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E-Book, Deutsch, 112 Seiten

Pfeifer Zwischen

Prosa
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7076-0488-7
Verlag: Czernin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Prosa

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

ISBN: 978-3-7076-0488-7
Verlag: Czernin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Judith Nika Pfeifer, die sich mit ihrer außergewöhnlichen Lyrik bereits einen Namen gemacht hat, legt mit »zwischen« ihren ersten Erzählband vor. Eine vielversprechende frische Stimme aus Österreich! Unprätentiös und mit faszinierender Leichtigkeit erzählt Judith Nika Pfeifer von unerhörten Begebenheiten. So entstehen Momentaufnahmen, die von der Absurdität des Alltags, unvorhersehbaren Wendungen, überstürzt getroffenen Entscheidungen oder alles verändernden Ereignissen zeugen. 'Was wäre gewesen wenn?', fragt die Autorin und verarbeitet ein historisches Ereignis mit Todesfolge; eine ihrer Figuren lässt sich auf ein ungewöhnliches Experiment ein, das ihr aus einer finanziellen Misere helfen soll; Zwischentöne werden eingefangen auf einer Reise nach Edinburgh. Voller Sprachwitz und mit einem überbordenden Einfallsreichtum zeichnet Judith Nika Pfeifer in ihren Geschichten das einfühlsame Porträt einer jungen Generation, die ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden hat: manchmal ironisch, häufig nachdenklich, ausgelassen und nie sentimental.

Judith Nika Pfeifer, geboren 1975, aufgewachsen in Wien und Oberösterreich. Kommunikations- und Sprachwissenschaftlerin, schreibt Lyrik, Prosa und szenische Texte. (Transmediale) Kunstprojekte in aller Welt, diverse Preise und Stipendien, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2012, zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, u.a. »kolik«, »Literatur und Kritik«, zuletzt der Lyrikband: »nichts ist wichtiger. ding kleines du« (2012).

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ZWISCHENFALL
Wenn einer, ihr Vater, sie auf die Schultern nimmt, wenn sie merkt, dass der Himmel näher kommt, und wenn sie den Schaulustigen den Schrecken ersparen will, so ist es Zeit für sie, umzukehren, vorerst stillzuhalten, sacht, ihr Gewicht auszutarieren, fein, lautlos, etwa so wie Libellenhubschrauber schweben, wenn abends die Sonne über eine Ecke des Wassers glitzert, still, so, dass es der Vater, auf dessen Schultern sie sitzt, gar nicht merkt – und schnell! So kommen die Särge in Gang: Rewind. 10
Und mit einem Mal wird der Trauerzug nicht mehr wissen, wo das Ende ist. Und ehe es noch begonnen hat, fallen die Blumen aus ihrem Grab zurück in die Hände der Menschen, winkt einer den Friedhofsmännern zu, und weil sie es nicht wissen, holen sie zuerst ihren Sarg zurück und nun den vom Vater, wandern die Kränze von Hand zu Hand zurück auf den kleinen Transportwagen, räuspert der Pfarrer gegen ein unsichtbares Staubkörnchen in der Kehle an, krächzen die Krähen, es gibt nichts zu sehen, und also macht ihre Mutter die rotgeweinten Augen zu, schickt das hundertundzweite Gebet, damit sie leben kann und weist den Arm ab, der sie stützen will. Na so was. 9
Das Grab ist offen und leer, und schon bald wird es kein Grab mehr sein. Da hört sie den Pfarrer schon reden, von Erde zu Erde zu Asche und Staub zu Erde. Seine Worte verhallen, und die Blätter, so ein helles Klingen, Rauschen, Brausen, Sausen. Ja, bald schon wird es kein Grab mehr sein, so wie der Totengräber es zuschaufelt, sich in einer kurzen Zigarettenpause am Kopf kratzt – das hat es noch nicht gegeben – nun noch das Gras darauf tut, als ob hier nie etwas gewesen wäre. Und nichts ist darin: ist bloß Wiese, Erde mit Gras obenauf. Der Tod selbst verhüllt die Toten. Und der Krieg ist noch nicht weit weg. Da sind die Friedhöfe voll mit Menschen, ohne die die Welt nicht leben kann. Wer will die Übriggebliebenen schon fragen, wohin mit all der Trauer, der Wut, der Ohnmacht, so ratlos. Und warum ist nicht alles schon verschwunden an diesem Samstag im Juli, einem dreiundzwanzigsten, oder ist es dabei, zu verschwinden: die Menschen, die Dinge, die Welt, wie sie wohl in ihrer Abwesenheit aussieht und ob es sie dann überhaupt gibt? Doch da ist der Trauerzug schon in Bewegung gekommen, Zehntausende sind es, die sich bekreuzigend den Weg vom Grab zur Kirche dicht gedrängt säumen. Da ruckelt und zuckelt der Wagen mit den beiden Särgen rückwärts und flink, flink liegen sie auch bereits in der Kirche, in einem Meer von Lichtern und Blumen. Da hat ein Lastwagen die Kränze geladen, denn es sind so viele, dass kein anderes Gefährt sie tragen kann. Da stehen und sitzen sie, die Menschen, schluchzend, teilnahmsvoll. Hoffnung ist schutzlos, damit sie beschützt wird. 8.6
Das Unglück ist passiert, ein Passant, beiläufig wie all die anderen Katastrophen eines 17. Juli. Hätte ihr vor sechs Tagen jemand gesagt, das Seil würde beben, wäre sie auf die Schultern geklettert? Und hätte am 17. Juli die Erde gebebt, wie damals in Irpinia im Süden Italiens, hätte dann auch das Seil gezittert? Hätte es so gezittert, dass es ihr Zittern ausgeglichen hätte? Da stirbt eine Billie Holiday an einem 17. Juli und ein John Coltrane und tausend weitere, deren Namen sogleich verpuffen, verwaschen, weitergetragen, weitergegeben werden, in immer anderen Kombinationen. Da rutscht ein Flugzeug nach der Landung in São Paulo über die Landebahn hinaus und fängt Feuer. Da explodieren zwei Transportschiffe im Norden der Bucht von San Francisco, aber sie ist kein Schiff und ihr Sarg wird von Zehntausenden begleitet: Da kann kein Schiff mithalten. Der Krieg ist noch nicht weit weg und die Friedhöfe sind voll mit Menschen, ohne die die Welt nicht leben kann. Wer will da schon an Meuterei denken. Da feiern Tausende Geburtstag, dürfen sich etwas wünschen, wenn sie nur alle Kerzen ausblasen, während sie da in ihrem Sarg liegt. Liegt sie? Heute ist der erste Tag vom Rest ihres Lebens. Sie ist nur kurz eingeschlafen. Also aufgewacht! Sie darf sich etwas wünschen, wenn sie nur alle Kerzen ausbläst. Es wünscht sich so schnell heutzutage: dass das Unglück verunglückt. 8.2
In den Zeitungen, auch in den internationalen, rätseln sie über die Ursachen, sie hätte Schüttelfrost gehabt, ihr Vater hätte einen Krampf im rechten Arm bekommen, der Anstieg des Drahtseils wäre zu steil gewesen, der Wind, das Wetter, die Musikkapelle, der Vorabend, die lange Nacht des Vaters hätten Schuld, ob er wohl bei der Feier in der Nacht zuvor vielleicht doch etwas getrunken habe. Sie sagen, es wäre wegen der Kälte gewesen, sie hätte auf den Schultern des Vaters gewackelt, weil sie zuvor ins kalte Wasser gefallen sei. Sollen sie doch reden von Schüttelfrost und anderen Theorien. Das kann doch gar nicht sein, sie hat sich doch eben noch an der nächstbesten Hand gehalten. Der Feuerwächter vom Turm des Stephansdoms sagt, er habe ihren Vater öfter mit dem Fernrohr beobachtet. Am Unglücksabend habe er irgendwie schwerfällig gewirkt, anders als sonst, und dass der Aufschrei der Zuschauer bis zu ihm zu hören gewesen sei. Doch plötzlich kann sie ihn nicht mehr verstehen, es macht absolut keinen Sinn, was er sagt. Schwerfällig müsste leichtfällig sein. Sie sind doch ganz leicht gefallen. Und er scheint ähnlich zu denken, denn er beißt sich auf die Zunge und verstummt. Da hört sie sich nun leise ihren Namen rückwärts sagen, Asor Nnamesie, und muss lachen, Amnesie. Und der Feuerwächter muss sie gehört haben, denn er macht den Mund wieder auf und sagt etwas, er sagt: Die liebe Tote! Beileid! Und da versteht sie ihn wieder: Aja. ajA. dielieB etoT ebeil eiD. Na so was. saw os aN. gewebe weG. Gew ebeweg. Geist sieg! geis tsieG! Muse her da, dreh es um. mu se herd ad reh esuM. Tu erfreut! tuerfre uT! Und also tut ihr erfreut. Rettender Retter, red’ netter. Und er lacht, weil sie lacht. Jemand hilft ihr, davonzukommen. 7
Und weil die Muse es umdreht und es sich nun umdreht und weiterdreht, ist das Seil noch gespannt und ein letztes Mal scheinwerferbeschienen, als ob sie noch da oben stünde, auf den Schultern des Vaters. Zwei Männer, ernst und ergriffen, nehmen einen Kranz von der Stelle, wo sie lag und der Vater. Hat sie sie ergriffen, mit ihrem Wackeln, ihrem Stürzen? Oder war es der Vater? Was ergreift sie und wer ergreift wen? Trauer macht traurig und Ernst macht ernst, bloß sauer nicht sauer. Die Ouvertüre zu Egmont, der Trauermarsch aus Eroica ertönen, jemand hält eine Rede, ihr Name wird genannt, Rosa und Josef, fesoJ und asoR, dass sie auch immer alles umdrehen muss! Eine Spendensammlung für die Mutter, den Bruder, für die Großmutter. Lass sie weinen! Es wird vorübergehen, die Tränen gehören dazu. Hab keine Angst! Hab das Gegenteil von Angst! Mut ist nicht das Gegenteil von Angst. Wer keine Angst hat, hat vielleicht auch keinen Mut. Den Mut hat sie schon. Sowieso. 6
Und auch wenn der Rettungsdienst schnell da ist, sagen sie der Tod, der Tod, da ist nichts zu machen, immer wieder, wie um sich selbst zu beruhigen. Und führen den Mann und das Mädchen, weil es ohnehin schon egal ist, vom Spital zurück zur Absturzstelle und freuen sich, dass sie so schnell zur Stelle waren. Ja, das waren sie. Und auch wenn da nichts zu machen ist, haben sie so etwas noch nicht erlebt. Pause menu: enable/disable the helper. Sie sind tot, aber das ist noch nicht gesagt. Also schnell! Und bevor einer etwas sagen kann, fährt der Rettungswagen leer und fröhlich zurück in die Zentrale der Wiener Rettungsgesellschaft. Und aus den Knochen der Zuschauer löst sich frisch wieder der Schreck, der so plötzlich in sie gefahren ist, über das Licht, den Fall, den Zwischenfall, die Netzhaut, die Iris, den Sehnerv, aus ihren Hirnwindungen, Synapsen, Gedanken, Gefühlen heraus, aus ihrer Mutter Magdalena, die wie immer beim Einsammeln der Eintrittsgelder geholfen hat, aus ihrer Großmutter, die neben ihr, nun außer sich, wieder zu sich kommt. So ein Sehnervenzusammenbruch bringt die Tränen in Gang, das Wasser in den großen Kreislauf und seltsame Laute aus über 2.000 Kehlen. Angst ist bloß Angst, aber macht auch die Alten laufen: Die Menge stiebt auseinander und wieder zusammen. Nicht erschrecken, es gibt kein Gleichgewicht auf der Welt. 5
Sie war die Tochter, raunt es nun rückwärts zurück von einem zum anderen, von einer zur anderen. Die Mutter, die arme Frau. Der Bruder, der arme Junge. Und sie? Ist ein Teenager, Backfisch, junges Mädchen, kaum Frau. Noch nicht einmal 16. Ab wann ist man denn was? Und was nützt es? Sie wird nicht mehr älter. Jünger werden wir nicht mehr, sagen sie. Und sind froh, dass sie noch atmen. Lass sie! Leben ist Atmen. Eine alte Frau mit Blumentuch klappt den Mund zu, und neben ihr der Fotograf, der, statt ihr, auf den Schultern des Vaters von hoch oben aus Fotos machen wollte, es aber nicht erlaubt bekam, will nun nicht mehr. Ist bloß froh, dass er noch lebt. Sind doch alle bloß froh, dass sie leben. Sollen sie auch. Der Fotograf sagt nun, er würde sein Leben für ihres geben. Klappt denn das, geht denn das, kann das denn sein? Immerzu diese Nervenkitzel. 4
Aber nun geht ihr Aufschrei in ein aufatmendes Etwas über, so etwas haben sie noch nicht gesehen: Denn nun ist der Aufprall so unvermeidlich wie sein Gegenteil: der Hinaufprall oder Abprall. Der Ort, an dem sie aufschlägt, ist ein Festplatz, beinahe ein Hafen, wenngleich nicht ohne Schatten, ist später in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen, denn das Wasser treibt hier auch hin und wieder Leichen ans Ufer. Sie wird fliegen, kleiner Gummiball zwischen den Welten, das Seil hüben wie drüben und hier wie da und g’hupft wie g’hatscht. Wenn der Himmel...


Judith Nika Pfeifer, geboren 1975, aufgewachsen in Wien und Oberösterreich. Kommunikations- und Sprachwissenschaftlerin, schreibt Lyrik, Prosa und szenische Texte. (Transmediale) Kunstprojekte in aller Welt, diverse Preise und Stipendien, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2012, zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, u.a. »kolik«, »Literatur und Kritik«, zuletzt der Lyrikband: »nichts ist wichtiger. ding kleines du« (2012).



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