E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Pflichthofer Die Psycho-Industrie
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-99060-424-3
Verlag: Goldegg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Wie das Geschäft mit unserer Psyche funktioniert und was es so gefährlich macht
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-99060-424-3
Verlag: Goldegg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
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Intro – Im Psycho-Dschungel
Kennen Sie psychische Krisen? Vielleicht waren auch Sie schon einmal in einer Lebenskrise und haben nach jemandem gesucht, der Ihnen helfen kann, sich daraus wieder herauszuarbeiten? Vielleicht haben Sie auch einmal in einem Trauerprozess gesteckt und nach jemandem gesucht, der Ihnen zuhört? Oder Sie wollten sich selbst irgendwie mal besser verstehen können? Haben Sie vielleicht schon einmal erwogen, sich um einen Therapieplatz zu bemühen? Womöglich sind Sie dann an einen dieser Anrufbeantworter geraten, die ihrem Namen keine Ehre erweisen und eben nicht »antworten«. Diese Anrufbeantworter versprechen einen Rückruf, halten das Versprechen aber nicht, oder sie teilen Ihnen gleich mit, dass der zugehörige Therapeut leider überhaupt keine freien Plätze mehr hat. Vielleicht haben Sie es doch schon einmal geschafft, eines der begehrten Vorgespräche zu ergattern, um anschließend mit einem 30-Seiten-Fragebogen nach Hause geschickt zu werden. Und dann waren Sie mit all den Fragen zu Ihrer Biografie und den dazugehörigen Gefühlen doch wieder allein, während Sie sich durch den Fragebogen quälten (Fragebögen antworten auch nicht). Die Frage, die sich dann stellt: Was jetzt? Die Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz hat man Ihnen mit etwa einem Jahr angekündigt. Niemand ist da, der Ihnen sagen könnte, welche Therapie Sie eigentlich machen sollten und wer diese anbietet. (Sind das nicht immer Psychologinnen? Antwort: Nein, sind es nicht.) Also vielleicht mal ein Blick in die Gelben Seiten – und was steht da nicht alles unter dem Begriff »Psychotherapie«? Sind das alles Psychotherapeuten, die »Psychotherapie« anbieten? (Antwort: Nein, sind es keineswegs.) Vielleicht haben Sie sich an Ihre Krankenkasse gewandt, die Ihnen gesagt hat, Sie benötigten unbedingt erst einmal Formular PTV11 (kein Witz!) und dann könne man mal weitersehen. Formular PTV11 bekommen Sie bei einer Therapeutin, die zwar häufig ein Erstgespräch anbietet, aber leider keinen Therapieplatz. Und diese Therapeutin hat ihre Praxis unter Umständen 50 Kilometer von Ihrem Wohnort entfernt. (Das nennt sich »Überversorgung«.) Oder Ihre Krankenkasse hat Ihnen wärmstens die neue Gesundheits-App ans Herz gelegt. Vielleicht haben Sie ja in Ihrer Not auch schon einmal einen »Onlinekurs« gebucht, vielleicht einen, um Liebeskummer zu überwinden. So etwas kann man sogar als Gutschein verschenken (auch kein Witz), zu Weihnachten für unter dem Tannenbaum. Vielleicht haben Sie es aber auch erst einmal mit einem Buch versucht. Dazu schaut man in die Spiegel-Bestseller-Liste und sucht nach passender Lektüre zu dem Thema. Vielleicht von einem Autor, der medial sehr präsent ist. Das müssen doch Leute schreiben, die seriös sind? (Antwort: nicht zwingend.) Oder Sie haben sich eine der einschlägigen Sendungen zum Thema angeschaut, in der Hoffnung, dort seriöse Hinweise zu erhalten. Falls Sie das kennen, dann hier ein kleiner Trost: Sie sind nicht allein. Viele meiner Patientinnen erzählen mir von solchen Odysseen. Manchmal weiß man nicht, ob sie von der eigentlichen Lebenskrise oder von der Suche nach Hilfe erschöpft sind. Dann sitzen sie vor mir, angefüllt mit »Übungen« und »Glaubenssätzen«, ausgefüllten »Übungsbüchern« und Fragebögen. Oder mit einer Diagnose versehen, die niemand so richtig überprüft hat. Sie wurde aber womöglich gestellt, weil sie gerade modern ist oder sich damit trefflich Geld verdienen lässt – es gibt schließlich dafür so schöne Medikamente. Oder sie sitzen vor mir, weil die vermeintlichen Psychotherapeuten, bei denen sie vorher waren und die sie aus eigener Tasche bezahlt haben, jetzt irgendwie auch nicht mehr weiterwissen. Woher sollen Sie, liebe Leserinnen und Leser, wissen, dass Sie durch vermeintliche Expertinnen durch vermeintlich aufklärende Sendungen geführt werden, Pseudo-Experten, die sich – offenbar von der Komplexität des Fachwissens herrlich unbelastet – beherzt zu den gerade aktuellen psychischen Erkrankungen und Themen äußern? Woher sollen Sie wissen, dass in vermeintlich seriösen Sendungen subtil Werbung für die Pharmaindustrie gemacht wird? Woher sollen Sie wissen, dass in sogenannten Bestsellern unter der Rubrik »Sachbücher« plagiiert wird? Woher sollen Sie wissen, dass das, was Ihnen da großartig als »Studie« präsentiert wird, nicht wirklich repräsentativ ist? Woher sollen Sie wissen, dass Ergebnisse zu reißerischen Aussagen zurechtgebogen werden, damit sie medial schön verwertet werden können? Und woher sollen Sie wissen, dass der Begriff »Therapie« genauso wenig geschützt ist wie der Begriff der Psychotherapie. Der Begriff der »Psychotherapeutin«, des »Psychotherapeuten« hingegen schon. Eine kleine, aber extrem bedeutsame Differenz. Denn diese Tatsache führt dazu, dass Sie unter den Anbietern angeblicher »Psychotherapie« Leute erwarten, deren »Ausbildung« aus einem 45-Minuten-Multiple-Choice-Test beim Gesundheitsamt besteht (leider auch kein Witz). Woher sollen Sie wissen, dass von den Medien erkorene »Expertinnen« unter Umständen nicht annähernd die Ausbildung haben, die im Gesundheitswesen tätige Psychotherapeuten haben sollten? Und woher sollen Sie wissen, dass die »Angebote«, die sich auf dem Psycho-Markt tummeln, am Ende auch gefährlich sein können? Dass sie zu Psychosen, zu Schädigungen durch falsche oder zu lang eingenommene Medikamente, zu Existenzkrisen führen können, gar zu Frühberentungen aufgrund dauerhafter Krankschreibungen, ohne echte Hilfe? Vielleicht gehören Sie aber zu jenen, die verzweifeln, weil Ihre Partnerin oder Ihr längst erwachsenes Kind dauerhaft auf der Suche nach ihrem, nach seinem »inneren Kind« ist und einfach nicht (mehr) am Erwachsenenleben teilnehmen will? Gegenüber meinen Patienten höre ich mich immer wieder über diese Dinge sprechen. In meiner Telefonsprechzeit (ja, so etwas gibt es) höre ich mich oft dieselben Antworten geben und darüber aufklären, was man unter einem seriösen Therapieangebot versteht. So habe ich zunehmend das Gefühl bekommen, dass diese Antworten, die ich Tag für Tag am Telefon gebe, für mehrere Menschen interessant sein könnten. Also habe ich mich darangemacht, all das aufzuschreiben. Aber während ich das tat, erschrak ich. Denn je mehr ich mich mit dem befasste, was unter dem Label »Psyche« und »Psychotherapie« kursiert, auf desto mehr Abgründe stieß ich. Von solchen Abgründen möchte ich in diesem Buch genauer berichten. Als Ärztin und – mehr noch – als Psychotherapeutin ist man es gewohnt, zuzuhören und sich so seine Gedanken zu machen. Aber wir hören nicht nur unseren Patientinnen und Patienten zu, sondern auch dem, was da so über die Bildschirme pixelt, und wir lesen auch Zeitungen. Immer wieder bin ich dann erstaunt, wer sich auf welche Weise so alles zu Themen rund um psychische Erkrankungen und psychische Nichterkrankungen äußert. Seit geraumer Zeit beobachte ich, wie sehr viele vermeintliche Psycho-Expertinnen auf den Psycho-Markt drängen und »therapieren« möchten, häufig ohne Ausbildung, ohne fachkundige Supervision, ohne Erfahrung mit psychischen Krankheitsbildern und ohne professionelle Selbsterfahrung. Sie bieten vermeintliche »Psychotherapie« als Häppchenkost an, können sich oft nicht entscheiden, ob sie gesunde oder kranke Menschen therapieren wollen, versichern, sie würden sich nur um das »allgemeine Wohlbefinden« kümmern, um dann doch von »Depressionen« zu sprechen. Aber woher kommen all diese Pseudo-Experten? Wieso sind sie so beliebt? Eine Antwort ist womöglich in dem Begriff der Optimierung zu finden. Man kann vermutlich mit einigem Recht behaupten, dass unsere Gesellschaft sich gegenwärtig in einer Art »Optimierungsrausch« befindet. Wir optimieren, wo wir können, was wir können: Prozesse, Produkte, Gewinne, Zeit. Und das natürlich im Dienste der Ökonomie. Gewinne sind finanzielle Gewinne. Nur diese verheißen Erfolg und ein glückliches Leben, so das Heilsversprechen der Ökonomisierung des sozialen Lebens. Jeder, so heißt es immer wieder, könne sich zu einem erfolgreichen Selbst gestalten, es bedürfe nur einiger Optimierungs-, Empowerment- und Managementprogramme und des absoluten Glaubens an die eigene Kraft. Es gilt, aktiv zu sein und flexibel. Jeden Morgen mit seinen Affirmationen aufstehen, abends statt Gebet das Dankbarkeitstagebuch! Die Positive Psychologie macht es möglich.
Die Optimierungen beginnen inzwischen schon früh, bereits in den Kindergärten. Davor warten die gehetzten Eltern, besorgt um den täglichen Optimierungsprozess ihres Kindes. Die Menge der Synapsen innen und der zuträglichen, gewinnbringenden Kontakte außen wird schließlich einmal über die soziale Rangfolge entscheiden. Und sollte der Platz in der Rangfolge nicht gefallen, oh, dann liegt es ganz sicher an den Genen. Weniger Erfolg oder schlechtes Benehmen oder Aggressionen – es liegt an unseren Genen. Neuerdings gilt sogar die schlechte Laune als genetisch bedingt. Oder es liegt an der Amygdala. (Es heißt, ein Vortrag oder eine Arbeit werde nur dann als so richtig wissenschaftlich wahrgenommen, wenn das Wort »Amygdala« fällt. Das hätten wir jetzt also auch.) Oder es ist eben mal wieder ein Durcheinander bei unseren Neurotransmittern. Das klingt auch so überzeugend wissenschaftlich. Und neben den Millionen von vermeintlichen Fußballbundestrainern, die letztlich die bessere Mannschaft aufstellen würden, haben wir jetzt auch zahlreiche Hobbyneurobiologinnen am...




