Über Aufgabe und Wert der Philosophie
E-Book, Deutsch, 162 Seiten, PDF-Format
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-1988-6
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Die Philosophie begegnet heute vielfältigen Zweifeln. Viele erwarten von ihr keine Antworten mehr auf die großen Fragen nach der Struktur der Welt und dem Sinn des Lebens. Dieser Skepsis setzt der Verfasser die Darstellung eines eigenen Gegenstandes der Philosophie und die Verteidigung eines eigenen Werts philosophischer Einsicht entgegen, so z.B. bei der Frage: 'Was ist der Mensch?'. Einzelwissenschaften wie die Biologie, Medizin, Psychologie oder Soziologie reduzieren ihre Perspektive auf einzelne Aspekte ihres Gegenstands: die Biologie auf das Leben und seine evolutionäre Entwicklung, die Medizin auf Erkrankungen und ihre Behandlung, die Psychologie auf die Erkenntnis der Psyche, die Soziologie auf die sozialen Beziehungen des Menschen.
Erst die Philosophie ermöglicht es, Einsicht in das Gesamte aller Strukturen und den Menschen in all seinen Zusammenhängen zu gewinnen. Sie schafft so den Rahmen für unsere Selbsteinschätzung als Mensch. Die Antwort auf die Frage nach der Aufgabe und dem Wert der Philosophie lautet daher: Die Philosophie ist die auf die Gesamtheit aller einzelnen Gegenstände und ihrer Verbindungen, also die allgemeine Struktur der Welt gerichtete, in ihrem Erkenntnisziel möglichst umfassende, in ihren Mitteln und Methoden offenste und vielgestaltigste, ihr eigenes Tun am grundsätzlichsten bedenkende Suche nach Erkenntnis. Der Verfasser untersucht auch, in welchem Maße und auf welchen Wegen der Philosophie die Erfüllung dieser Aufgabe gelingen kann.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Inhalt;7
3;Vorwort;9
4;I. Einleitung;11
5;II. Philosophie als Tätigsein und Suche nach Erkenntnis;14
6;III. Philosophie als Suche nach Einsicht in alle Strukturen;24
7;IV. Philosophie, Religion, Wissenschaft;44
8;V. Philosophie und Skepsis;55
9;VI. Philosophische Qualität;72
10;VII. Philosophische Methode;80
11;VIII. Philosophische Kategorien;110
12;IX. Philosophie, Geschichte und philosophischer Fortschritt;117
13;X. Philosophische Subdisziplinen und Strömungen;122
14;XI. Philosophie als Wissenschaft , Weltanschauung, Lebenslehre;133
15;XII. Philosophische Mystizismen, Ersatzphilosophie, Medienbewertung;138
16;XIII. Philosophie studieren;142
17;Anmerkungen;149
18;Danksagung;157
19;Register;159
III. Philosophie als Suche nach Einsicht in alle Strukturen
1. Die Philosophie kann sich nicht wie die Einzelwissenschaften ausschließlich auf einzelne Gegenstände der Welt richten, sonst wäre sie selbst eine Einzelwissenschaft. Aber sie braucht einen spezifischen Gegenstand, sonst wäre sie keine Form unserer Suche nach Erkenntnis. Übrig bleibt der Philosophie dann nur noch die Suche nach Einsicht in das Gesamte, also in die Gesamtheit aller einzelnen Gegenstände und die Gesamtheit der Verbindungen aller einzelnen Gegenstände (einschließlich des Extrems ihrer vollständigen Negation), somit – allerdings in einem sehr spezifischen, gleich noch zu erläuternden Verständnis – in alle Strukturen bzw. die allgemeine Struktur der Welt. Dabei nimmt sie auch die allgemeinsten Gegenstände in ihrem Verhältnis zu anderen Gegenständen in den Blick, weil sich in ihnen die allgemeine Struktur konkretisiert und so eine doppelte Einsicht gewonnen werden kann: Einsicht in den philosophischen Aspekt dieser allgemeinsten Gegenstände und in alle Strukturen der Welt. Ein Beispiel: Die Philosophie untersucht die Erkenntnis als Gegenstand nicht nur in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft wie die Wissenssoziologie, nicht nur in ihrem Verhältnis zur Wirtschaft wie die Wissensökonomie, nicht nur in ihrem Verhältnis zur Geschichte wie die Wissensgeschichte. Sie untersucht vielmehr das allen diesen einzelnen Verhältnissen zugrunde liegende, Gemeinsame bzw. Gesamte und damit Notwendige und Unveränderliche der Erkenntnis, welches dann natürlich auch in den je spezifischen Verhältnissen eine Rolle spielt, die man nicht über-, aber auch nicht unterschätzen sollte. 2. Was ist mit diesen Charakterisierungen des Gegenstands der Philosophie als »Gesamtheit aller einzelnen Gegenstände und Gesamtheit der Verbindungen aller einzelnen Gegenstände« oder mit »allen Strukturen« bzw. der »allgemeinen Struktur der Welt« gemeint? Zunächst ist zu betonen: Es ist nicht das raum-zeitliche Universum, das Weltall als naturgesetzlich bestimmter einzelner Gegenstand der Physik gemeint. Es verweist auch nicht auf die Welt in ihrer gesamten, additiv verbundenen Mannigfaltigkeit, also verstanden als enzyklopädische Summe der Erkenntnisse aller einzelnen Wissenschaften und des Alltags, des Handwerks usw. Die Philosophie kann keine derartige enzyklopädische Zusammenstellung allen einzelnen Wissens zu einem bibliographischinformations tech nischen Universalwissen leisten. Sie sucht nach einer anderen Gesamtheit, nämlich nach einer allgemeinen Struktur der einzelnen Gegenstände, sei diese Struktur unabhängig von uns bestehend, von uns erzeugt oder ein Mittleres zwischen diesen Alternativen. Aber worin kann diese allgemeine Struktur bestehen? Dies ist selbst schon eine inhaltliche philosophische Frage, die deshalb für die bloße Bestimmung des deskriptiven Begriffs der Philosophie nicht ausschlaggebend sein kann. Aus diesem Grund soll hier der nichtphilosophische und sehr abstrakte Begriff der Struktur auch bewusst nicht näher analysiert werden. Wichtig ist aber zweierlei: Der bloße Begriff der Philosophie als Suche nach Einsicht in alle Strukturen bzw. die allgemeine Struktur der Welt und die allgemeinsten Gegenstände setzt nicht voraus, dass diese Suche auch erfolgreich ist, dass es also so etwas wie eine allgemeine Struktur gibt. Die physikalische Suche nach dem Äther war ohne Zweifel respektable Physik, auch wenn – wie wir heute wissen – ein Ding wie der Äther außerhalb unseres Denkens und unserer Erkenntnissuche nicht existiert. Die Suche der Philosophie nach Einsicht in eine allgemeine Struktur muss weiterhin auch die Suche nach Einsicht in ihre eigenen erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Voraussetzungen umfassen. Ja, sie würde sich irgendwann auf die Suche nach diesen Voraussetzungen beschränken müssen, sollte man endgültig und unumstößlich zu dem Ergebnis gelangen, eine allgemeine Struktur der Welt existiere außerhalb unseres Denkens und unserer Suche nach Erkenntnis nicht (was allerdings der gründlichen Prüfung und der Einigkeit bedürfte). 3. Die Philosophie sucht nach Einsicht in alle Strukturen bzw. die allgemeine Struktur der Welt auch in allgemeineren Gegenständen, welche die Einzelwissenschaften ebenfalls zum Erkenntnisobjekt haben, etwa dem Menschen, der Erkenntnis, der Sprache, der Politik, dem Recht, der Wirtschaft usw. Die Philosophie hat insofern keinen eigenen Gegenstandsbereich, der nur ihr allein vorbehalten bliebe und nicht in Teilen auch von einzelnen Wissenschaften untersucht würde. Sie hat aber zum einen so weit einen eigenen Gegenstandsbereich, als nur sie Einsicht in die allgemeine Struktur aller Gegenstandsbereiche der Einzelwissenschaften und sonstigen einzelnen Erkenntnisse zu gewinnen sucht. Zum andern erforschen die Philosophie und die Einzelwissenschaften zwar auf einer vergleichbar hohen Ebene der Allgemeinheit bzw. Abstraktion dieselben Gegenstände, etwa den Menschen, die Erkenntnis und die Sprache. Die allgemeinsten (abstraktesten) Gegenstände bzw. Strukturen, wie das Sein, die Identität, die Differenz und der umfassende Zusammenhang von allem, werden aber nur von der Philosophie untersucht (zur Besonderheit von Religion und Theologie siehe das nächste Kapitel). Weniger allgemeine Gegenstände wie Bäume oder gar einzelne Dinge wie ein einzelner Baum sind dagegen regelmäßig direkte Gegenstände der Biologie als Einzelwissenschaft. Die Philosophie nimmt derartige weniger abstrakte Gegenstände oder einzelne Dinge allenfalls zur Kenntnis, um in ihnen allgemeine Strukturen zu erkennen. Die Einzelwissenschaften teilen im Übrigen ihre abstrakteren Gegenstände wie Erkenntnis oder Sprache regelmäßig rasch in konkretere Gegenstände, etwa einzelne Unterarten der Erkenntnis wie der Sprache. Die Philosophie bewahrt dagegen zumindest bis zu einem gewissen Grade die Allgemeinheit und damit Abstraktheit ihrer Teilgegenstände. Und sie setzt diese zu noch allgemeineren Teilgegenständen bzw. Begriffen wie den Begriffen des Seins, der Identität und der Differenz in Beziehung. Die Erkenntnisbereiche der Philosophie und der Einzelwissenschaften überlappen sich also bezüglich einzelner Gegenstände zwar auf einer hohen Ebene der Allgemeinheit: etwa bei relativ abstrakten Gegenständen bzw. Begriffen wie Mensch, Erkenntnis und Sprache. Sie sind aber keineswegs gleich. Denn die Philosophie untersucht auch die allgemeinsten Gegenstände. Und sie setzt weniger allgemeine Gegenstände bzw. Begriffe zu diesen allgemeinsten Gegenständen bzw. Begriffen in Beziehung. Die Einzelwissenschaften beschränken sich dagegen zum einen auf die nicht allgemeinsten Gegenstände. Sie beziehen sich zum anderen auch direkt und für ihren Bereich umfassend auf den gesamten Raum der konkreten Gegenstände sowie einzelnen Dinge. Allerdings hat sich der Umfang der von der Philosophie in ihre Untersuchung einbezogenen Teilgegenstände im Lauf der geschichtlichen Entwicklung verringert. Die Reichweite der Philosophie ins Konkrete, das heißt die relative Konkretheit der philosophischen Gegenstände und damit des philosophischen Erkenntnisraums hat abgenommen. Während etwa Newton seine Gesetze noch als Erkenntnisse der philosophia naturalis , der Naturphilosophie formulierte, sehen wir diese Erkenntnisse heute als Teil der Physik an, weil sie sich auf die Materie beziehen. Die Einzelwissenschaften haben sich also zu Lasten der Philosophie einen größeren Erkenntnisbereich erobert. Das zunehmende Bedürfnis nach interdisziplinärer Zusammenarbeit – welches auch die Philosophie befriedigen muss – zeigt allerdings, dass diese Entwicklung neben unbestreitbaren Vorteilen auch Nachteile hat, weil sich eine vollständige Scheidung der Gegenstände ohne wechselseitige begriffskonstituierende Abhängigkeit tendenziell umso schwerer durchführen lässt, je abstrakter sie sind. Auch die Einzelwissenschaften selbst sind Teil der Gesamtheit der Gegenstände der Welt und damit Teil des Untersuchungsgegenstands der Philosophie. Die Philosophie entfaltet dabei wegen der Allgemeinheit ihres Gegenstands eine doppelte Perspektive: Zum einen sind – wie sich soeben ergab – die abstrakten Gegenstände der Einzelwissenschaften direkte Objekte der Philosophie, sodass sich die Philosophie, wenn auch vermittelt über diese abstrakten Gegenstände der Einzelwissenschaften, zusätzlich auf deren konkretere Gegenstände bezieht. So richtet sich die Suche nach Einsicht der Philosophie unter anderem auf den Menschen und vermittelt durch die Psychologie, Medizin, Biologie, Soziologie und Geschichte auch auf einzelwissenschaftliche Erkenntnisse vom Menschen. Zum anderen sind aber auch die Einzelwissenschaften selbst mit ihren Begriffen, Urteilen, Sprachen, Methoden, Theorien und Systemen direkter Gegenstand der allgemeinen Strukturperspektive der Philosophie, also etwa die grundlegenden Begriffe und Theorien der Mathematik und Physik in der Philosophie der Mathematik und Physik sowie die Einzelwissenschaften als solche in der Wissenschaftstheorie. Wegen des ersten Gesichtspunkts geht die Philosophie notwendig über eine bloße Wissenschaftstheorie der Einzelwissenschaften hinaus. Wegen des zweiten Gesichtspunkts enthält die Philosophie notwendig eine solche Wissenschaftstheorie der Einzelwissenschaften. Was bedeutet das Merkmal der relativen, aber gleichzeitig weitestgehenden Allgemeinheit bzw. Abstraktheit der Gegenstände der Philosophie genauer? Es bedeutet, dass die von der Philosophie...