E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Pfeifer Das letzte Achtel
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96041-488-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-96041-488-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Retz darf nicht Chicago werden!
Rohrweihen sind Greifvögel und eher unauffällig. Aber wenn siebenunddreißig Stück tot im Kreis liegen, kann das schon ein bisschen auffallen. Und wenn in der Mitte des Kreises ein Toter liegt, fällt das auf jeden Fall auf. Dabei ist Retz eigentlich ein ganz reizender Ort: eine Windmühle, ein Kellerlabyrinth unter dem historischen Hauptplatz – und natürlich das Weinlesefest. Aber das kann auch verdammt tödlich enden. Zum Glück bringen Hawelka und Schierhuber Licht ins mörderische Dunkel.
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Beziehungskrise Es gab ein Problem, und Hawelka brauchte keine Probleme. Damit hatte er viel mit einem Großteil der Weltbevölkerung gemeinsam. Die meisten Menschen brauchen keine Probleme. Ausgenommen vielleicht Scheidungsanwälte, Berufskiller oder Ärzte. Außerdem Feuerwehrmänner, Mechaniker, Versicherungsmakler, Psychologen, Schädlingsbekämpfer, Pharmakonzerne, Alkoholproduzenten und noch viele andere professionelle Problemlöser. Genau genommen wären in einer Welt ohne Probleme viele hundert Millionen Menschen auf einen Schlag arbeitslos – und dann hätten wir ein Problem. Aber Hawelka mochte keine Probleme. Er hasste sie geradezu. Und nun hatte er eines. Ein Beziehungsproblem. Beziehungsprobleme sind die schlimmsten! Eigentlich, dachte er, ist es ja ein Nichtbeziehungsproblem. Weil wenn ich eine Beziehung hätte, hätte ich jetzt kein Problem. Das war richtig. Denn er hatte keine Beziehung, und deshalb war es ja zu dem Vorfall gekommen, der sich mittlerweile zu einem Problem ausgewachsen hatte. Während einer der seltenen gemeinsamen Freizeitaktivitäten der Beamten des Wiener Landeskriminalamtes, Abteilung Leib und Leben, gemeinhin als »Mordkommission« bekannt, war es zu einem Zwischenfall gekommen. Man war im sogenannten Schweizerhaus3 zusammengesessen. Henk, der beliebte Stellvertreter von Hofrat Zauner, hatte den geselligen Abend angeregt, und bis auf den Erzherzog selbst waren fast alle mitgegangen. Hohlstein, Gerlitz, Sojka, Schütz, Hawelka und natürlich sein Partner Schierhuber, mit dem er schon in etlichen Fällen gemeinsam ermittelt hatte. Auch das gesamte Auskunftsbüro war anwesend. Herta Berlakovic, ihre Stellvertreterin Janne Frischauf, Bettina Sommer, der Traum einsamer Polizistennächte, und sogar die ewig griesgrämige Forstner war mitgegangen. Man hatte getrunken, gescherzt und gegessen, dann hatte man noch mehr getrunken und gescherzt, und schließlich hatte man ausschließlich getrunken. Irgendwann hatte Henk befohlen, ihm alle Autoschlüssel auszuhändigen, und weil Henk okay war, folgten alle dem Aufruf. Noch später war ein Gewitter aufgezogen, ein wahrer Platzregen war niedergegangen, und die Versammlung hatte sich panikartig aufgelöst. Es hatten sich verschiedene Taxifahrgemeinschaften gebildet, und die daraus entstehenden Kleingruppen hatten dann irgendwo weitergefeiert. Dabei war es zu dem Vorfall gekommen. Das Schlimmste ist, dass ich mich irgendwie nicht richtig erinnern kann, überlegte Hawelka. Das soll heißen, er wusste gar nicht genau, wie und wo der Vorfall seinen Anfang genommen hatte. Erinnern konnte er sich noch an eine Taxifahrt. Die Berlakovic war dabei gewesen, das wusste er noch. Schierhuber? Das wusste er nicht mehr. Aber er erinnerte sich, dass der Taxifahrer mehrmals gedroht hatte, sie alle hinauszuwerfen. Jemand hatte ihn dann mit einem weit überhöhten Vorab-Trinkgeld überredet, sie doch irgendwohin zu fahren, obwohl sie die ganze Zeit unglaublich laut und falsch »An Tagen wie diesen« gegrölt hatten. Weil niemand mehr wirklich textsicher war, wurde einfach die erste Refrainzeile vierzigmal wiederholt und dazwischen »Lalalala-laaahlala« gesungen. Und dann – Filmriss. An sein Erwachen am nächsten Tag hingegen konnte er sich sehr gut erinnern. Nackt in einem fremden Schlafzimmer, seine Kleidungsstücke gleichmäßig über den ganzen Raum verteilt, Kopfweh, Brand, Kater und – die Forstner. Nun war es so, dass die vier Frauen vom Auskunftsbüro ganz unterschiedliche Merkmale hatten. Die Berlakovic war frech, frivol und stets fidel, die Frischauf lustig, laut und lebensfroh, und die Sommer war sexy, schön und sanft. Ach ja, und die Forstner … also, die Forstner war … eine gute Tipperin. Sie konnte schreiben wie keine Zweite. Ja. Sonst war sie … nicht unansehnlich, nicht … schlecht gebaut, aber … irgendwie … herb. Es gab neue Kollegen, die nach einem halben Jahr ganz aufgeregt in die Kantine kamen und erzählten, sie hätten die Forstner lachen (oder zumindest grinsen) gesehen. Andere wiederum wussten zu berichten, dass sie gehört hatten, wie die Forstner mehrere Sätze hintereinander gesprochen hatte. Irgendjemand behauptete, sie sogar schon einmal einen Witz erzählen gehört zu haben – aber der wollte sich sicher nur wichtigmachen. Als Hawelka nach dem Schweizerhaus-Abend erwachte, stand diese Forstner also komplett angezogen in der Schlafzimmertüre, wirkte im Vergleich zu ihm äußerst frisch, sah ihn völlig emotionslos an und sagte frostig: »Wenn du gehst, sperr zweimal ab und wirf den Schlüssel in den Briefschlitz.« Dann drehte sie sich um und verließ die Wohnung grußlos. Das war vor knapp einer Woche gewesen. Seither hatte Hawelka das Problem. Eigentlich sogar mehrere. Eines davon war diese entsetzliche Lücke. Der Filmriss ließ viele Fragen offen. War er auf Einladung der Forstner mit zu ihr gegangen, oder hatte er sich aufgedrängt? Hatte nur er sich ausgezogen, oder war die Forstner zwischendurch auch nackt gewesen? Und wie sah die Forstner unter ihrer stets unglaublich langweiligen Kleidung tatsächlich aus? War es zum Äußersten gekommen oder nicht? Wenn ja, hätte sich Hawelka am liebsten in den Hintern gebissen, weil er keine Erinnerung daran hatte, und so wahnsinnig oft kam es nicht zum Äußersten mit ihm und einer Frau, also … eher selten, also … eigentlich sehr, sehr selten, also … Wenn nein, hätte sich Hawelka am liebsten in den Hintern gebissen, weil er sich dann anscheinend vor der Forstner zum Kasperl gemacht hatte, sich »umsonst« ausgezogen hatte, vielleicht sogar einen durch den vielen Alkohol technisch unmöglichen Versuch unternommen hatte … Oh Gott! Es gab nur einen Menschen, der diese quälende Ungewissheit hätte beseitigen können – die Forstner. Aber die saß im Auskunftsbüro, wie immer, würdigte alle Eintretenden (also auch Hawelka) kaum eines Blickes, tippte und schwieg. Am Gang und in der Kantine grüßte sie mit kaum wahrnehmbarem Kopfnicken, und ansonsten verzog sie keine Miene. Hawelka, der Gewissheit wollte, hatte sich zuerst überlegt, sie nach Dienst abzufangen, wenn sie zur U-Bahn ging, verwarf diesen Plan aber dann und nahm sich vor, sie anzurufen. Leider stand ihre Nummer nicht im Telefonbuch, und leider wagte er nicht, das Auskunftsbüro Berlakovic um die Nummer zu bitten. Was sollte die Berlakovic von ihm denken? Was sollte die Frischauf von ihm denken? Und vor allem, was sollte Bettina Sommer von ihm denken?4 Die Situation war unerträglich. In so einer Situation braucht man üblicherweise jemanden, mit dem man sich beraten kann. Jemanden, bei dem man sich aussprechen kann. Einen Freund zum Beispiel. Oder zumindest einen guten Kollegen, der Partner war und fast schon ein Freund. Einen Schierhuber zum Beispiel. Vor etlichen Jahren waren Hawelka und Schierhuber kurz nacheinander zur Wiener Kriminalpolizei gestoßen. Der eine war vorher braver Polizist in Zwettl gewesen, der andere hatte in Horn Dienst geschoben. Beide waren damals schon nicht mehr ganz taufrisch gewesen, und beide hatten sie mittlerweile die fünfzig deutlich überschritten. Hawelka war eher klein, hatte einen gemütlichen Bierbauch und äußerst schütteres Haar. Schierhuber war riesig, hatte einen imposanten Bierbauch und ein Boxergesicht mit großen Kinderaugen. Beide hörten auf den Vornamen Josef. Man hatte sie ein wenig belächelt, hatte ihnen anfangs den Spitznamen »die Waldviertler Mordbuben« gegeben und sie grundsätzlich nur als Gespann eingesetzt. Meist waren sie zu niedrigen Tätigkeiten herangezogen worden: Observationen, Zeugenbefragungen, Nachbearbeitungen alter, uninteressanter Fälle. Aber in den letzten beiden Jahren hatten sie auch einige Fälle aufgeklärt, und seither waren sie in der Achtung der Kollegen ein bisschen gestiegen. Sie verstanden sich gut und passten ausgezeichnet zusammen. Im Lauf der Zeit hatte sich zwischen ihnen fast so etwas wie eine richtige Männerfreundschaft entwickelt. Männerfreundschaft bedeutet, dass man etliche gleiche Interessen hat, viel zusammen unternimmt, sich gegenseitig sehr sympathisch findet, aber keinesfalls darüber spricht. Deshalb wäre Schierhuber im Forstner-Fall der logische Ansprechpartner gewesen, dem Hawelka sein Herz hätte ausschütten können. Aber – da gab es schon wieder ein Problem. Vor einiger Zeit waren sie im Waldviertel dienstzugeteilt gewesen, und als Schierhuber wegen einer Gerichtssache vorübergehend zurück nach Wien musste, war es seinerseits zu einem Vorfall gekommen. Einem Vorfall, der Schierhuber offenbar sehr zu schaffen gemacht hatte, denn gegen seine sonstigen Gewohnheiten hatte er bei seiner Rückkehr ins Waldviertel Hawelka eine Art Geständnis gemacht. Nicht dass er über Gefühle oder so etwas geredet hatte! Nein, nein, aber er hatte zumindest gestanden, dass es zu … Handlungen körperlicher Natur … also zu sehr körperlichen Handlungen … mit einer … Frau gekommen war. Eine improvisierte Geburtstagsfeier auf der Dienststelle war sehr ausgelassen gewesen, und die Fortsetzung hatte dann ebendiese körperlichen … Sachen zur Folge gehabt. Diese Frau war die Forstner gewesen. Das also war der Grund, warum Hawelka ausgerechnet mit Schierhuber nicht über seinen eigenen Vorfall reden konnte. Schierhuber konnte ihm keine Lösung für sein Problem bieten, nein, er war Teil des Problems, und das verkomplizierte die Sache...