zeit, an Kanu-Landungs-Zeremonien teilzunehmen oder zu einer Expertin für die Geschichte der San Juan Islands zu werden. Unterdessen versuchte Elena, ihre vom Grill des Golfclubs nach Hamburger-Fett stinkenden Trinkgelder beiseitezulegen, für den Notfall, doch die Notfälle nahmen kein Ende. Ihr ganzer Verdienst wurde von Steuern, Rechnungen und den Arztkosten ihrer Mutter aufgezehrt.
Aufreibend. Knochenarbeit. Endlos. Egal, welchen Job oder Lohn sie auch hätten, solange sie auf der Insel waren, würden sich die Dinge nicht ändern. Sie müssten wegziehen, erklärte Sam Elena immer wieder, wenn sie ein lebenswertes Leben haben wollten. Und Elena widersprach ihr nicht. Sie mussten nicht einmal darüber diskutieren, über die Notwendigkeit, wegzuziehen. Beide waren seit langem dazu entschlossen.
Elena mäkelte nur an den Details herum. Als ältere Schwester war es vielleicht ihre Aufgabe, pragmatischer zu sein. Sie bräuchten Ersparnisse, um wegzuziehen, sagte Elena, und sie hätten keine; sie müssten dieses und jenes bezahlen und hier und dort und …
Friday Harbor lag nun hinter Sam. Und vor ihr. Und hinter ihr. Über den Wellen, den San Juan Channel entlang, umkreiste die Fähre das Zentrum von Sams winzigem Universum. Schwarze Seevögel schossen über das Wasser. Die Inseln des Archipels bildeten eine nicht endende Reihe von grünen samtartigen Erhebungen. Auf den geschichteten Hügeln über der Küste erhoben sich strahlend weiße Gebäude. Vor Jahren, als Elena noch nicht damit beschäftigt war, sich den Kopf über eine Million kleiner logistischer Fragen zu zerbrechen, hatte sie zu Sam gesagt, dass es eine einzige Chance gäbe, von hier wegzukommen: das Haus. Wenn sie das Haus verkauften, würde ihre bessere Zukunft endlich anbrechen.
Das Haus war ein viel zu kleiner in Vinyl verpackter Albtraum aus dem Jahr 1979, das ihre Großmutter nach dem Tod ihres Mannes von der Witwenrente gekauft hatte. Damals musste sie geglaubt haben, das Haus sei ein Sprungbrett, das die Familie in die Mittelschicht katapultieren würde. Weit gefehlt. Es entpuppte sich als schwerer Klotz am Bein. Ihre Großmutter war in diesem Haus gestorben, und ihre Mutter hatte Elena und Sam hier zur Welt gebracht. Das Gebäude war mit ihnen gealtert. Die Verkleidung unter den Treppenstufen hatte sich verzogen. Die pfirsichgelbe Farbe an den Wänden blätterte ab. Die Kacheln im Bad hatten Sprünge. Das Wasser sickerte ins Gemäuer, das allmählich verfaulte und die kleine Erbschaft ihrer Großmutter immer mehr zerstörte.
Doch trotz des erbärmlichen Zustands war es noch immer eine Immobilie auf der malerischen Insel San Juan. Es lag auf einem zweieinhalb Hektar großen bewaldeten Grundstück fünf Meilen außerhalb der Stadt. Das Land war...