Peters | Sven Hofestedt sucht Geld für Erleuchtung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Peters Sven Hofestedt sucht Geld für Erleuchtung

Geschichten
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-11188-5
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-641-11188-5
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Schon seit jungen Jahren sieht Sven Hofestedt aus, als führe er Sportwagen und schliefe mit reichen Erbinnen. Aber obwohl er gerne den abgeklärten Finanzjongleur gibt, gilt sein eigentliches Interesse etwas ganz anderem: Japan und der Philosophie des Zen. Die Irrungen und Wirrungen der Liebe, die Faszination durch fremde Kulturen oder die Suche nach spiritueller Erkenntnis und Wahrheit – in dreizehn ungewöhnlichen Geschichten zeigt Peters, dass er nicht nur ein großer Romancier ist, sondern auch ein Meister der kurzen Form.

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021), dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022) sowie dem Schubart-Literaturpreis (2025). Christoph Peters lebt in Berlin. Zuletzt erschien bei Luchterhand mit "Innerstädtischer Tod" (2025) der letzte Teil einer an Wolfgang Koeppen angelehnten Trilogie.
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Lichtverhältnisse am Berg


Das schmucklose Holzkreuz im Osten markierte eine Kuppe, die vom Tal aus ein Gipfel war.

Färber befand sich auf 3000 Meter Höhe, ohne einen Schritt gestiegen zu sein. Unten hatte es genieselt, aber der Monitor in der Talstation, der das Standbild einer Videokamera auf dem Joch zeigte, hatte ihn bereits vermuten lassen, daß er sich hier in einem Streifen zwischen zwei Wolkenfeldern befinden würde.

Am Schalter war keine Schlange gewesen, vor ihm lediglich ein älteres Ehepaar mit Skiern. Trotzdem hatte ihn die Frau an der Kasse nicht als Person wahrgenommen. Ihre Augen waren den Bewegungen der eigenen Hände gefolgt  – beim Eingeben des Tarifs, beim Geldzählen, als sie das Ticket durch den Schlitz schob: Kein einziges Mal hatte ihr Blick den seinen gekreuzt.

Er stand an der niedrigen Mauer, die das Gebäude der Station und den Gletscher voneinander trennte. Scharfe Böen schnitten ihm ins Gesicht. Vor ihm lag ein erst sanft, dann steiler ansteigender Eishang, der beinahe ganzjährig als Piste genutzt wurde. Ein Schlepplift zog einzelne Skifahrer in den Nebel hinauf. Jetzt, Mitte November, herrschte kaum Betrieb. Auf der anderen Seite, Richtung Tal, schwebten blaue Sesselschalen aus dem Dunst und in ihn zurück, geleitet von farbigen Stangen in orangefarbenen Quadern, die dort lagen wie das Spielzeug außerirdischer Riesenkinder.

Färber schaute durch seine Nikon D3, sie war groß und schwer, 12,5 Megapixel, die beste, die zur Zeit gebaut wurde. Das Objektiv surrte – kurze, abrupt endende Visiergeräusche, denen kein Photo folgte. Er ließ die Kamera sinken, zog den rechten Handschuh aus, stopfte ihn in die Jackentasche, schaute erneut durch den Sucher. Endlich drückte er den Auslöser, immer noch halbherzig, setzte ab, prüfte das Bild auf dem Display, anschließend die Histogrammkurven, damit er tatsächlich wußte, wie das Licht sich auswirken würde, insbesondere im extrem hellen und im ganz dunklen Bereich. Das Display selbst war zu klein, als daß er allein anhand der Darstellung hätte erkennen können, was später auf dem Studiobildschirm oder im Ausdruck zu sehen sein würde.

Nicht weit entfernt glitt das Ehepaar, das vor ihm an der Kasse gestanden hatte, langsam zurück Richtung Lift. Er erkannte die Frau an ihrer grellgelben Skibrille mit dem leuchtend violetten Sichtfeld, neben der ihre gebräunte Wangenhaut wie antikisiertes Leder wirkte.

Vieles konnte mißlingen. Vor allem durfte es keine toten Bereiche geben, keine Fehlstellen oder undifferenziert körnigen Flächen. Für Bedingungen, wie sie hier herrschten, fehlten ihm Erfahrungswerte. Er hatte nie mitten im Schnee gearbeitet, umgeben von reinem Weiß, das einen früher oder später blind machte. Wenn er länger hinschaute, flimmerten winzige Punkte in allen Farben des Spektrums. Dann wieder schlug die Helligkeit ins Negativ um, oder es schoben sich phosphoreszierende Flecken durchs innere Auge wie Wanderlöcher in brennendem Papier. Er erinnerte sich an Kindheitswinter, an Schlittenrennen, schmerzende Kälte im Gesicht, Sekundenbruchteile totalen Orientierungsverlustes, während er sich überschlagen hatte.

Daß er jetzt hier stand, hatte nichts mit alten Empfindungen zu tun. Er wollte keine Erinnerungen ausgraben: weder Sentimentalität noch Bewältigung.

Nicht nur der Schnee, auch die Wolkendecke war weiß, eine Nuance dunkler, aber weit entfernt von Grau. Unmittelbar über ihm hatte sie eine andere Beschaffenheit als der Schnee zu seinen Füßen. Weiter oben, in einer für das Auge nicht abschätzbaren Entfernung, löste sich die Grenze auf. Kein Unterschied zwischen festem Boden und nasser Luft.

Er stellte sich vor hineinzufallen – nicht in das, was dort war, sondern in das, was seine Augen ihm vorgaukelten: schwerelosen Raum aus Licht. Die Wolken verteilten es gleichmäßig. Nichts und niemand warf Schatten. Der Schnee reflektierte die Helligkeit ohne erkennbaren Intensitätsverlust. Ein Hin und Her wie zwischen zwei Spiegeln, nur daß nicht die Gestalt eines vierzigjährigen Mannes mit Kamera ins Unendliche wiederholt wurde – kein »Ich«. Statt dessen Leere, Formlosigkeit.

Er schaltete auf Unterbelichtung, löste aus, kontrollierte erneut, schüttelte den Kopf.

Was unter diesen Bedingungen funktionierte oder nicht funktionierte, würde er erst zu Hause feststellen. Sein Studio lag zweieinhalb Autostunden von hier entfernt. Um diese Jahreszeit konnte die Fahrt doppelt so lange dauern. Schon deshalb mußte er alles tun, damit sich das, was er mitbrachte, als Arbeitsgrundlage verwenden ließ.

Färber wußte nicht, wie die Bilder am Ende aussehen sollten. Es gab keine Botschaft, die irgendein Werbekunde mit ihnen transportieren wollte, es gab gar keinen Auftrag, nur etwas in seinem Innern. Er hätte es nicht »Vision« genannt, obwohl das Wort sogar passend gewesen wäre: Er hatte etwas gesehen, das es nirgends zu sehen gab, und von dem er weder wußte, wie es sich herstellen ließ, noch was seine konkrete Gestalt war. Etwas wie den Kern einer Sichtweise, die er mittels Versuch und Irrtum am Rechner herausfiltern würde.

Was die Bilder auf keinen Fall vermitteln durften, wußte er hingegen genau: weder Wintersportsgeist noch Après-Ski-Laune, kein Bergsteigerpathos, kein Naturidyll, keine alpine Volkstümelei.

Er probierte jetzt Überbelichtungen, um aus den Durchschnittswerten herauszukommen, die der Apparat wählte. Fehlbelichtungen ließen später verschiedene Korrekturmöglichkeiten zu, wenn in den Dunkelheiten jedoch überhaupt keine Daten waren, konnte er auch nichts verstärken. In unmittelbarer Nachbarschaft des Schnees sah das Programm die Felsformationen als reines Schwarz. Tatsächlich bildete der Fels aber komplexe Linienstrukturen, ein Geschiebe aus schweren Farben und Grauschattierungen. Das aufgeworfene, zerborstene, in sich verkeilte Gestein bezeugte Verwerfungen, die vor Jahrmillionen stattgefunden hatten, während einer erdgeschichtlichen Epoche, die vorbei gewesen war, lange ehe es Menschen gegeben hatte, um sie zu bezeugen. Was sich vor ihm erhob, war der Brustkorb eines Riesenorganismus, der den Atem anhielt. Natürlich wurde in Wirklichkeit überhaupt nichts angehalten, der menschliche Wahrnehmungsapparat war nur einfach unfähig, das allmähliche Heben und Senken zu erkennen. Selbst eine Zeitrafferkamera wäre an ihre Grenzen gestoßen: ein Bild pro Jahr, um zweieinhalb Zentimeter Absacken des Bergrückens festzuhalten. Fünfundzwanzig Bilder pro Sekunde verrechnete das Gehirn zu einer flüssigen Bewegung. Vier Sekunden Film in hundert Jahren, während derer das komplette Massiv etwa zweieinhalb Meter an Höhe verlor. Das Auge erfaßte nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Spektrum der Geschwindigkeiten. Es konnte auch nicht folgen, wenn eine Knospe sich allmählich entfaltete: Sie war geschlossen, sonst nichts. Dann einen Spalt weit geöffnet, ganz still. Schließlich das Stadium der Blüte: Eine-Rose-ist-eine-Rose-ist-eine-Rose. Das einzige, dem er zuschauen konnte, war das Fallen eines welken Blütenblatts, wenn er Glück hatte oder lange genug wartete.

Färber kehrte aus Sekundenbruchteilen Unendlichkeit zurück. Der Wind nahm an Härte zu, riß die mechanischen Rhythmen der Liftanlagen auseinander, wehte Halbsätze zu ihm herüber, die nicht ihm galten. Sein rechter Zeigefinger wurde steif. Ohne Handschuh zu photographieren war aussichtslos. Er zog ihn wieder an, büßte sein Fingerspitzengefühl ein, überlegte, das Ganze zu verschieben, in die nächste Sitzschale zu steigen und zurück ins Tal zu fahren. Im Frühjahr konnte er wiederkommen.

Statt abzubrechen und zu flüchten, wickelte er sich den Schal um den Kopf, so daß nur noch ein Schlitz für die Augen freiblieb. Kurz darauf stellte er fest, daß die feuchte Luft aus Mund und Nase in der Strickwolle zu einer eisigen Nässe wurde, die sich ekelhaft anfühlte und stank. Er schob den Schal zurück unters Kinn.

Im Grunde verabscheute er Natur. Fragte jemand danach, sagte er, sie interessiere ihn nicht, weder beruflich noch privat. Doch letztlich war es Abscheu, und an dessen Grund Angst, eine wahnsinnige, nur mit Mühe in Schach gehaltene Angst vor dem Unbeherrschbaren. Er ging auch nicht gerne zu Fuß. Für das kurze Stück Weg zwischen seiner Wohnung und dem Studio nahm er den Wagen und verwandelte sieben Minuten Gehen in zwei Minuten zum Aus- und Einparken, ein bis drei Minuten vor roten Ampeln und viereinhalb für die eigentliche Fahrt. Das Wetter hatte mit dieser Gewohnheit nichts zu tun. Zu Fuß war jedes Wetter schlecht. Wenn es regnete, wurde er naß, bei Eis und Schnee konnte man sich das Genick brechen. Abgesehen davon fror er, sobald er die eigenen Räume verließ, es sei denn, draußen herrschten über dreißig Grad Sommerhitze.

Der Wind ließ die Flaggen an den Aluminiummasten knallen: Europa blau mit gelbem Sternkreis; Österreich rotweiß, drei Streifen; Tirol rotweiß, zwei Streifen. Die obere Wolkendecke wurde auseinandergetrieben, so daß Lichtkegel durchbrachen, obwohl sich kein blauer Himmel zeigte. Ein Anstieg, der aus Schichtungen schwarzen Gesteins bestanden hatte, leuchtete in Ocker und Ziegeltönen. Auf Schneehängen überlagerten sich die Schatten von Felsvorsprüngen und dichteren Wolken, wurden mit großer Geschwindigkeit ineinandergetrieben.

Färber machte Bild auf Bild, kontrollierte die Ergebnisse. Für zweite Versuche blieb nie Zeit, denn im nächsten Augenblick erstarrte der Ausschnitt, der gerade noch belebt gewirkt hatte, statt dessen geriet ein Stück tote Steilwand in Bewegung. Neben hellen randlosen Schwaden erschienen dunkelgraue mit sauber zerfetzten Konturen.

Der Sturm verschärfte sich weiter. Das Windrad auf dem Dach der Station rotierte, als wollte es mitsamt Gebäude...


Peters, Christoph
Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021), dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022) sowie dem Schubart-Literaturpreis (2025). Christoph Peters lebt in Berlin. Zuletzt erschien bei Luchterhand mit "Innerstädtischer Tod" (2025) der letzte Teil einer an Wolfgang Koeppen angelehnten Trilogie.



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