E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Peters Beeren pflücken
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7499-0839-4
Verlag: HarperCollins eBook
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Bestseller aus Kanada | Ein fesselndes Debüt über Verlust und Liebe | Für Fans von Liz Moore, Delia Owens & Barbara Kingsolver | Amazon Best Book of the Year
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7499-0839-4
Verlag: HarperCollins eBook
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Ein atemberaubendes Debüt über Liebe, Ethnie, Brutalität und den Balsam der Vergebung.«
Juli 1962. Eine Mi'kmaq-Familie aus Nova Scotia kommt in Maine an, um den Sommer über Blaubeeren zu pflücken. Einige Wochen später ist die vierjährige Ruthie verschwunden. Sie wird zuletzt von ihrem sechsjährigen Bruder Joe gesehen, als sie auf ihrem Lieblingsstein am Rande eines Beerenfeldes sitzt. Ihr Verschwinden wirft Rätsel auf, die Joe und seine Familie verfolgen und fast fünfzig Jahre lang ungelöst bleiben.
In Maine wächst ein Mädchen namens Norma als Einzelkind in einer wohlhabenden Familie auf. Ihr Vater ist emotional distanziert, ihre Mutter erdrückend überfürsorglich. Norma wird oft von wiederkehrenden Träumen geplagt. Mit zunehmendem Alter ahnt sie, dass ihre Eltern ihr etwas verheimlichen. Da sie nicht bereit ist, von ihrem Gefühl abzulassen, wird sie Jahrzehnte damit verbringen, dieses Geheimnis zu lüften.
Der nationale Bestseller mit einer herzzerreißenden Geschichte zweier Familien - eine voller Liebe, Trauma & Verlust, die andere voller Geheimnisse und Unbekanntem!
Amanda Peters ist eine Schriftstellerin mit Mi'kmaq- und Siedlerabstammung. Ihr Bestseller-Debütroman »Beeren pflücken« gewann den Barnes and Noble Discover Prize, die Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction und wurde für den Amazon First Novel Award nominiert, zusätzlich zu zahlreichen anderen Preisnominierungen. Bis heute wurde der Roman in 17 Länder verkauft. Peters hat einen Abschluss in Kreativem Schreiben von der University of Toronto und ist Absolventin des Master-of-Fine-Arts-Programms am Institute of American Indian Arts in Santa Fe. Sie lebt und schreibt im Annapolis Valley, Nova Scotia, zusammen mit ihren Fellbabys Holly und Pook.
Weitere Infos & Material
1
Joe
An dem Tag, als Ruthie verschwand, waren die Kriebelmücken irgendwie besonders hungrig. Die Weißen in dem Laden, wo wir unsere Vorräte kauften, sagten oft, dass Indianer so gute Beerenpflücker sind, weil irgendwas Saures in unserm Blut die Kriebelmücken fernhält. Aber schon damals, als sechsjähriger Junge, war mir klar, dass das nicht stimmt. Kriebelmücken unterscheiden nicht. Jetzt allerdings, wo ich fast auf den Tag genau fünfzig Jahre später hier liege und mich eine unsichtbare Krankheit von innen heraus zerfrisst, bin ich mir nicht mehr sicher, was stimmt und was nicht. Vielleicht sind wir doch sauer.
Jedenfalls wurden wir trotzdem gebissen – unabhängig vom Geschmack unseres Blutes. Aber Mom wusste, wie man nachts das Jucken stoppen konnte, damit wir ein bisschen Schlaf bekamen. Sie schälte die Rinde von einer Erle, zerkaute sie zu Brei und schmierte sie auf die Bisse.
»Halt still, Joe. Zappel nicht herum«, sagte Mom, während sie die dicke Paste auftrug. Die Erlen wuchsen wild vor einer spärlichen Baumreihe, die den hinteren Rand der Felder säumte. Die Felder erstreckten sich endlos, so kam es mir damals jedenfalls vor. Mr. Ellis, der Landbesitzer, hatte sie mit großen Steinen unterteilt, damit man leichter den Überblick darüber behielt, wo wir schon waren und wo wir noch pflücken mussten. Aber irgendwann erreichte man immer wieder die Bäume. Entweder die Bäume oder die Route 9, eine bröckelnde Straße mit Löchern so groß wie Wassermelonen und so tief wie der See, ein dunkler Asphaltstreifen, der sich durch die Felder schlängelte und uns Jahr für Jahr dorthin brachte.
Schon damals, 1962, gab es an der Route 9 nicht viele Häuser. Und die wenigen, die dort standen, waren alt, der grauweiße Anstrich blätterte bereits ab, die Veranden waren schief und modrig, und ringsum wuchs hohes grüngelbes Gras zwischen liegen gelassenen Autos und Kühlschränken, von denen bei starkem Wind Rostblättchen wegflogen. Wenn wir im Hochsommer aus Nova Scotia ankamen, eine singende und lachende Karawane dunkelhäutiger Arbeiter, die durch ihre überwucherte und verrostende Welt zog, drehten uns die Einheimischen den Rücken zu, schließlich war unsere Anwesenheit der Beweis dafür, dass sie versagten und nicht vorankamen. Das einzige Mal, wenn dieser Ort ein bisschen Freude verströmte, war im Herbst, sobald die untergehende Sonne golden schien und die Felder unter einem herrlichen Septemberhimmel glühten.
Zwischen all dem Rost und Verfall stand Mr. Ellis’ Haus. Es befand sich an der Ecke, wo die Route 9 auf die Schotterstraße stieß, die zur anderen Seite des Sees führte, der Seite ohne Indianer, wo die Weißen sonntags immer schwammen und Picknick machten und sich ihre Haut unter der schwachen Sonne von Maine verbrannten. Zu Hause, Jahre später und bevor ich wieder wegging, erinnerte ich mich an dieses Haus, als wäre es ein Bild aus einem Buch oder einer Zeitschrift, das man betrachtet, während man an der Bushaltestelle oder in der Arztpraxis wartet. Die hohen Ahornbäume hingen über der Einfahrt, und jemand hatte eine lange gerade Reihe Kiefern zwischen dem Haus und der Schotterstraße gepflanzt, die zu den Zeltlagern führte, damit wir es nicht sehen konnten, obwohl wir’s natürlich trotzdem versuchten.
»Ben, wieso wohnen die überhaupt in einem Haus, wenn es nur aus Fenstern besteht?«, fragte ich meinen Bruder.
»Die Leute brauchen doch ein Dach über dem Kopf. Hier wird es genauso kalt wie bei uns zu Hause.«
»Aber die vielen Fenster.« Ich konnte es nicht fassen.
»Fenster sind teuer. So zeigen sie der Welt, dass sie reich sind.«
Ich nickte, auch wenn ich es nicht wirklich verstand.
Das Weiß des Hauses, das jeden zweiten Sommer erneuert wurde, mit den roten Zierkanten und zwei Säulen, die den Eingang rahmten, genügte mir, der in einer winzigen Vierzimmerwohnung mit undichtem Dach lebte, um es zum »Herrenhaus« zu erklären. Jahre später, als ich zurückkehrte und Mr. Ellis längst an einem Herzinfarkt gestorben war, sah ich das Ganze mit anderen Augen und stellte fest, dass es nicht mehr war als ein zweistöckiges Haus mit einem Erkerfenster.
Bei unserer Ankunft Mitte Juli, in dem Sommer, als wir Ruthie verloren, waren die Büsche auf den Feldern saftig grün und strotzten vor Beeren. Wir waren noch voller Aufregung, denn die harte Arbeit und die langen Tage der vergangenen Jahre hatten wir vollkommen vergessen. Mein Vater setzte uns mit den Vorräten ab, die wir für die nächsten acht bis zwölf Wochen brauchten, und fuhr noch am selben Tag zurück, gefolgt von einer Staubwolke. Er fuhr nach New Brunswick, um die Pflücker abzuholen, die immer kamen und denen er vertrauen konnte. Old Gerald und seine Frau Julia, Hank und Bernard, Zwillingsbrüder, die hart arbeiteten und gern für sich blieben, die Witwe Agnus und ihre sechs Kinder, alle groß und kräftig, und Frankie, der Trinker. Ein lustiger Mann, der Angst vor Bären und der Dunkelheit hatte und nicht gerade der beste Arbeiter war.
Dad sagte oft: »Eure Mutter ist der Meinung, dass selbst Leute wie Frankie Geld und einen Lebensplan brauchen, wenn auch nur für acht Wochen.«
»Aber ich pflücke mehr als er, Dad«, sagte ich und nickte in Richtung Frankie, der sich geistesabwesend eine Beere in den Mund steckte, »und er isst genauso viel, wie er pflückt.«
»Bei manchen Leuten lassen wir Nachsicht walten, Joe. Du weißt, dass er als Baby fast ertrunken wäre und danach nicht richtig erwachsen wurde. Mit Frankie ist alles in Ordnung, Gott hatte offenbar einen Plan für ihn, also nehmen wir ihn so, wie er ist. Er braucht diese Zeit im Sommer genauso sehr wie wir. Er kommt gern und sitzt abends am Feuer und verdient sich ein bisschen Kleingeld. Das gibt ihm was, worauf er sich freut.«
»Ja, aber Dad –«, setzte ich an, verärgert darüber, dass Frankie mit Geld bezahlt wurde, während ich mehr pflückte und mit Ausnahme neuer Schulkleider im September nichts bekam.
»Kein Aber, geh einfach wieder an die Arbeit und sei nett zu Frankie. Man weiß nie, wann man die Freundlichkeit anderer Menschen brauchen könnte.«
Während Dad unterwegs war und die anderen Pflücker auf der Ladefläche seines Trucks einsammelte, brachten wir die Hütte in Schuss und schlugen das Lager unter dem wachsamen Auge unserer Mutter auf. »Ihr Jungs reißt das Gras aus, das durch den Boden der Veranda wächst. Bringt das Ganze ein bisschen in Ordnung.« Wir schnitten uns an den Händen, als wir das Gras jäteten, das in unserer Abwesenheit gewuchert war. Dann sammelten wir trockenes Holz für die Feuer, eins fürs Kochen, das fast die ganze Zeit brannte, und eins zum Waschen des Geschirrs und, am Wochenende, unserer Kleider. Meine Schwester Mae und einige andere Mädchen halfen beim Saubermachen der Hütte, und ein paar gingen zu Mr. Ellis, um wie jeden Sommer seiner Frau zu helfen, das Haus von oben bis unten zu putzen. Dafür bekamen sie ein bisschen Geld, das sie auf dem Jahrmarkt für Haarklammern, schwarzgebrannten Schnaps und Popcorn ausgaben.
Von unserer Hütte aus konnten wir den See nicht sehen, aber vom Rand des Lagers aus, dort, wo das Zelt von Old Gerald und Julia stand. Wir hatten Glück, dass wir eine Hütte mit einem Dach, einer Tür und ein paar Matratzen zum Schlafen hatten. Nur eine Handvoll von uns durfte in einer Hütte wohnen. Die anderen, einschließlich meiner zwei älteren Brüder Ben und Charlie, schliefen in Zelten, mit dem Rücken auf dem harten Boden, ihre Jacken dienten als Kopfkissen.
Als die anderen Familien ankamen, Familien aus ganz Nova Scotia und ein paar aus New Brunswick, wurden die Jungs laut und ausgelassen. Sie hatten sich seit der Beerensaison im vergangenen Jahr nicht gesehen und jetzt viel nachzuholen. Ich war in dem Sommer damals noch nicht alt genug, um mit ihnen abzuhängen, und verbrachte deshalb die meiste Zeit bei Ruthie, die in der Nähe der älteren Jungs immer nervös wurde. Tagsüber, wenn sie ernsthaft arbeiteten, dachte sie gern an sie und liebte sie genauso sehr wie uns andere. Aber abends, wenn sie am Feuer sangen, mit den Mädchen flirteten und sich aus Spaß prügelten, zog sie sich in die Hütte zurück und schlief mit dem Rücken an der hinteren Wand, während sie unterm Arm ihre aus alten Socken gemachte Puppe hielt. Mom lag als Barriere auf der anderen Seite, um sie vor den lauten Jungs zu beschützen.
In diesem Sommer waren wir zu siebt mit dem alten Truck in Richtung Süden aufgebrochen. Mom, Dad, Ben, Mae, Charlie, Ruthie und ich. Eine Zeit lang hatten Ben und Mae das Internat für Indianer-Kinder besucht, und Mom wartete nur darauf, dass sie nach Hause kamen, auch wenn sie es nicht offen zeigte. Und wenn es dann endlich so weit war, konnten sie kaum aus dem Auto steigen, und schon war Mom bei ihnen, umarmte erst die eine, dann den anderen, nahm ihr Gesicht in die Hände, stand einfach da und schaute sie an, als wären sie aus Gold oder so. Sie küsste sie auf die Stirn und wiederholte ständig ihre Namen, so wie das Ave Maria. Dad klopfte Ben auf den Rücken und nahm Mae in den Arm, bevor er uns auf den Truck lud und zur Grenze fuhr. Der Indianerbeauftragte ließ sie uns nur zweimal im Jahr sehen, zu Weihnachten und zur Beerenpflückzeit. »Harte Arbeit wird ihren Charakter stärken und ihnen helfen, anständige Bürger zu werden, die ihren Beitrag leisten«, las Ben einmal aus einem wieder zusammengestückelten Brief vor, den Dad zuvor zerrissen hatte. Dad mochte Mr. Hughes nicht, den dicken Indianerbeauftragten...